Die Briefe Dostojewskis
Wirft man einen Blick auf Dostojewskis Briefe, wird er darin sehr lebendig, wenn man die Briefe dennoch als das betrachten muss, was sie sind - hauptsächlich Bitten an Menschen, von denen er sich etwas erhofft, ob nun eine Antwort des Bruders, der schwieg, als er in der Verbannung in Sibirien war, oder Geld und Aufschub der Abgabe seiner Werke bei den Verlegern. Lebendig, also wirklich lebendig, wird Dostojewski nur am Anfang, in jener stürmischen Jugend, in der er mit seinem Bruder über große philosophische Fragen diskutiert, und am ehesten in Anna Grigorjewnas Tagebuchaufzeichnungen (weniger in ihren danach überarbeiteten "Erinnerungen"). Natürlich bleibt es ihr subjektiver Blick auf ihn, und möglicherweise hat sie vieles auch nicht ganz verstanden, jedoch werden der Umgang, das Miteinander, die zwischenmenschlichen Umstände sehr lebendig und sind vielleicht auch die, die der Wahrheit am nächsten kommen in der Hinterfragung, wer Dostojewski nun wirklich war. Doch auch die Briefe zeigen seine Persönlichkeit. Wiederholt und immer wieder neu begeistert, bleibe ich zurück, schaue ehrfürchtig auf diesen Mann, wie auch er ehrfürchtig in die Welt geblickt hat. Gide schreibt über die Briefe Dostojewskis, man erwartet einen Gott und findet einen armen, kranken, sich unablässig mühenden Menschen. Dostojewski sei kein Briefeschreiber, heißt es im Vorwort, weil die Dinge, über die er schreibt, zumeist aus der finanziellen Krise heraus verfasst wurden. Aber gerade das ist interessant, nicht der stete "höhere" Gedankengang über das Sein, sondern das Nackte im Menschen, sein wahres Abbild, das in Zeiten des Hungers und der eigenen Schwächen nicht an diese Dinge denken kann. Es ist nicht ganz so, dass alles banal und schnell geschrieben ist, auch wenn Dostojewski selbst nur allzu oft betont:
Mit den Jahren und den Schicksalsschlägen verändern sich die Briefe, werden, man könnte fast sagen, kindlicher. Der Alltag spricht aus ihnen, die Schwierigkeiten, mit denen sich Dostojewski herumschlagen musste.
Dostojewski versucht in einem inoffiziellem Brief zu erzählen, was er erlebt, um das Herz des Bruders zu rühren, er erzählt nicht gefühlsduselig, sondern so, wie es ist, mit dem Versuch, den anderen zu überzeugen. Als Leser solcher Briefpassagen hat man so viel Mitgefühl mit dem Mann, der alle Mittel versucht, um ein Wort zu vernehmen, von dem, der ihn verlassen hat. Er erzählt, er bittet in einer (für den Leser) mächtigen Ausführlichkeit. "Um Gottes Willen" ist ein sehr häufiger Ausspruch Dostojewskis. Auch wenn die Antwort ausblieb, haben all diese Briefe, lässt man die Bitten und Wehklagen weg, dennoch ihr Gutes gehabt. So sind daraus authentische Rückblicke geworden, die später in ein Buch fanden (Aufzeichnungen aus dem Totenhaus).
Der Bruder hat auch das Geld nicht geschickt, weil es ihm wohl selbst nicht besonders gut ging. Auch munkeln manche Schriften davon, er wäre ein Alkoholiker gewesen.
Dostojewski war sehr ehrfürchtig und unterwürfig. Trotz dass er ungerecht (wobei er selbst seine Schuld eingesteht) zum Tode verurteilt, begnadigt und verbannt wurde, ist er dem Zaren treu und dankt ihm (auch im Brief). Man kann hier eine Form der christlichen und leidenden Seele hineininterpretieren, aber ich denke, all das reicht noch tiefer, in psychologisch schwärzere Abgründe. Es ist nicht abzustreiten, dass das Leid erst sichtbar macht, was man am Leben hat. Ein Mensch, der nie gelitten hat, wird das Leben nie zu schätzen wissen, wird fast gedankenlos vor sich hinleben. Vielleicht ist das sogar das Dilemma vieler Menschen, warum sie auch nicht begreifen, dass man ein Recht darauf hat, das Leben zu genießen, glücklich sein zu wollen. Die Behauptung allerdings, das Leid sollte ein Dauerzustand sein oder als normal angesehen werden, bestreite ich erheblich und sehe es eher wie Anais Nin, die so schön sagte:
Denn wer durch Leid die Liebe zum Sein erkannt hat und sich immer noch quält, der liebt sich selbst nicht genügend, um in der Welt zu existieren, um sich selbst und dadurch anderen etwas geben zu können. Ein Leben des Schmerzes ist vergeudet, insbesondere, wenn es durch die seelische Selbstfolter herbeigeführt wird. Dostojewski war ein Mensch, der durch sein Schicksal erkannt hatte, was er war (unreif), was das Leben ist und was er möchte. Dafür war er dankbar, warum er verzeihen konnte, warum ihn nicht die Wut lenkte und damit beherrschte, sondern er das Geschenk des Lebens zu schätzen wusste. Das alles aber war es nicht alleine. Er war von Natur aus ein sich beständig unterwerfender Mensch, der sich für einen Büßer hielt und seine Schwäche zelebrierte, sich in ihr suhlte und wohlfühlte, als die von ihm akzeptierte Rolle des Sünders, des im Leben Scheiternden. Und er war einsam, lebendig schon so, wie er später auf dem Totenbett liegen würde. Er hatte keine Freundschaften und auch die Liebe kannte er nicht, nahm alles, wie es kam, heiratete, weil bestimmte Frauen in sein Leben getreten waren, die durchaus wirken, als könnte man sie jederzeit durch andere ersetzen, heiratete aus Mitleid oder weil diejenige eben gerade da war. Er klammerte sich an solche Begegnungen, die für einige dann auch unerträglich wurden, so für Polina Suslowa. Alles, was ihm wiederfuhr, wurde von ihm bedingungslos akzeptiert. Diese selbst zugeschriebene Rolle hat er über alles erhoben, was ihm begegnete. Er fühlte sich in dieser Rolle wohl, das Leid war ihm ein wonniger Begleiter und bestätigte sich in etlichen Umständen, während die Verbannung ihm nur ein weiterer Beweis für das selbst auferlegte Schicksal war, Leid ertragen zu müssen. Daher war er auch unfähig, diesem eigenen Abgrund zu entkommen und ein wirkliches Gefühl zu entwickeln. Dieses Feuer durchlodert alleine sein Werk, nicht sein Leben. Er wusste um seine Schwächen und genoss diese auf gewisse Art und Weise. Er hatte keine Scheu, unterwürfig aufzutreten, gar zu betteln (was sich mit seiner Spielsucht nachher noch verstärkte, wo er manchmal geradezu unverfroren „in liebenswürdigen Worten“ verlangte, man hätte ihm zu helfen.) Vielleicht hatte Dostojewski auch gerade darum keine Scheu, Fremde um Hilfe zu bitten, da er ihn ihren Gedanken voraussetzte, dass sie ihn als schwachen Menschen betrachteten, wie er sich selbst empfand. Und das wiederum vermittelte ihm das Recht darauf, scheitern zu dürfen, schwach erscheinen zu dürfen ... usw. Darum hatte er keine Freunde, darum nahm er das Leben, wie es sich ihm offenbarte und die Menschen darin, wie sie ihm entgegentraten. Heiratsanträge waren für ihn so, wie andere Menschen einander die Hand schütteln. Ein Mensch, der unfähig ist, sich selbst zu lieben, kann auch keinen anderen lieben, geschweige denn begehren. Für Dostojewski war die Liebe mehr ein Geben und ein ständiges Wiedergutmachen seiner Schuldgefühle, ein echtes Gefühl blieb ihm Zeit seines Lebens völlig fremd. Leidenschaft (bis hin zur Raserei) entstand nur im Schreiben und in seiner Spielsucht. Die Entwicklung zur Sucht war in seinem Wesen auch früher schon zu erahnen, denn er war es gewohnt, Hilfe zu fordern, wobei er beim Spiel die Grenzen vielleicht auch nur darum überschritt und ausreizte, weil er im Hinterkopf die Möglichkeit behielt, bei anderen um Geld bitten zu können. Seine Angewohnheit, Schulden zu machen, verhalf ihm zu einem freien Kopf vor dem Spiel, aus dem er alle Sorgen, Belastungen und Komplikationen, alle entstehenden Bedingungen ausgrenzte, alleine um sich hinterher bestätigen zu können, wie schwach er als Mensch doch war.
Nur im Schreiben war Dostojewskis Wesen stark, das heißt auch unruhig und rasend, voller Leidenschaft und Schatten, mit einem scharfen Verstand, während es im Leben schwach blieb. Das sind interessante Gegensätze. Als ob er sich erst im Schreiben zum starken Menschen entwickelte. Darum lebte er dafür, während das echte Leben für ihn nichts als Kummer bedeutete.
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