DIE ERNIEDRIGTEN UND BELEIDIGTEN



Ich, das wisst ihr, ich bin kein Gelehrter, ich verstehe nur zu fühlen.




Hier treffen wir auf einen Roman, der noch nicht völlig ausgereift, jedoch trotzdem packend ist. Man hat das Gefühl, Dostojewskij gerät etwas ins Schwatzen, weil er viele Gespräche und Momente mit Wiederholungen und Gefühlsausbrüchen würzt, weil er viele Gefühle in Worten oft vorwegnimmt, dass die kommende Handlung dann für den Leser keinerlei Überraschung birgt (ganz im Gegensatz zu seinem vorher geschriebenen Roman „Der Doppelgänger“). Überhaupt besteht der ganze Roman aus Gesprächen, was mir allerdings gut gefällt, weil sich durch die Worte die Charaktere schön herauskristallisieren.

Es heißt über den Roman, dass Dostojewskij hier seine eigenen Erfahrungen mit einer schmerzlich stürmischen und leidenschaftlichen Liebe zu einer Frau verarbeitet hat. Als seine erste Frau an der Schwindsucht gestorben war, eine Witwe, die er aus Mitgefühl geheiratet hatte, lernte er Polina Suslowa kennen und verliebte sich in sie. Aus dem Blickwinkel des Fürsten Walkowskij zeigt Dostojewskij, wie er sie wahrgenommen hat.

Als der Ich-Erzähler mit dem Fürsten in einem nervenaufreibenden Gespräch am Tisch sitzt, bei dem der Fürst unter anderem verkündet:



… also, wenn es möglich wäre, dass ein jeder von uns sein ganzes Innenleben schilderte, jedoch so, dass er nicht nur das, was er um keinen Preis anderen Menschen sagen, nicht nur das, was er nicht einmal seinem besten Freunde verraten würde, sondern sogar das, was er sich selbst kaum zu gestehen wagt, einmal mit größter Wahrheitstreue schilderte, - dann würde sich doch in der Welt ein solcher Gestank verbreiten, dass wir alle ersticken müssten.





… berichtet der Fürst auch von einer „verruchten Frau“, um seine These von Schein und Sein zu untermalen:



Nein, eine verderblichere Frau als sie gab es auf der ganzen Welt nicht… Sie war derart wollüstig, dass selbst ein Marquis de Sade noch von ihr hätte lernen können … Ja, sie war ein Teufel in Menschengestalt, aber zugleich von bestrickender Schönheit.



Diese nun soll dem Abbild der Suslowa durchaus entsprechen. Dostojewskij scheint also einer sehr herrschsüchtigen und schillernden Persönlichkeit begegnet zu sein, während sie gleichzeitig kindlich und naiv sein konnte. (Hier ist vielleicht auch etwas in Katjas Charakter geflossen.)
Die Suslowa aber konnte sich mit Dostojewskijs Charakter nicht abfinden, sie empfand ihn, der sie unterwerfen wollte, als empörend und demütigend. Während er von der idealen Liebe schrieb, erwies er sich als ein alltäglicher Rohling im Bett. Als er nach Wiesbaden fuhr, um zu spielen, verliebte sich die junge Frau dann auch schnell in einen feurigen, spanischen Medizinstudenten und erklärte dem Schriftsteller bei seiner Rückkehr:
„Du kommst etwas zu spät!“
Dostojewskij erklärte ihr später in einem Brief:



„Du verzeihst mir nie, dass du dich mir einmal hingegeben hast, und rächst dich dafür. Ein echt weiblicher Wesenszug.“


 


Nun gut. Im „Ewigen Gatten“ sind übrigens auch Momente dieser tragischen Liebe verarbeitet. Aber, zurück zum Roman.
Er öffnet sich in viele Ebenen, die alle irgendwann miteinander verfließen. Hier ist der Ich-Erzähler, der alle Begegnungen zueinander führt und einige Züge Dostojewskijs trägt. Er ist in Natascha verliebt, die die Tochter von Nikolai Ssergejewitsch und Anna Andrejewna ist. Beide sind sie als Kinder gemeinsam aufgewachsen, weil Nikolai und Anna den Ich-Erzähler Iwan Petrowitsch, kurz Wanja, bei sich aufgenommen haben. Sie besitzen ein Stück Land, das an das Land des Fürsten Walkowskij angrenzt, und wie die Umstände sich fügen, wird Nikolai dessen Verwalter. Der Fürst selbst hat einen Sohn Aljoscha, wohl Dostojewskijs erster Entwurf des „lieben Menschen“, nur ist er nicht nur lieb, sondern auch sehr kindlich und naiv (man könnte sagen, fast schon dumm (nicht ganz so schön, wie Fürst Myschkin)). Während sich also Wanja ganz langsam in Natascha verliebt, verliebt diese sich in den zarten Aljoscha und brennt mit ihm durch, verlässt dabei ihre Eltern und stürzt diese damit ins Unglück, weil Nikolai Ssergejewitsch gerade vom Fürsten verklagt wird, der diesem vorwirft, er hätte durch seine Schlampigkeit Geld hinterzogen. So ist es umso tragischer, dass seine Tochter Natascha, während Nikolai sich gegen falsche Anschuldigungen wehren muss und durch die Anklage vielleicht sein Land verlieren wird, ausgerechnet auch noch mit dem Sohn des verhassten Fürsten durchbrennt. Hier steht er, der Erniedrigte, der Beleidigte, und stößt einen Fluch auf all die aus, die sich gegen ihn verschworen haben.
Als Nebenstrang, der dann ins Geschehen führt, mit dem die Geschichte auch beginnt, wird die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem alten Smith und seinem ebenso alten Hund Asorka erzählt. Beide sind unnahbar und sterben kurz hintereinander. Weil Wanja neugierig ist, findet er heraus, wo der alte Smith gewohnt hat und bezieht dessen Wohnung, eine alte und schäbige Dachkammer. Einerseits fühlt er sich hier wohl, weil er ein Dichter ist (Dostojewskijs eigene Erfahrungen werden gespiegelt, der erste Roman ist veröffentlicht, er schreibt auf Vorschuss… usw.), andererseits, weil ihn interessiert, wer Smith war und ob vielleicht jemand kommen wird, um sich nach ihm zu erkundigen. Schließlich hat er Glück und ein kleines Mädchen sucht ihn auf, ein schreckhaftes und zorniges Kind, das seine Enkelin ist. Hinter diesem Kind verbirgt sich eine tragische Geschichte, die sich letztendlich mit der Geschichte Nataschas und ihrem „erniedrigten und beleidigten“ Vater deckt.
Natascha schließlich, für die der Ich-Erzähler Wanja alles tut, für die er Berater ist, während er gleichzeitig auch Berater für alle anderen wird, einerseits für die armen, verlassenen Eltern, andererseits für Aljoscha, der naive Bursche, der Natascha nicht nur betrügt, sondern von seinem Vater, dem hinterhältigen Fürsten, auch noch einer besseren Partie zugeführt wird, eine, die drei Millionen Rubel besitzt, und in die sich Aljoscha aufgrund ihrer Schönheit und Kindlichkeit verliebt, ohne es zu bemerken, wird so dann selbst gedemütigt. Hier wird dem Leser die Verzweiflung Nataschas gezeigt, die trotz ihrer Liebe zu Aljoscha erkennt, dass sie bereits eine verlassene Frau ist. Der Fürst selbst hat die Begegnung zwischen seinem Sohn und Katja, jener reichen Schönheit, bewusst neutral gelenkt, und während Aljoscha noch denkt, er würde alles für Natascha tun, indem er mit Katja ein schwesterliches „Vertrauen“ eingeht, so ist er längst verloren, längst unsterblich in die Andere verliebt, ohne es zu wissen, und zeigt es lediglich durch seine Handlung.
Dostojewskij entwirft hier unzählige Charaktere, die der Leser einerseits wirklich lieb gewinnt, andererseits wirklich verachtet. Man ist hin und her gerissen in seiner Zuneigung/Ablehnung. Diese Verzweiflung aller Menschen, in dieser ausweglosen Situation, ist gut gelungen. Er zeigt Aljoscha zudem oft nur von außen, in seinen Taten und Worten, ohne seinen Charakter zu durchleuchten, wie er es bei einigen der anderen Figuren tut, wodurch diese Figur einfach nur „ist“. Nur durch das Erkennen der anderen Figuren wird Aljoschas Zerrissenheit dann wieder zu offensichtlich, und ich kann nicht genau sagen, ob es der Handlung nun dient oder nicht, ob dadurch die Gefühle des Lesers verstärkt oder ganz im Gegenteil verringert werden.
Dass der Roman keinen offenen Handlungsverlauf aufzeigt, ist allerdings offensichtlich. Dostojewskij verrät mit jeder Situation, was passiert ist, was geschehen wird, wie die Figuren denken und was in ihrem Inneren vorgeht. Er zerlegt sie psychologisch und lässt den Leser nicht selbständig denken, was ich schade finde. Trotzdem ist es ein sehr emotionaler Roman, voller Gefühle und Gefühlsausbrüche, das versöhnt wieder mit dem Schriftsteller, der schreiben musste, um seinen Vorschuss abzuarbeiten, der einen Teil nach dem nächsten einreichte, ohne ihn noch einmal überarbeiten zu können. Und, was man ihm immer wieder lassen muss: Er versteht den Menschen in einen wahren Charakter zu kleiden. Er versteht, seine Figuren in unangenehmem, wie auch liebenswertem Wesen zu zeigen, dass der Leser ein wirkliches Gefühl für sie gewinnt. Und das, finde ich, das ist wirklich eine wahre Kunst.

 


Oh, mögen wir Erniedrigte, mögen wir Beleidigte sein, was tut das? – aber wir sind doch wieder beisammen! Und mögen sie doch, mögen sie doch triumphieren, die Stolzen und Hochmütigen, die uns erniedrigt und beleidigt haben! Mögen sie nur Steine auf uns werfen! (…) Wir werden Hand in Hand gehen…

 



(Alle Zitate sind der Gesamtausgabe Dostojewski von Zweitausendeins entnommen.)


© Annelie Jagenholz