Neues Projekt
(Ich bei der Arbeit - Foto für das Buch "Die Totale" (artwork: Günter Ludwig))
("Ich" (artwork: Günter Ludwig))
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Günter Ludwig und sein Buch "Die Totale - 7 Biografien"
Mitwirkende - 7 Frauen: Jael Hoffmann, Orchidea Lüthi, Constanze Köpp, Conny Stark, Annika Strunkheit, Schirin Khorram und Annelie Jagenholz
* Zum Verständnis:
"Grundsätzlich gelten ungerade Zahlen in der chinesischen Zahlensymbolik als “männlich” (Yang, wobei die 7 eine Ausnahme bildet), gerade Zahlen hingegen als “weiblich” (Yin). Betrachtet man die Bedeutung der Zahlen von null bis neun (0-9), so ergibt sich laut Michaela Anna Eder folgende Symbolik:
1 – Vollkommenheit, Göttlichkeit, Beginn, Pionier, Einsamkeit
2 – Leichtigkeit, inneres und äußeres Chaos
3 – Lebendigkeit, Geselligkeit, Spiritualität
4 – Absterben, Lähmung, Stagnation
5 – Harmonie, Ausgewogenheit der fünf Elemente, Schaffenskraft
6 – Erfolg, Gerechtigkeit
7 – Vollendung, Schönheit, Sicherheit
8 – Gelingen, Wohlstand, Macht
9 – Langlebigkeit, Beständigkeit
0 – Potenzierung der letzten vorstehenden Zahl."
(Günter Ludwig)
(Mein Profil (1 von 3) für das Buch "Die Totale", artwork: Günter Ludwig)
Meine Biografie:
Ein gemeinsames Studium in der gleichen Stadt führte meine Eltern zusammen. Meine Mutter lebte dort, mein Vater kam aus Deutschland, die Stadt hieß St. Petersburg und in ihr wurde ich Neunzehnhundertsiebenundsiebzig ganz russisch geboren, als das alles noch „Leningrad“ hieß und die Krankenhäuser den strohbedeckten Gefängniszellen in der „Peter und Pauls-Festung“ glichen.
Vielleicht war es auch zehn Jahre später oder ein Jahrhundert früher. Genau sagen kann ich es nicht, denn ich war kaum dabei. Wahrscheinlich ist der Säuglingsgeist gleichzeitig voll und leer, damit ein Ganzes, so dass, sobald die Entwicklung vom Kind zum größeren Kind beginnt, alles noch einmal von vorne abgespult werden muss. Die alte und wissende Seele verpufft im Unterbewusstsein und man ist alleine gelassen mit seinen nun kommenden Erfahrungen, und irgendwo im Hintergrund flimmert der Film „Zurück in die Kindheit“ über die Wände, jene Erinnerungen, die man, je älter man wird, desto lieber hervorkramt, die einen glücklich machen oder traurig, in denen manchmal auch Fremdes mäandert, Nichterlebtes oder Geträumtes, ein Mischmasch an Gefühlswelt und Realität.
Eigenartig ist die Verbindung, die ich intensiv spüre, sooft ich nach St. Petersburg zurückkehre. Wie ein Schub Energie, der mich durchdringt und in mir all die kreativen Kräfte weckt, die mich lebendig halten und ausmachen. Im Grünen der Eremitage fühle ich mich zu Hause, die Kuppel der Isaak-Kathedrale ist mein Horst, über die mächtige Newa könnte ich stundenlang blicken, dem Gewieher der Pferde auf der Anitschkow-Brücke lauschen, vor der Schlange zittern, die den mächtigen Stein emporkriecht, auf dem sich Peter I. auf seinem Pferd erhebt. Wie sehr genieße ich die ewig langen Rolltreppen hinab in die Metro und von überall winken mir Puschkins Denkmäler zu, während Tauben sich auf seinen Schultern niederlassen und seine Gedichte in meinem Geist nachhallen. Nicht verwunderlich, dass ich mich durch russische Literatur getragen fühle und mich wiederfinde, sobald ich zum Beispiel Dostojewski aufschlage, dessen unruhiger Geist gerade den meinen beruhigt.
Eigenartig ist das alles auch darum, weil ich meine Geburtsstadt im Grunde früh verließ, genauer gesagt mit drei Monaten. Meine Eltern hatten längst geheiratet, das Studium beendet, dann kam ich, eine Geburt, die meine Mutter auf gut Glück überlebte und für die sie eine Medaille bekam (eine Münze der Stadt, die jedes Neugeborene erhielt) und die Reise führte nach Deutschland.
In der Stadt der Seen und Wälder wuchs ich dann auf, ging in Schwerin zur Schule, liebe bis heute das so architektonisch durcheinandergewürfelte Schloss mit seiner Geistergeschichte, bis sich die Grenzen in der ehemaligen DDR öffneten und ein neuer Umzug Richtung Heidelberg bevorstand, der für mich zum kleinen Drama wurde, da sich meine Eltern kurz zuvor scheiden ließen.
Natürlich war ich als Kind häufig in Russland, zu Besuch bei meinen Großeltern, so dass mir die Sprache vertraut war. Meine Mutter war in dieser Hinsicht eine treibende Kraft, sowohl was die Sprache als auch die Musik betraf. Mit fünf Jahren schickte sie mich ans Konservatorium in Schwerin, wo ich Geige spielen lernen sollte. Zweimal die Woche durchquerte ich mit meiner von einem Viertel zur Halben zur Ganzen wachsenden Geige die Stadt, spielte auch im Orchester. Wenn ich heute nostalgisch vor diesem grünen und großen, nun grau und zerfallenen Tor des Konservatoriums in Schwerin stehe, dann sehe ich diese kleine Gestalt, die ich war, die mir irgendwo verloren ging.
Die Liebe zur Kunst, Literatur und Sprache wiederum, die Notwendigkeit, kreativ zu sein, ist wohl durch die Familie meines Vaters geprägt, in der einige Künstler ihre Ideen auf die Leinwand brachten.
Als Kind malte ich viel und setzte meinen Dickschädel auch gegen die Norm durch. Von Blatt zu Blatt entstand meine ganz eigene Welt, meine Hasen hatten kurze Ohren, meine Hunde waren eigentlich Füchse (das konnte nur keiner deuten) und die Sonne war eben grün und ihre Strahlen über das Papier hinaus, über Tische und Wände, unendlich. Wer mir mit Realität kam, den blickte ich böse und ungläubig an. Was ich sah, malte ich, und das waren wohl schon immer reine Emotionen. Die Wirklichkeit, in ihrer Gefräßigkeit, blieb hinter dieser Zuflucht zurück. Dort prägte sich wahrscheinlich die mir zugedachte Rolle der Randgängerin, Echoträgerin – wie tief waren doch meine eigenen Abgründe – und Einsiedlerin. Es wurde leichter, als fünf Jahre später meine Schwester zur Welt kam, meine Verbündete im Zusammenhalt gegen die nach und nach zerplatzenden Lügen der Erwachsenenwelt.
Zur Kunst bin ich also nie gekommen, sie ist zu mir gekommen. Ich habe sie nicht gefragt, aber geantwortet hat sie ständig. Die Malerei und das Zeichnen waren für mich immer eine Möglichkeit, meinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sie auch zu kompensieren. Irgendwann nahm ich das alles dann ernster und befasste mich intensiver mit verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, die das Innere meiner Gedanken nach außen transportieren konnten.
Mittlerweile ist all das eine Art freie Kunst geworden. Frei auch im Sinne, mich nicht von Form und Stil leiten zu lassen, sondern immer weiter zu probieren, Gedanken auf der Leinwand oder auf dem Papier heranwachsen zu lassen, all das auszudrücken, was mir wichtig ist.
Vom Kind zum Teenager zum Erwachsenen. Nach dem Abitur arbeitete ich dann jahrelang in einer Werbeagentur, als es mich längst nach Köln verschlagen hatte, nach Findung und Verlust meiner selbst im Chaos der Emotionen, Aufstieg und Fall, gefundener und zerbrochener Liebe.
In so viele Spiegel habe ich geblickt, ohne mich zu erkennen, in so viele Pfützen der Stadt, in denen etwas reflektiert wurde, das mich ängstigte, selbst ins Theater hat es mich in Köln getrieben, wo ich als Hospitanz mithalf. Eine faszinierend schillernde Welt als Mischung aus Oberflächlichkeit und Tiefsinn. Ein Regisseur, der sich abends mit mir hinsetzte, mich erzählen ließ und am nächsten Tag unsere Unterhaltung zum Skript umfunktionierte.
„Du musst klauen, so viel du kannst“, empfahl er mir und mein Interesse verlor sich nach und nach, denn ich mochte die eigenen Spuren im Sand, die ganz und gar von mir stammten.
Es waren immer zu viele Wege, die ich hätte gehen können, so dass ich mich nie entscheiden konnte. Statt einen Weg zu gehen, wollte ich alle gehen. Musik weniger, aber Kunst und Schreiben.
Und da die Entscheidung schwer war,
ließ ich es erst einmal bleiben.
Doch die Werbung war nichts für mich und ich brauchte Jahre, um das zu erkennen. Der Markt, das Erfüllen des Marktes … nichts war mir mit der Zeit mehr verhasst, als auf Trends und Moden zu reagieren und auf Kommando zu produzieren. Wie abstoßend fand ich Künstler, die ihre Bilder auf den späteren Verkauf abstimmten. Meine häuften sich zwar um mich herum, bildeten aber alleine meine Welt. Ab und an kam ein Sammler vorbei und nahm fünf zum Preis von zwei. Und ich war froh, dass ich sie los war.
Ich fühlte mich immer verlassener, obwohl ich lange Freude an meiner Arbeit hatte. Irgendwann war ein Punkt erreicht, als ich das Ganze neu überdachte. Das, was ich tat, erfüllte mich nicht und ausgerechnet ein Buch von Henry Miller machte meine Entscheidung endgültig. Ich beschloss, alles aufzugeben, nicht nur die Arbeit, auch mich selbst neu zu erschaffen. Dafür trat ich eine sowohl innere als auch äußere Reise an und diese führte mich nach Griechenland.
Neben dem Schreiben, das sich bis dahin in zwei Gedichtbänden sammelte, bedeutete die Kunst für mich Leben. Zu diesem brauchte ich nicht viel, nur das Erfüllen der Grundbedürfnisse, das Dach über dem Schädel und die leere Leinwand. Kunst bestimmte im Grunde alles, was ich tat, war und bin. Kunst war nicht nur der Knoten, den ich immer wieder aufs Neue lösen wollte, ohne ihn wie den gordischen zu zerteilen, sondern sie bestimmte auch, in welche Richtung ich mich selbst bewegte und es immer noch tue. Ich lebe also nicht so sehr für die Kunst, sondern die Kunst zeigt mir, wohin ich gehen soll.
Wie weit entfernt wurde mir dann auch bald mein vergangenes Leben und wie erfüllend das neue. Ein Ozean, der in meiner Nähe rauschte, ein wie durch Yves Klein geschaffener, blauer Himmel, griechische Geschichte, die sich in den Städten als Antike mit der Moderne vermischte, eine Sprache, die mir noch unbekannt war und in der ich mich so schön verbergen konnte, denn es nimmt einem die Verantwortung, nicht verstehen zu können. Man sitzt im Abseits und genießt das reine Geräusch der Gespräche, ohne an ihnen teilhaben zu müssen. Doch lange ließ sich dieses herrliche Schweigen natürlich nicht aufrechterhalten. Wo man auch hingeht, man lernt automatisch. Irgendwann stand ich erneut vor mir selbst und musste mich aufs Neue fragen: Wer bin ich? Wo bin ich? Was will ich? Und die Suche begann von vorne …
Nur im Schreiben und in der Kunst fand ich meinen ganz eigenen Ausdruck. Ein Anderer oder dessen Geschmack, Richtungen und angesagte Bewegungen, Moden und Verkaufstaktiken, Erfolge oder Ziele hatten für mich von da an keine Bedeutung mehr. Es war nicht mehr wichtig, etwas zu sein, nur atmen zu können, auf meine Weise „frei“ zu sein. Der Rückzug war konsequent, denn er führte in meine eigene innere Landschaft, und diese barg auch Abgründe, Ängste, Stolperfallen, Echos, die ich zu entmystifizieren hatte. Ich wusste nie, was der nächste Tag mit sich brachte, aber im Grunde lässt sich das ganze Leben nicht planen. Man wuchtet Gewohnheiten hinein, setzt sich Ziele und etwas Unvorhergesehenes wie ein winziger Windhauch kann alles zum Einsturz bringen und verändern. Diese Erkenntnis gab mir Kraft.
Wer ich bin, weiß ich bis heute nicht. Doch was ich tun möchte, das mache ich und wohin mein Weg mich führt, das zeigt sich mir mit jedem neuen Schritt.
Bis jetzt empfinde ich mich nicht als Künstler, sondern als die Metamorphose eines Künstlers, der danach strebt, frei und unabhängig seinen eigenen Weg zu gehen. Diesen beschreite ich konsequent, vielleicht ist es gerade das, was mich letztendlich ausmacht.
Ausstellung - Günter Ludwig, 2015
Foto von Wolfgang Salinger