Vor der Tür die Atmung

 

(gedruckt in der Literaturzeitschrift "Wienzeile", Ausgabe #55 "MachtWahnSinn")


 

 

All das wird sich schon zeigen. Zu viel Kopfzerbrechen. Zu viel Gehirn. Zerlegt bis in die Delikatessen der Satten. Schmeckt köstlich, sagt man. Dem Kalb ist es egal. Ich ringe auf stickiger Matratze.

Nachts träumte ich von einem riesigen, schwarzen Vogel, der sich an meinen Fensterscheiben rieb. Ich sah sein knorrig rosa verhorntes Bein, bis sich sein, in einer trüben Flüssigkeit, schwimmendes Auge zu mir herabsenkte. Ich dachte mir, dass gleich das Glas zerspringen müsste, wo sich daran das Federkleid klebrig zergliederte, doch er blieb nur lauernd, sah mich vielleicht gar nicht, stierte, bis sein Auge sich blähte und in Schleim und Saft gegen mein Fenster spritzte. Mit leerer Höhlung flog er davon.

Traumdeutungen liegen mir nicht. Freud, Jung und Lacan dümpeln aus allen Fachbüchern, werden weitergestaltet oder verworfen, und für mich bleibt es einfach ein riesiger, schwarzer Vogel.

Schwarz. Weiß. Gekachelt. Die immerwährende Kälte eines Küchenbodens. Die Fliesen sind mit einer schmierigen Schicht überzogen; jeden Tag muss ich vorsichtig auftreten, damit ich nicht ausrutsche.

Was Zeit so anrichtet.

Gummisohlen sind besser als gedacht. Sie quietschen und bewahren. Etliche Abdrücke und Muster haben sich gebildet. Sieht aus, wie ein nicht mehr ganz so modernes Kunstwerk. Das Gemenge einer Bahnhofsvorhalle ohne die Stimmen, und dabei ist jede Spur nur durch mich entstanden. Als ob ich etliche, ruhelose Wege gegangen bin, immer im Kreis herum. Barfuss laufe ich nie.

Sobald ich durch den Flur gehe, noch kaum wach, geht das gewohnte Theater los. Schritte. Die Treppe hinauf, bis vor meine Wohnung, dann die laute Atmung, ein Lauschen, wie auch ich von hier aus zurücklausche, so stehen wir uns gegenüber, nur durch das Holz der Tür getrennt. Es klingelt, und ich warte ab. Warte den schrillen Ton ab, das Kratzen, die polternden Faustschläge. Dann entfernen sie sich wieder, die Schritte, und ich, ich werde ganz mein rasselnder Atem.

Wer kann das sein, der nahezu jeden Tag hinaufkommt? Was will man von mir, wenn ich doch selbst von niemandem etwas will? Ich knirsche mit den Zähnen, zerbeiße meinen Kaffeebecher. Danach die Lippen. Verfolgungsjagden durch Kellerlöcher, die hoch oben liegen. Manchmal fühle ich Augen, die mich anstarren oder ein Blaulicht, das von der Straße bis hoch zu meinem Fenster kreist. Wahrscheinlichkeiten.

 

Oder ist sie es? Hat sie etwas vergessen? Ich muss nachsehen, ob nicht doch noch ein Koffer, ein Kissen, irgendein Porzellan hier liegen geblieben ist und mich jeden Tag in Bedrängnis bringt. Mir bedeutet das nichts. Ihr Porzellan. Ich esse von Papptellern, trinke aus Pappbechern, fülle Mülltüten. Ich habe gelernt, mir wenig Arbeit aufzuhalsen, so wenige Handgriffe wie möglich zu tun. Ihre Teller und Tassen kann sie für die nächste Hochzeit aufbewahren. Polterabende zeigen deutlich, was mit der Liebe geschieht. Ist ja sowieso alles hässlich und alt. Goldrand. Blümchen. Geschnörkeltes aus dem großen Erbe ihrer Tante. Ein Beschwören der Geister.

So lange habe ich sie angestarrt, wie sie mir im Sessel gegenübersaß, habe sie betrachtet und erkannt, dass sie nicht mehr sie selbst war. Nicht Maske, nicht Wandel. Sie war es auch nicht irgendwann einmal, sie ist nicht langsam erst zu der geworden, die mir da die kalte Schulter zeigte. Da flackerten die Bilder des Fernsehfilms über ihr Gesicht, und ich wusste, dass sie wusste, dass ich nicht den Film sah, dass ich sie beobachtete, unerschöpflich, als wollte ich jede Falte aus ihr herausglotzen. Und sie blickte weiterhin stur nach vorne. Um nichts in der Welt hätte sie mir ihren Kopf zugewandt und sich erkundigt, warum ich sie fixiere.

Ich fragte mich, wer dieser neue Mensch war. Wohin sie verschwand, die, die ich so gut kannte. Wann der Wechsel stattfand. Getauscht und ersetzt.

Hinter den Dingen lag das Wuchernde, das alles Kontrollierende. Zwischen den Menschen pfiff der Wind der Freiheit, die sich aus bunten Träumen und Angebot und Nachfrage zusammensetzte und für immer gespeichert auf Abhörbändern lag. Das Spiel Leben. Die Täuschung fürs Gewissen. Ein ratterndes, sich aufbäumendes, stetig wachsendes Gerüst, das sich selbst in Grenzen hielt. Darunter Wege, angelegt für alle Sicherheiten der Welt.

In der Studienzeit schmiedeten wir Pläne, die Welt umzukrempeln, die eigenen Ideale bis auf das Blut zu verteidigen. Ich liebte sie,… ich meine, die Andere.

Wir hatten uns gefunden, die Zeit der Bedrohungen gemeinsam überbrückt. Ein Hass auf Friedenstauben, weil diese nur Symbole für Friedenszeiten waren und rein gar nichts veränderten, selbst wenn sie Picasso malte. Ein Hass auf den Patriotismus, ohne den kein Krieg möglich war, der genährt und gemästet wurde, wo sich in geblähten Bäuchen die Ängste umeinander knoteten. Alleine sein. Verluste. Trennung und Zusammenführung. Wir sind ein Volk. Eine Gemeinschaft. Www.Krisenbewältigung.com. Stirb und Werde. Aus dem, was man war, das sein, was man zu sein hat. Ohne es zu merken.

Vieles waren wir gewohnt, vieles leuchtete uns ein. Wir kannten die Brüllzimmer, das krankhafte Rauschen, das Kreischen der Moden und Musikstile, diese schrillen Wucherungen um uns herum, durch die wir uns erst lebendig fühlten. Neigungen zur radikalen Idee. Revolte. Rausch. Das verlor sich erst langsam.

 

Manchmal dampfte ihr Kopf. Ein Nebel erhob sich aus ihrem Schopf und stieg in Rauchschwaden bis hoch zur Zimmerdecke. Ich kann noch heute die Flecken erkennen, die sich dort mit der Zeit gebildet haben. Wasserbrüche, vermischt mit Angstschweiß.

An anderen Tagen alterte sie vor meinen Augen, ihr braunes Haar färbte sich grau, bekam lichte Stellen, durch die ihr Schädel glänzte. Ihre Wangenknochen drückten sich durch das matte Fleisch, und blaue Schatten zeigten, wo die Zähne saßen.

Bin ich meine Gedanken? Bin ich dahinter, irgendwo verborgen in all dem Fleisch und den Knochen, hinter Verwirrung und dem langsamen Krepieren? Manchmal kann ich mich nicht mehr spüren.

Ich laufe durch die Straßen und merke nicht, dass ich dort laufe. (Und, wenn ich es doch bemerke, wohin führen sie? Direkt durch mich hindurch? Verlaufen sie in mir? Rattern über Knochen, während ich glaube, ein Geräusch zu hören?)

Blähungen. Verstopfung. Verkehrsgewühl. Ich bekomme keine Luft. Sie umzingeln mich.  Sie tragen ihre kantige Stirn wie Abwehrmechanismen. Dring nicht in mich ein. Dringt auch ihr nicht in mich ein. Ich will nicht verstehen. Ich will nie so werden. Ich will nur Ich sein. Alle sind das gleiche Ich. Ich bin auch nur Ich. So ein Mist. 

Aber ich weiß genau, dass sie es nicht mehr war. Alles war anders. Nur die äußere Hülle glich ihr noch. Von wegen – Körperfresser. Geistfresser. Humorfresser. Sie lachte ja immer ganz gerne nach innen, aber so ganz ohne, so verbissen mit weißen Lippen, während man selbst Tränen kreischt, da wird einem doch anders; bald fühlt man sich bereits schuldig, sobald die Mundwinkel zucken, bis man keinen Laut mehr von sich zu geben wagt. Gelächter gehört hinaus, nicht nach innen gedrückt. Wer weiß, was nun in mir tobt; selbst abgestandene Luft ehemaliger Lachsalven unterliegen einem Prozess.

Haben wir je miteinander gesprochen? Wann wurde ihr Gesicht zur Totenmaske? Ich kenne nur die von Nietzsche, die mich immer wieder neu erschüttert, wie auch diese zehnminütige Schwarzweißaufnahme, wo er im Bett liegt, mit aus den Fugen geratenem Gesicht, und seine Schwester ihren eigenen Willen zur Macht an ihm erprobt, wie sie auch seinen Willen zur Macht zusammengeschustert hat. Der Mensch als kurioses Möbelstück.

Und was hat das mit ihr zu tun? Bärtig war sie nie, schnauzbärtig. Vielleicht aus der Nähe ein leichter Ansatz, aber wann kam ich ihr schon je wieder so nahe?

Damals, als man einander kaum kannte, war es einfacher. Ich ahnte ihr Bemühen, mich zu halten, und ich ließ mich darauf ein, weil es mir egal war, wie das Drumherum aussah, solange die Weiblichkeit lockte. Holde Weiblichkeit, alles wird schön und verführerisch, sobald das Herz und der Schoß sich öffnen. Es ist besser, als Insekten aufzuspießen und in Setzkästen verrotten zu lassen, besser als der Gummifetisch, auch wenn man ständig um Erlaubnis fragen muss.

Und dann die Überzeugungen. In allen Dingen gleicher Meinung, wenn auch hauptsächlich ich redete. Dieses weite Feld der Verschwörungen. Alles Lügen, die sich erst aufdecken, wenn es keinen mehr interessiert. Kopfschüsse, die von der falschen Seite eindringen, manipulierte Aufnahmen. Bis über den Mond hinaus wirkt der Mensch sich aus. Wir denken, die Vergangenheit hat keine Wirkung auf die Zukunft, wie denken, der moderne Wandel löst all das Dreckige einfach auf, statt es besser zu verbergen. Wer also kann schon behaupten, wir wären nicht fähig, an Wunder zu glauben? Meinungsfreiheit. Zeitungsdenken. Wir reden in Überschriften und erfreuen uns an gleichen Ansichten. Wir glauben immernoch, wir hätten eine Wahl.

Leben kann man in allen Varianten. Tausend Möglichkeiten, tausend Versuche. Ruhig sind wir, solange wir uns an das klammern, was uns die Welt vorgaukelt und schmackhaft macht. Subtrahiert man all das, was Schein ist, dann bleibt nur der Wunsch, nicht zu sterben oder sofort und schmerzlos, und die Sehnsucht nach Liebe übrig.

 

Auf einmal hörte sie einfach auf, mit mir zu reden. Schleichend war dieser Wechsel, nicht auffällig genug, um ihn sofort zu bemerken. Schlechte Laune, Anstrengungen, Krankheit, Alltag zeichnen ihre eigenen Wirkungen in das Gesicht.

Ich saß jeden Tag auf der Couch, hörte den Schlüssel im Schloss, wurde wachsam, sah sie eintreten, sich hinsetzen und spürte da etwas in meinem Nacken hocken.

Manchmal schleppte sie große Tüten an, räumte wortlos die Sachen in Schränke, kochte irgendetwas zusammen, lärmte in der Küche, knallte mir den Teller vor die Nase und schwieg weiter.

Ich schlürfte dann meine Suppe oder nagte am Knochen, sie dabei nicht aus den Augen lassend. Mit spitzem Mund schnitt sie ihr Fleisch in kleinste Stücke, um es dann lange zu kauen. Als hätte sie mehrere Mägen.

Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass ich es sowieso nicht merken würde, diese Veränderung. Vielleicht hätte ich es auch nicht bemerkt, wenn sie nicht eine völlig Andere geworden wäre. Als ob die Hülle das ist, was wir nach Jahren noch begehren.

Schließlich zeigte ich ihr, wo der Ausweg aus diesem Irrgarten war, oder sie fand ihn selbst. Wer kann so etwas im Nachhinein schon immer so genau sagen, das bleibt ja alles ein Schmerz.

So ein Zustand hält jahrelang, aber irgendwann bröckeln auch die letzten Schichten, fällt alles auseinander. Ein anderer Mensch tritt in das Leben oder irgendjemand bringt sich um oder jemand bringt den anderen um. In Gedanken. Nichts ist schlimmer, als wenn ein Gefühl sich verflüchtigt und nur noch der Rest von einst übrig bleibt.

Und sie verwandeln sich alle. Die Welt dort draußen vor der Tür, die ich immer mehr meide, unterliegt einer Erneuerung. Ein Mensch nach dem anderen wird ausgetauscht, gegen was auch immer. Sie verlieren ihre Gesichter, ihre Meinungen, ihr Herz. Ich beginne mich zu fürchten.

Seit Tagen spüre ich unter der Haut, dort, wo der Blinddarm sitzt, diese Bewegung. Ich weiß, was darunter liegt, sehe mich ein Messer greifen, die Haut viereckig einschneiden, den Deckel umklappen. Darunter wuchert eine Art Schwamm, unzählige, kleine Pilze, in seltsam wiegender Bewegung, die mir mit länglichen Köpfen entgegenquellen, giftig grün, ein Meer an fremdartigem Wesen in mir. Die Ahnung breitet sich in meinem Schädel aus, dass ich gegen mein Auge drücke und erwarte, dass grüner Schaum daraus hervortritt.

Die ganzen Jahre des Dahinlebens, das Hocken und Starren, bis sich endlich irgendwo eine Aufgabe ergibt. Wie lange warte ich schon? Wie lange warte ich noch? Das ist nicht einfach, war es nie, immer gab es da Perspektiven und andere Blickwinkel zu beachten. Ich bin nicht zum Sklaven der Modernität geboren. In mir ruht ein Krieger, ein König, ein Prophet, ein Rebell, kurz… ein Genie. Nur leider zeigt es sich nie. Sogar ein Dichter. Falsche Gesichter. Bin ich mein Richter? Seelenvernichter? Ich höre lieber auf.

Schon wieder vernehme ich die Schritte. Ich wohne im fünften Stockwerk, das ist ein ganz schönes Stück Weg, hier jederzeit hinaufzuklettern, das kostet Atem. Auch meinen, denn ich muss ihn erneut anhalten, bis das Klopfen aufhört. Doch diesmal ist es ausdauernder, unnachgiebig. Verbissen.

Ich bin für niemanden zu sprechen. So habe ich es beschlossen. Belauschen wir ruhig einander. Bis dahin spiele ich mit einem Messer. Es reizt mich, wie es so in der Sonne glänzt, wenn ich es vor die Augen hebe und den Ausschnitt meines Gesichtes darin erkenne. Wie schnell so etwas geht. Erwischt. Erwischt. Fresser. Allesfresser.

Aber noch ist nichts verloren. All das wird sich zeigen. Einen Ausweg gibt es immer.

 


© A. Jagenholz