Der IdiotTeil 1
Oh, meine Zeit erlaubt es mir sehr leicht, sie gehört nur mir allein!
(…) es scheint nur zu oft, dass es keine Berührungspunkte gibt, und doch sind sogar sehr zahlreiche vorhanden. Das kommt nur von der Trägheit der Menschen, weil sie sich nur so nach dem äußeren Schein zusammenfinden, deshalb können sie auch nichts Gemeinsames finden …
Was muss mit der Seele in diesem Augenblick geschehen, bis zu welchen Krämpfen wird sie gemartert? Eine Beschimpfung der Seele ist es, weiter nichts! Es heißt: „Du sollst nicht töten“ – und nun soll man dafür, dass er getötet hat, wiederum ihn töten? Nein, das darf man nicht.
… nehmen Sie zum Beispiel die Folter: da gibt es Schmerzen und Wunden und körperliche Qual, die aber lenkt einen doch von den seelischen Qualen ab, so dass einen bis zum Augenblick des Tods nur die Wunden quälen. Den größten, den quälendsten Schmerz aber verursachen vielleicht doch nicht die Wunden, sondern das Bewusstsein, dass, wie man genau weiß, in einer Stunde, dann in nur zehn Minuten, dann in einer halben Minute, sogleich, noch in diesem Augenblick – die Seele den Körper verlassen wird, und dass du dann kein Mensch mehr sein wirst, und dass das doch unfehlbar geschehen wird. Das Entsetzlichste ist ja gerade dieses ‚Unfehlbar’. Gerade wenn man den Kopf unter das Messer beugt und dann hört, wie es von oben klirrend herabglitscht – gerade diese Viertelsekunden müssen die furchtbarsten sein!
… soeben lebt er noch, er ist, nach drei Minuten aber ist er nicht, nach drei Minuten wird er schon ein Irgend-etwas sein – aber was denn? ... und die letzte Minute für die Vorstellung, wie sehr er das Leben nutzen würde, dass er, würde er jetzt weiterleben, keinen Moment mehr verschwenden wollte.
Gierig küsste er das Kreuz, ja, er beeilte sich geradezu, es zu küssen, ganz wie man sich beeilt, irgendetwas als Vorrat für alle Fälle mitzunehmen; aber es ist nicht anzunehmen, dass er dabei irgendeinen religiösen Gedanken hatte oder sich einer religiösen Handlung bewusst war. Und zur psychischen Stimmung:
Ist es nicht merkwürdig, dass in diesen letzten Sekunden so selten ein Verurteilter in Ohnmacht fällt? Im Gegenteil, das Gehirn lebt unheimlich intensiv, arbeitet rastlos, unermüdlich und stark, stark, stark, wie eine Maschine in vollem Gang; ich bilde mir ein, sie stampfen nur so durchs Gehirn, diese verschiedenen Gedanken, die man alle nicht zu Ende denkt, und vielleicht sind es sogar sehr lächerliche, so nebensächliche Gedanken (…)
Myschkins Beschreibung, wie man das Gesicht eines Verurteilten kurz vor dem Tod malen müsste, das dem Unausweichlichen entgegen blickt, reizt mich sofort zu einer Zeichnung:
"... die Hauptsache ist der Kopf; das Gesicht ist weiß, schneeweiß, der Geistliche aber hält ihm das Kreuz hin, das jener gierig mit seinen blauen Lippen küssen will, er streckt schon die Lippen vor und schaut und - weiß alles." Sein Gesicht war klug und sehr hübsch. Nur sein Lächeln war bei aller Liebenswürdigkeit gewissermaßen allzu fein, die Zähne erschienen dabei von gar zu perlenartiger Gleichmäßigkeit, und sein Blick war trotz seiner heiteren, vielleicht etwas zur Schau getragenen Offenherzigkeit etwas gar zu stechend und abschätzend.
Er wollte nicht „geschmacklos“ heiraten, denn er wusste Schönheit sehr zu schätzen… … und ich finde, mit diesen anfangs wenigen Worten ist sein Charakter schon gut erfassbar.
Tozkij hat Nastassia als Kind aufgenommen und dann, um ihres schönen Wesens willen, auf ein anderes Gut – das Lustschloss - mitgenommen, wo sie sich entwickelt und einen unbändigen Hass und Ekel gegen ihn aufbaut, der allerdings unbegründet ist. Vielleicht ist es der jugendliche Zorn der Entwicklung oder die Wut, dass ihre Familie gestorben ist, und Tozkij sofort nach ihrem Leben gegriffen hat, das wird nicht explizit ins Wort gefasst. Diesen Ekel kann er sich auch nicht ins Detail erklären, doch er ahnt, dass er sie zu absurden und auch bösen Taten reizen könnte. Darum gibt er ihr in vielen Dingen nach; zum Beispiel heiratete er nicht und schenkte ihr Luxus und eine Wohnung in Petersburg. Nun aber, wo er heiraten möchte und sich aus Angst vor der Reaktion Nastassias nicht richtig entschließen kann und damit den Zorn der „Schwiegereltern“ auf sich zieht, erfindet er eine Geschichte, dass er in der Vergangenheit eine Liebschaft mit Nastassia eingegangen sei, um ihrer Verachtung einen Grund zu verleihen. Er hat sie nicht wirklich sexuell missbraucht, er schmückt seine Angst vor ihr und ihren Ekel vor ihm einfach nur aus, damit andere einen Sinn dahinter erkennen können. In ihr tobt etwas anderes:
Hier sollte man sich auch nicht durch das „Lustschloss“ verwirren lassen, denn es waren einfach kleine Residenzen, die sich dem öffentlichen Menschenauflauf, der bei den großen Schlössern so alltäglich war, entzog und dem Besitzer ein bisschen Privatatmosphäre ermöglichte. Lustschlösser waren vor allem Orte der Feste, des Tanzes und der Musik, oft auch der Literatur und der Malerei für nur einen kleinen Kreis an Menschen. Damit bildeten sie den Gegensatz zur eigentlichen Residenz, welche häufig in der Nähe lag, den Staatsgeschäften diente und in welcher die Etikettε gewahrt werden musste.
... denn lieben können Sie ja überhaupt nur Ihre Schande und das immerwährende Denken daran, dass Sie entehrt sind und dass man Ihnen Unrecht getan hat. Wäre Ihre Schande nicht so groß oder wären sie überhaupt nicht vorhanden, so würden Sie unglücklicher sein…
Nastassias Zerrissenheit und das sich immer wieder darauf berufen, dass sie das Opfer eines alternden Lüstlings war, dient ihr auch ein bisschen als Abwehr, als auf den Leib zugeschnittene Persönlichkeit, die jede ihrer absurden Handlungen rechtfertigen soll. Das macht sie trotz ihrer auffallenden Schönheit sehr unsympathisch, und dem Leser erscheint ihr Tun wie ein zu ernst geratenes Spiel, das aus der Bahn gerät, denn immer, wenn sie etwas Beständigkeit erreichen könnte, flüchtet sie wieder. Diese Selbstbestrafung wird ihr aber zur Maske, als Vorzeigeobjekt ihrer Nicht-Vernunft, die sie damit zu entschuldigen sucht.
Myschkin ist die Personifikation der christlichen Liebe. Er liebt und lebt aus Mitleid. Den "Idioten" in ihm sehen die anderen hauptsächlich, weil er wie ein Kind ohne Hintergedanken denkt und spricht, voll von Demut und Mitgefühl für alle, was die anderen niemals fertig bringen würden, denn sie können nicht ohne Urteil, ohne Verachtung, ohne eigene Deutung anderer Menschen sein. Myschkin sagt: Ich habe das Original im Auslande gesehen, und seitdem kann ich dieses Bild nicht mehr vergessen.
... und hier spricht der Schriftsteller zu uns. ... weil es mir auch früher aufgefallen ist, so oft ich mit Atheisten zusammengekommen bin oder Schriften von ihnen gelesen habe, dass sie gar nicht davon sprachen oder schrieben, wenn es auch hundertmal diesen Anschein hat.
Was dadurch zurückbleibt ist der desillusionierte Atheist - ein ängstliches und darum auch "rohes" Wesen. Er hat Gott zwar verloren, hat sich aber noch nicht auf sich selbst besonnen und seinen Gott in sich erkannt.
Keller fasst Myschkin gut zusammen: Erbarmen Sie sich, Fürst: bald sind Sie die leibhaftige Verkörperung einer solchen Unschuld, einer solchen Herzenseinfalt, wie sie selbst im goldenen Zeitalter unerhört gewesen sein muss, und bald wiederum oder vielmehr gleichzeitig durchschauen Sie einen mit den tiefsten psychologischen Bobachtungen, die einem wie Pfeile durch das Mark und Bein gehen.
Fürst Myschkin ist kein Idiot, und er ist auch nicht einfältig. Er ist nur unfassbar gutgläubig, unfassbar für sein Umfeld, das sich im eigenen Klassendenken suhlt. … das eine ist nur ganz zufällig zum anderen gekommen, zwei Gedanken sind sich begegnet, wie das sehr oft geschieht.
Er nennt es später die „Doppelgedanken“, gegen die man machtlos ist, bei denen Myschkin voraussetzt, dass sie in jedem Menschen vorhanden sind. So kann er sich auch gegen niemanden zum Richter erheben, wenn man ihn um ein Urteil bittet. Am besten ist, man überlässt das Ihrem eigenen Gewissen, was meinen Sie?“ ... sagt er zu Keller. Auch hier wieder ein Nichtwerten (östliche Weisheit).
Die Auswirkungen des Anfalls, die Myschkin in seiner Mystik beschreibt, waren faszinierend. Diese Verwirrung zuvor, in der er nicht mehr klar denken kann und der Taumel hinein in diesen Anfall (wie eine langsame Vorbereitung), der ihm eher als Licht erscheint, nicht als etwas Negatives, auch als eine Art von kurzer Erlösung. Wir, die Außenstehenden, sehen dieses krampfende, mit verdrehten Augen und Gliedern zuckende Wesen in seiner Krankheit, der Kranke selbst erfährt darin eine Offenbarung und eine Erhellung seiner Bedrückung, erlebt dabei scheinbar einen kurzen (Aus)Weg aus dem Leid: … ganz plötzlich mitten in der Traurigkeit, der inneren Finsternis, des Bedrücktseins und der Qual (…) Die Empfindung des Lebens, des Bewusstseins verzehnfachte sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Der Verstand, das Herz waren plötzlich von ungewöhnlichem Licht erfüllt; alle Aufregung, alle Zweifel, alle Unruhe löste sich gleichsam in eine höhere Ruhe auf, in eine Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Sinn und letzter Schöpfungsursache. (…) Diese Sekunde war allerdings unerträglich.
Bei den "Dämonen" gibt es eine ähnliche Stelle. Kirilloff, der Selbstmörder, sagt: Es gibt Sekunden, es sind im Ganzen nur fünf oder sechs auf einmal, und plötzlich fühlt man die Gegenwart der ewigen Harmonie, der vollkommen erreichten. Das ist nicht irdisch; ich rede nicht davon, ob es himmlisch ist, sondern ich will nur sagen, dass ein Mensch in irdischer Gestalt das nicht aushalten kann. Man muss sich physisch verändern oder sterben. Dieses Gefühl ist klar und unbestreitbar. Als ob man plötzlich die ganze Natur empfände, und plötzlich sagt man: ja, es ist richtig.
Auch hier beschreibt Dostojewski den Zustand während des Anfalls. Wenn er später in bereits gesundem Zustande über diese Sekunde nachdachte, musste er sich sagen, dass doch all diese Lichterscheinungen und Augenblicke eines höheren Bewusstseins und einer höheren Empfindung seines Ich, und folglich auch eines „höheren Seins“, schließlich nichts anderes waren als eine Unterbrechung des normalen Zustandes, eben als seine Krankheit (…)
.Hier handelt es sich um einen vergeistigten Zustand. Deshalb ist es gar nicht so sehr ein "trotzdem", sondern Myschkin sieht darin keine Krankheit, sondern etwas Auserwähltes, einen plötzlich klaren Blick. … was geht es mich an, dass diese Anspannung nicht normal ist, wenn das Resultat, wenn der Augenblick dieser Empfindung, nachher bei der Erinnerung an ihn und beim Überdenken bereits in gesundem Zustand, sich als höchste Stufe der Harmonie, der Schönheit erweist (...)
Im "Idioten" heißt es über die Wirkung im Vergleich zu den Drogen: (…) Denn das waren doch in diesem Moment nicht irgendwelche geträumten Visionen, wie nach dem Genuss von Haschisch, Opium oder Alkohol, die die Denkfähigkeit herabsetzen und die Seele verzerren, unnormale und unwirkliche Trugbilder.
Also ist es ein für den normalen Menschen nicht fassbarer Rausch, der den Geist nicht verzerrt, sondern öffnet. |