Fjodor M. Dostojewski


Der Jüngling

 

 

 



… das Einfachste aber wird immer erst zuletzt begriffen, wenn man es schon mit allem anderen versucht hat …

 

 


Um an seinem Werk „Der Jüngling“ zu schreiben, gab Dostojewski seine Stellung als Redakteur beim „Staatsbürger“ auf. Er lebt zu dieser Zeit in Staraja Russa und beginnt dort die Arbeit an diesem Manuskript, so dass „Der Jüngling“ also zwischen den Hauptwerken „Die Dämonen“ und den „Brüdern Karamasow“ erscheint.
Verschiedene krankheitsbedingte Beschwerden nötigen ihn immer wieder zu einer Reise und einen Kuraufenthalt in Ems, wo er weiter schreibt. Im Hinterkopf hat Dostojewski einen Roman über einen großen Sünder. Dieser gerät ihm nur bedingt. Während des Schreibens verlagert er das Schwergewicht dann mehr und mehr von dem Sünder Werssiloff auf dessen Sohn, hier der Jüngling, Arkadij Makarowitsch Dolgorukij, der zur typisch Dostojewski’schen Anti-Figur gerät, als eine Mischung aus einem Suchenden und Scheiternden, einem naiv guten Herz und etwas Dreck auf der gekränkten Seele. Ja, der Jüngling ist Dostojewskis gekränktes Kind, das verzweifelt und in vielerlei Hinsicht naiv nach einem Ausweg aus seiner Misere sucht, umgeben von Menschen, die ähnlichen Problemen unterworfen sind. Die Selbstfindung ist für alle nicht abgeschlossen, so ist der Roman durchwandert von unfertigen Menschen, die alle ihre zwei Seiten der Medaille besitzen, gut und schlecht, charaktervoll und charakterlos, gläubig und ungläubig zugleich, fehlerhaft und tragisch sind.

Für mich begann der Roman etwas vielversprechender als er endete. Manche Stellen erschienen mir eher geschwätzig und nebensächlich, was durchaus in der Absicht des Autors als ein Charakterzug des Erzählers lag. Dennoch muss man sich eben auch als Leser durch dieses psychologische Bild kämpfen und hat ab und an seine Schwierigkeiten. Psychologie jedenfalls ist reichlich vorhanden, die philosophischen Tiefen kommen in diesem Roman etwas zu kurz. Dostojewski bleibt seinen Stil treu. Gegen Ende wird der Roman sehr spannend, denn alles entscheidet und löst sich auf.

Vieles bleibt während des Lesens zunächst unausgewogen. Die Erzähltechnik, das Durcheinander, die ständige Annahme, der Erzähler müsse vorgreifen und wieder zurückspringen, damit die unmissverständliche Erklärung an den Leser, er könne sonst das Ganze gar nicht erfassen, was aber vielmehr daran liegt, dass eben das Erzählen sehr sprunghaft und verwirrend ist, all diese Bedingungen ermöglichen kein entspanntes Lesen. Auch das ist die tiefere Absicht des Autors. Eine Idee wird hier benannt, die sich nicht entwickelt. Menschen zeigen einen Anflug an Überzeugungen, die dann nicht so richtig zur Geltung kommen. Vielmehr bleibt der Roman ein Reigen an Kränkungen, Intrigen, Erbschaftsstreitereien, Verrat und Verwirrung.

Natürlich liegt dieses ruhelose und verwirrte Erzählen des Jünglings in Dostojewskis Sinne. Der Roman ist seine Kritik an den Bekenntnissen Rousseaus, denen er nicht nur kritisch gegenüber stand, sondern diese als eine Art Gedankenherausforderung betrachtete, ähnlich der, die er mit Belinskij ausfocht. Mit beiden beschäftigte er sich ein Leben lang, kam immer wieder auf ihre Fragen und seine Antworten auf diese zurück. Viele seiner Romane sind von diesen Kämpfen durchdrungen und auch als diese herrlich tiefen Auseinandersetzungen geprägt.

Auf der letzten Seite des „Jünglings“ gesteht Dostojewskis solchen Aufzeichnungen leicht ironisch ihren gewissen Wert zu, da ein zukünftiger Leser diese Unordnung der Gedanken möglicherweise in eine besser Form bringen könnte. Auch dienen solche Dokumente der Authentizität. Schwer bleibt es manchmal, zwischen Ironie und Ernst zu unterscheiden, denn in vielerlei Hinsicht ist beides für den Leser nachvollziehbar.



  • „Es werden doch immerhin einige richtige Züge erhalten bleiben, aus denen man wird erahnen können, was sich in der Seele manch eines Jünglings jener unruhigen Zeit verborgen hat – eine Ermittlung, die nicht ganz unnütz sein dürfte, denn aus den Jünglingen entstehen die Generationen…“



Im Grunde steht in diesem Werk ein Jüngling, ein grüner Junge im Vordergrund, der unehelich geboren wurde, Kränkungen in Kauf nehmen musste und sich rächen möchte, ohne dass er sich diesen Wunsch tatsächlich gänzlich eingesteht. Dafür schreibt der Jüngling seine Bekenntnisse nieder, um sich „selbst umzuerziehen“, damit er aus seiner Naivität und den Folgen seines Verhaltens durch Niederschrift lernen könne. Der Leser stößt hier auf das Eingeständnis seiner Fehler, seiner Schuld, die letztendlich nichts anderes als das Leben sind. Es ist, wie viele Zeugnisse Dostojewskis, eine Beichte, die alles aufdecken soll.
Dabei bleibt es auch ein schamhaft lustvolles Entblößen, wie es bei Rousseau oder auch Augustinus, bei Kafka oder anderen Tagebuchaufzeichnungen sichtbar wird. Alles soll vermitteln, dass der Erzähler sich gebessert hätte und nun, nach dem Aufschreiben, ein Anderer ist.
Natürlich verweist gerade die Notwendigkeit, all das als Beichte zu verfassen, darauf, dass diese Aufrichtigkeit und Selbstbesserung trügerisch ist und nicht, wie der Jüngling mehrfach betont, überwunden. Es bleibt, nicht nur während des unausgewogenen Erzählens, sondern auch noch danach, eine Selbsttäuschung.



1.


Alles beginnt mit der Weigerung Arkadijs, zur Universität zu gehen. Stattdessen will er lieber dem Leben begegnen und seine „Idee“ verfolgen. Das soll ihm zum Verhängnis werden, bis sich die Umstände allmählich zuspitzen und alles ins Unausweichliche kippt.

Er erhält eine überraschende Einladung von seinem leiblichen Vater aus Petersburg. Endlich trifft er nach und nach auf seine leibliche Mutter Ssonja, seinen Vater Werssiloff, seinen nominellen Vater, den Pilger Makar, seine Geschwister Lisa und Anna, und auf eine Frau, in die er sich verliebt, Katarina Nikolajewna, die aber auch, wie sich nach und nach im Durcheinander der Gedanken herausstellt, die große und unerfüllte Liebe seines eigenen Vaters ist.
Darüber hinaus bricht ein Erbschaftsstreit los, dessen Ausgang der Jüngling in der Hand hält. Er erhält ein wichtiges Dokument und muss entscheiden, wem er es aushändigt. Übergibt er den Brief Katharina, wird sie das Geld erben, übergibt er den Brief seiner Schwester Anna, die er ebenso schätzt, steht ihrer Heirat mit dem Vater Katharinas, dem alten Fürsten Nikolai, nichts im Wege. Durch dieses Dokument ist der Jüngling ständig Mittelpunkt des Geschehens und der Aufmerksamkeit und muss lernen zu unterscheiden, wer ihm aufrichtig begegnet und wer das nicht tut. Daneben verfolgt er auch seine eigenen Absichten, schwankt in seiner Haltung und in seinen Entscheidungen. Ideen wälzt er viele, zur Umsetzung kommt es nicht. Das liegt mitunter auch an seinem noch grünen Charakter und seinem tief in ihm wuchernden Schmerz einer tragischen Kindheit.



  • „Ich glaube, schon in meinem zwölften Lebensjahr, also fast mit dem eigentlichen Erwachen meines Bewusstseins, begann ich, die Menschen nicht zu lieben. Das heißt nicht gerade, nicht zu lieben, aber so, sie wurden mit, ich möchte sagen, schwer.“



Da ihn der Umgang mit anderen Menschen verstört, entschließt er sich dazu, reich und mächtig zu werden, um ganz und gar seine ersehnte Einsamkeit leben zu können. Dies bezeichnet er als seine „Idee“. Er übt sich in Enthaltsamkeit und fastet, versucht mit so wenig wie möglich auszukommen, was ihm gelingt. So ergibt sich für ihn die Möglichkeit, trotz Armut Geld sparen zu können, und sei es Kopeke für Kopeke. Er erkennt für sich, dass jeder, ist nur genügend starker Wille vorhanden, „reich wie Rothschild“ werden kann. Was ihn trägt, ist diese „Idee“.

Mit der Einladung nach Petersburg beginnt ein neuer Lebensabschnitt, der diese Idee auch durchbricht. Schon seit seiner Kindheit, weiß Arkadij Makarowitsch, dass der Name Dolgorukij, den er trägt, nicht von demjenigen stammt, der ihn gezeugt hat. Auch ist der Name Dolgorukij in Russland als Adelsgeschlecht bekannt, so dass der Jüngling wütend, wenn man ihn fragt, ob er vom Fürsten abstammt, angibt, er sei der einfache, uneheliche Sohn eines Leibeigenen. Den Vater Werssiloff hat er seit der Kindheit idealisiert, so freut er sich darauf, die Familie endlich kennenzulernen und muss dort feststellen, dass Werssiloff seinen Vorstellungen zunächst überhaupt nicht entspricht.

Dieser befindet sich gerade im Streit mit dem alten Fürsten Nikolai. Er ist der besagte Vater Katharinas und künftiger Ehemann der Schwester Anna. Wie bereits erwähnt, erhält ausgerechnet Arkadij Makarowitsch ein sowohl für diesen als auch für den später zwischen den rivalisierenden Frauen ausgetragenen Streit wichtiges Dokument, das die Sache entscheiden könnte. Sofort verliebt er sich in die Tochter des Streitgegners, für die das Manuskript mehr als wichtig wäre, da darin eine Anfrage ihrerseits enthalten ist, wie sie ihren Vater für verrückt erklären und entmündigen lassen könnte. Diese Anfrage ist längst vergessen, jedoch stellt sie eine Gefahr dar, da Katarina natürlich weiß, dass der Vater, würde er davon erfahren, sie sofort enterben und aus dem Haus jagen würde. Der eitle Jüngling hält damit eine Macht in der Hand, der er sich durchaus bewusst ist. Nun beginnt die langwierige, chaotische Auseinandersetzung mit sich selbst, die unabdingbar in die Katastrophe steuert.

 

 


2.


Schnell wird dem Leser an diesem Ich-Erzähler erwartungsgemäß ein unangenehmer Charakterzug bewusst.

  • Ich habe soeben überlesen, was ich geschrieben habe, und muss sagen, dass ich viel klüger bin, als das Geschriebene vermuten ließe. Woher kommt es nur, dass selbst das von einem klugen Menschen Ausgesprochene immer so viel dümmer wirkt als das, was unausgesprochen in ihm zurückbleibt?


Sein Streben scheint zunächst nutzlos und materiell zu sein, seine Gedanken oberflächlich, die Ansichten misanthropisch ausgerichtet. Der Mensch ist ihm „schwer“.
Er sehnt sich nach einem Freisein, um keinerlei Verantwortung für andere übernehmen zu müssen, es sei denn, er entschließt sich von sich aus dafür. Wozu, fragt er, soll ich mich um andere sorgen, etwas für die Menschheit tun, wenn dafür nicht einmal etwas Liebe oder wenigstens eine große Tat herausspringt?



  • „… unsere Zeit ist das Zeitalter der goldenen Mittelmäßigkeit und der Gefühlsstumpfheit, der größten Vorliebe für Unwissenheit und Faulheit, ist das Zeitalter der Unfähigkeit zur Tat und des Verlangens, alles fertig vorzufinden. Kein Mensch denkt nach; selten bringt es jemand bis zu einer eigenen Idee.“



Mit diesen Gedanken steht Arkadij exakt der Idee seines Vaters gegenüber, die das genaue Gegenteil enthält (mehr dazu unten). Der Jüngling ist von seiner Idee ganz und gar erfüllt, weshalb er sich höher als andere stellt. Die Idee erhebt, hüllt ihn schützend ein, lässt ihn alles durchstehen, alles bewältigen. Sie trägt ihn, bis er sich ganz und gar in ihr verliert. Im Grunde stellt sich jene Idee als Obsession heraus, als projiziertes Wunschdenken ohne Realitätsanspruch.
Von einer Idee besessen sind neben dem Erzähler und Werssiloff mit seiner Vorstellung eines neuen Menschen viele Figuren, so der Selbstmörder Krafft. Dieser erschießt sich z. B., um damit zu beweisen, dass der Russe ein zweitrangiges Wesen ist. Das Interessante daran bleibt, dass Arkadij Krafft zu dem Zeitpunkt begegnet, als er selbst seine eigene Idee ausbrütet, so dass, hätte er nur ein bisschen mehr Erkenntnisvermögen, er durch ihn hätte lernen können, wohin eine fanatische Idee führen kann.

Bald wird sichtbar, dass hinter dieser Idee etwas anderes als reines Streben nach Materialismus steht. Dem Erzähler geht es um Macht und damit Freiheit, womit die Idee bereits ihre fatalen Auswirkungen zeigt.



  • „Ich brauche das Geld nicht, oder sagen wir richtiger, ich brauche nicht das Geld, und nicht einmal die Macht; ich brauche nur das, was man durch Macht erwirbt und was man auf keine Weise ohne Macht erlangen kann; und das ist das einsame und ruhige Bewusstsein der Kraft. Das ist die erschöpfteste Bezeichnung dessen, was man „Freiheit“ nennt und um die sich die ganze Welt so abquält. „Freiheit!“ Endlich habe ich es hinausgeschrieben, dieses großes Wort …“



Denn Geld erhebt selbst den Nichtigsten in den Augen anderer Menschen zu einer Persönlichkeit. Der Reichtum macht die Reichen wieder gleich. So erklärt es zumindest der Jüngling, indem er dennoch danach strebt, um all das mit intellektuell scheinheiligem Geschwafel schönzureden. Reichtum nimmt hier eine ähnliche Stellung ein wie der Name, der den Reichtum kennzeichnet. Der Adel im Namen Dolgorukij macht den Menschen, der ihn trägt, zunächst gleich. Beim Hören des Namens verbinden die Menschen sofort ein Fürstengeschlecht, was auch Arkadij in ihren Augen zunächst erhebt, bis er verletzten Stolzes die Dinge aufklärt. Dieser Widerspruch in ihm, das Streben nach Reichtum und das Beharren, ein uneheliches Kind zu sein, äußert sich in vielen Dingen, so auch in dem Wunsch zu beweisen, reich werden zu können, um dann ohne zu zögern sein erwirtschaftetes Geld den Armen zu schenken. Nicht die Hälfte, sondern alles, um als Bettler zu leben.

… denn mir genügt Vollauf das Bewusstsein …“, sagt er.

Hierbei geht es nicht darum, die Armen zu retten oder sich aufopfernd um die Menschheit zu kümmern. Es ist reiner Stolz:

  • „Allein das Bewusstsein, dass Millionen in meiner Hand waren und ich sie in den Schmutz geworfen habe wie Spreu, würde mich wie ein Rabe speisen in meiner Wüste."


Ein Stolz, der ihn sogar dazu verleitet, nicht einmal die Vorzüge des Reichtums genießen zu wollen, sondern sich alleine von dem Wissen zu nähren, dass er sie genießen könnte.

Geld bleibt im Roman eine schmutzige Angelegenheit, die fatal auf Mensch und Welt wirkt. Alles dreht sich darum. Die Erbschaften, die gerichtlichen Streitereien und das Streben des Jünglings. Das ist nur natürlich, da Dostojewski aus eigener Verschuldung immer wieder mit diesem Kreislauf an Macht, Geldverteilung und nackten Überleben konfrontiert war. Er hätte sich sicherlich gewünscht, ruhiger und unabhängiger sein Leben zu verbringen (wie es gutsituierte Menschen wie Turgenjew taten), stattdessen war es immer nur ein Kampf um Tilgung und Geldbettelei.
Geld war für Dostojewski nicht alles. Im Gegenteil verachtete er es, nahm es, wie es kam und gab es, zeit seines Lebens, genauso schnell wieder aus der Hand. Während seines Studiums berichtete ein befreundeter Arzt, dass Dostojewski ständig ausgenutzt wurde und alles hergab, was er besaß. Das war zu der Zeit auch das, was ihn immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Er selbst hatte kaum Ansprüche, trank Milch und aß Brot.
Um Geld bettelte er allein, weil er seinen Lebensunterhalt bewerkstelligen musste. Hätte Geld ihm etwas bedeutet, hätte er es gesammelt. Wenn er keins hatte, musste er notgedrungen irgendwie welches auftreiben. Sein Leben aber drehte sich nicht um diese Materie, auch wenn dies in den Briefen aufgrund seiner ständigen finanziellen Notlage so herüber kommt. Die Briefe sind als Ausschnitt seines Lebens aufzufassen, die gefüllt mit dieser Sorge sind. Nicht nur das Geld war für Dostojewski schmutzig, auch alles, was sich darum drehte. Der Mensch, der nach Materiellem strebt, ist für ihn kein Mensch. Seine Romane zeigen das immer wieder.


So muss auch sein Jüngling großspurig davon reden, wenn all das auch leichter gesagt ist, als dann getan. Arkadij Makarowitsch faselt eine Menge zusammen. Seine Idee stellt sich so als die intellektuelle Rechtfertigung dafür heraus, narzisstisch und egoistisch durch das Leben schreiten zu dürfen, ohne sich dafür verantworten zu müssen, da man es ja nur gut meine. Das sind dann jene Ausreden, die altbekannt sind und über menschliche Werte durch genügend Rechtfertigungen in Machtanspruch, Tod und Verderben führen. Zieht man all das ab, was er sich an schöngeistigen Hintergedanken zurechtlegt, bleibt alleine der Wunsch nach Anerkennung, der ihm nur durch Macht möglich erscheint. Und Macht liegt für ihn im Geld.

Dostojewski greift, wie schon gesagt, mit dessen niedergeschriebenen Zugeständnissen die Form von Rousseaus Bekenntnisse in seiner Wirkung auf. Als der Jüngling mit einem Studenten durch die Stadt zieht und junge Mädchen erschreckt, deutet er das auch an, da der Jüngling schnell bemerkt, wie sich seine Sympathien für den anderen verflüchtigen.



 

  • „Einmal erzählte ich dem Studenten, dass Jean Jacques Rousseau in seinen „Beichten“ gesteht, er habe als Jüngling mit Vorliebe gewisse, stets bedeckte Körperteile zu entblößen und heimlich hinter Ecken hervorzustecken geliebt, um dann auf vorübergehende Frauen zu warten. Als Antwort pfiff mir der Student wieder nur sein „Türlürlü!“. Ich merkte schon, dass er schrecklich unwissend war und sich für erstaunlich wenige Dinge interessierte. Es war in ihm auch keine Spur von einer verborgenen Idee, wie ich sie in ihm zu finden erwartete hatte. Anstatt der anfangs vermuteten Originalität fand ich in ihm nur erdrückende Eintönigkeit.“



Letzter Satz ließe sich durchaus auf Dostojewskis Einstellung zu Rousseau deuten, als ein leicht verschobener Wink mit dem Zaunpfahl.

 

 


3.


Im trügerisch trauten Heim, nachdem Werssiloff den Streit gewonnen und das damit verbundene Geld erhalten hat, erzählt Arkadij Makarowitsch endlich, weshalb er so tief gekränkt ist. Er fühlt in sich durch seine uneheliche Geburt und Kindheit als eine Lakaien-Seele, gegen die er sich wehrt und die er, widersprüchlich genug, auch verstärkt auslebt. So wie Sartre über Genet schrieb, er würde nach all den Kränkungen, als Dieb bezeichnet worden zu sein, den Dieb dann tatsächlich in sich entdeckt haben, sagt auch der Jüngling, er würde den Lakaien, wenn ihn schon jeder in ihm erwartete, dann einfach verstärkt zum Vorschein bringen.
Tatsächlich aber wurde er während seiner Schulzeit einfach nur tief gekränkt, da der Lehrer, weil er nicht genügend Geld für seine Ausbildung erhielt, ihm deutlich klarmachte, dass er von anderer Herkunft war als die anderen Mitschüler. Arkadij wurde geschlagen, musste ihn bedienen und wurde, da er versuchte, diesen Umständen zu entkommen und sich bei dem Lehrer wohlgefällig zu zeigen, von den anderen Schülern gehänselt. So wuchs in ihm ein Hass auf den Vater heran, den er in sich genährt hat, während er ihn gleichzeitig idealisierte, und der nun, in der Erzählung seiner Vergangenheit, hervorbricht. Wie er seine Idee verteidigt, rechtfertigt der Jüngling auch der Widersprüche seiner Gefühle zum Vater.

  • „Ein Realismus, dessen Umkreis nur bis zur eigenen Nasenspitze reicht, ist gefährlicher als die unvernünftigste Phantasterei, weil er blind ist.“


Um Werssiloff ranken sich etliche Gerüchte. Da wird von weiteren unehelichen Kindern berichtet, von einer Schwachsinnigen, die ein Kind von ihm bekommen hätte (vgl. hier auch „Die Brüder Karamasow“, in der Dostojewski dieses Thema ebenfalls aufgreift), von einem Rausschmiss aus dem Regiment, entehrten Frauen, Ohrfeigen und Ketten, die er in Buße getragen haben soll. All das stellt sich als reines Geschwätz heraus, während die Dinge ganz anders liegen und Werssiloff aus all dem wesentlich besser hervorgeht, als Arkadij überhaupt nur erwarten durfte. Nach und nach wachsen Sohn und Vater immer mehr zusammen, allerdings begleitet von etlichen Schwierigkeiten, einem Auf und Ab an Achtung und Gefälligkeit.

Je weiter der Roman voranschreitet, desto mehr hat der Leser das Gefühl, dass sich das Chaos wieder ordnet. Der Erzähler greift vor, fällt zurück, ohne zunächst auch nur eine Szene exakter zu beschreiben (was später natürlich aufgeklärt wird). Andeutungen über Andeutungen vermitteln dem Geschehen eine Spannung, die allerdings in der Schwebe hängt. Was ist geschehen? Was meint er? Worauf will er hinaus? Nichts gibt zunächst Sinn, findet dann aber endlich in verschiedene Erklärungen. Die Art dieser Leser-Täuschungen bleibt auch eine Weigerung, einen Roman zu schreiben, der gleichbedeutend mit der Lüge ist. Authentizität ist das Anliegen dieser Bekenntnisse, so dass manche Gedanken manchmal kaum nachvollziehbar sind und alleine eine Auseinandersetzung Arkadijs selbst zu sein scheinen. Das aber macht den Bericht auch aus.
Die Idee des Jünglings verliert sich schnell. Der Kern, die Idee hinter der Idee stellt sich als Luftgespinst heraus, das Arkadij nicht anzuwenden versteht oder gar nicht erst weiter verfolgt. Und nicht nur seine Idee verliert sich, sondern auch der Glaube an sich selbst.



  • „Und da ich ganz aus fremden Gedanken bestand, wo sollte ich da plötzlich eigene hernehmen, als ich sie auf einmal zu einem selbständigen Entschluss brauchte?“



Hier wäre es (für mich) interessant gewesen, zu sehen, was Dostojewski aus der Umsetzung einer solchen Idee gemacht hätte. Leider entspricht ja gerade dieses Aufgeben der Idee optimal dem Charakter des grünen Jungen, der nichts, was er sich vornimmt, in die Tat umsetzt.


Dostojewski hat hier einen literarisch technischen Kniff angewendet, dass das authentisch Erzählte an den von Arkadij für dumm erklärten Leser vorbeireicht, während der echte Leser durchaus besser informiert bleibt, sobald er sich an das Chaos gewöhnt hat. Der Leser soll das Gesagte des Erzählers als trügerisch auffassen, was leicht gelingt, während der Erzähler noch die an ihn gerichteten Worte ernsthaft überzeugt meint. Damit alleine vermittelt Dostojewski dem Leser durch die scheinbare Authentizität der Bekenntnisse eine unübersehbare Selbsttäuschung und lässt sie auch ausschließlich den Leser entdecken, während der Jüngling immer wieder betont, was das Niederschreiben für ihn bedeutet und wie sehr er sich gebessert hat.


Nach und nach geschehen Dinge, die ihn immer weiter in die Ecke treiben. Der für die Frau, die er liebt, mehr als kompromittierende Brief zittert in seiner Hand wie ein elektrischer Schlag, der ihn selbst ereilt. Er erliegt einem Fieber, phantasiert, lässt sich mit Verbrechern ein. Dann gesteht er ihr auch noch seine Liebe, muss gleichzeitig erfahren, dass auch sein Vater eine einstige Zuneigung zu ihr hatte und umgekehrt auch sie für ihn. Nun hat sich dieses einstige Verhältnis dem Anschein nach in Hass verwandelt. Am Ende gerät das „fatale Weib“, das eine Mischung aus Verführung und Bodenständigkeit, Reiz und Schüchternheit ist, ganz in den Mittelpunkt. Vater, Sohn und Verbrecher kämpfen um ihre Gunst und die Entblößung ihres wahren Charakters.

 

 


4.


Beide Väter, der leibliche – Werssiloff, und der nominelle – Makar sind für mich die interessantesten Charaktere. Werssiloff, der Lebemann, der Europa bereiste und den Glauben verlor, kämpft mit seinen idealistischen Ideen und muss am Ende, aufgrund seiner Gefühle zu Katarina Nikolajewna scheitern.

Wie im „Traum eines lächerlichen Menschen“ träumt auch er von diesem goldenen Zeitalter, wo die Menschen wie Götter leben und jeden Tag schuldlos und glücklich erwachen. Allerdings mit einer etwas anderen Kritik an diesem ganzen illusorischen Bild, als es sich im „Traum“ entfaltet, wo diese Welt bewusst und gleichzeitig auch absichtslos durch Aufklärung zerstört wird. Hier heißt es:



 

  • „Das goldene Zeitalter ist von allen Illusionen, die die Menschheit jemals gehabt hat, die allerunwahrscheinlichste, und doch haben die Menschen für sie ihr Leben und alle ihre Kräfte hingegeben, für sie sind Propheten getötet worden und gestorben, und ohne sie können die Menschen gar nicht lieben, ja nicht einmal sterben!“



Dostojewski verbindet damit natürlich seine vorurteilshafte Sicht auf den westlichen Einfluss. Insbesondere auf den letzten Seiten kommt Dostojewski ganz kurz auf seine Idee des Heiligen Russlands zurück, allerdings mit ironischem Ausklang. Wo zunächst noch „… durch die Luft Europas Sterbeglockenklang“ zieht, ausschließlich der russische Menschen universal um alle Menschen leiden würde - "In seinem Hut ist die Zukunft Russlands." -, ändert sich der Ton bald und gerät aus dieser zunächst anmaßend klingenden Feststellung zur Kritik am westlichen Russen. Auch Europa würde selbstverständlich seine edlen Typen erschaffen, aber sie würden nicht, wie der Russe, an den zukünftigen Menschen denken.
Werssiloff, in seiner Vorstellung von diesem aus tausend Menschen und dem höchsten russischen Kulturgut entsprungenen universal leidenden Russen, spricht davon, dass er Russland besser diene, wenn er in Europa nicht mehr Russe, sondern Deutscher in Deutschland, Franzose in Frankreich usw. würde, wenn er sein Wesen also aufgibt, um mit dem Land zu assimilieren, in dem er sich gerade aufhält. Hier höre ich mehr als deutlich die Kritik Dostojewski gegen die verwestlichten Russen heraus, die wie Turgenjew, behaupteten, außerhalb Russlands mehr für Russland bewirken zu können.
Turgenjew hat diesen Standpunkt vehement vertreten, er hätte von Europa einen besseren Blick auf Russland und könne auch von dort aus russischer schreiben und bleiben. In Kothinenkos Film über Dostojewskis Leben reicht Dostojewski Turgenjew so schön sarkastisch das Teleskop und sagt ihm, er könne damit Russland hoffentlich genügend heranzoomen.
Einerseits hatte Dostojewski schon Recht. Aus der Ferne lässt sich nichts bewirken, was Russland zugutekäme. Die Erfahrungen vermischen sich, direkte Probleme können nicht als Teil der Entwicklung erfasst werden. Anderseits, und da liegt Turgenjew wieder richtig, ist ein Urteil über die Lage Russlands von außen leichter, da man nicht mittendrin sitzt und genügend Abstand zwischen sich hat, um die Lage Russlands neutraler einzuschätzen.
Nun gut, diese Auseinandersetzung hat Dostojewski in seinen Romanen ja allgemein ausführlich behandelt.

Werssiloff spricht von seinem Ideal eines neuen Menschen als einen atheistischen, der zwar seinen Glauben einbüßt, sich alleine und verlassen fühlen wird, dadurch aber die Stärke gewinnen könnte, auf sich selbst zu bauen und neue Werte zu setzen.



  • „Nach den Flüchen und Verwünschungen, nach dem Auspfeifen und Mit-Schmutz-Bewerfen ist endlich Stille eingetreten, und die Menschen sind allein geblieben, wie sie es gewünscht hatten; die große frühere Idee hat sie verlassen; die große Quelle der Kraft, die sie bislang genährt und gewärmt hatte, ist versiegt, ist untergegangen, ganz wie jene erhabene, rufende Sonne auf dem Bilde von Claude Lorrain, nur dass es hier schon gleichsam der letzte Tag der Menschheit wäre.
    (…) Ich bin überzeugt, diese verwaisten Menschen würden sich sogleich enger und liebevoller aneinander drängen; sie würden sich an den Händen fassen und begreifen, dass sie jetzt ganz allein alles füreinander sind! Die große Idee der Unsterblichkeit wäre verschwunden, und man müsste sie durch eine andere ersetzen; und der ganze gewaltige Überschuss der früheren Liebe zu dem, der ja die Unsterblichkeit war, würde sich in allen Menschen, der Natur, der Welt, jedem Atom des Seienden zuwenden.



Das ist dann wiederum erstaunlich aus dem Mund eines Idealisten, wenn Werssiloff auch in vielen Dingen gescheitert ist, während es im Roman so überzeugend heißt:

  • "... denn ein Idealist, der mit der Stirn an die Wirklichkeit prallt, ist immer eher als jeder andere geneigt, jede Schändlichkeit vorauszusetzen."


Dies ist übrigens ein, wie ich finde, passendes Zitat. Sobald der Idealist auf die Realität trifft, wird seine Vorstellung dermaßen zerschmettert, dass er durch die Enttäuschung von da an nur noch Schlechtes wittert und dieses auch, aufgrund der Erschütterung eines „Wachwerdens“, voraussetzt, was sich ihm dann immer wieder bestätigen wird, eben weil er es erwartet. Ein Teufelskreis.
Arkadij erliegt dieser Enttäuschung, auch Werssiloff in gewisser Hinsicht, während er die Ausnahme bildet und seine Idee weiter nährt. Er verliert zwar den Glauben an Gott oder zweifelt ihn überhaupt an, verliert aber nicht den Glauben an seinen Menschen, der befreit aus seinen alten Vorstellungen steigt und besser daraus hervorgeht. Sicherlich verliert er diese Idee auch darum nicht, weil sie von vorneherein eine reine Illusion ist, durch das Dostojewski Kritik an dem schiller’schen Ideal als reines Konstrukt übt.

Auch im Jüngling erscheint am Ende das Doppelgänger-Motiv. Der Doppelgänger steht für den Wahnsinn in jedem Menschen, hier für die Persönlichkeitsspaltung, damit Schizophrenie, der Werssiloff durch gekränkte Liebe verfällt.
Seine Obsession von Katarina Nikolajewna wirkt auf mich wie die Liebe Dostojewskis zu der Suslowa, jene Hoffnungen, die unerfüllt bleiben, weil sie das Interesse an ihm verliert oder er ihr zu sehr ER ist.
Das Gespräch zwischen Werssiloff und Katarina Nikolajewna ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich, wenn er sich hier halb im Wahn an den Hals wirft, von ihr hört, sie hätte ihn geliebt, könne ihn nicht mehr lieben, liebe ihn höchstens allgemein.
Dialog:



  • Katarina: „Nein, ich liebe Sie nicht. (…) Ich habe Sie geliebt, ja, aber nicht lange. Ich habe damals sehr bald aufgehöhrt, Sie zu lieben.“
    Werssiloff darauf: „Ich weiß, ich weiß, Sie erkannten, dass es hierbei nicht das war, was sie brauchen, aber … was ist denn, was Sie brauchen? Erklären Sie mir das noch einmal …“
    „Habe ich es Ihnen denn schon jemals erklärt? Was ich brauche? Aber ich bin doch eine ganz gewöhnliche Frau; ich bin eine ruhige Frau, ich liebe … ich liebe heitere Menschen.“
    „Heitere?“
    „Da sehen Sie, wie ich mit Ihnen nicht einmal zu sprechen verstehe. Ich glaube, wenn Sie mich weniger zu lieben vermöchten, dann könnte auch ich Sie lieben“, sagte sie wieder mit einem schüchternen Lächeln.


Da wären wir wieder beim ernsten Menschen Dostojewski, der vielleicht zu heftig auf eine quirlige und intelligente Frau wie Polina wirkte. Zumindest könnte ich mir die Unterhaltung zwischen Polina und Fjodor gut so vorstellen. Werssiloff bittet dann auch darum, dass sie nicht heiraten möge und ihm ab und an einen Besuch gestatte.
Am Ende ihrer Unterhaltung heißt es:

  • „Lassen Sie uns als Freunde scheiden, und der Gedanke an Sie wird mir der ernsteste und liebste bleiben mein ganzes Leben lang.“


Makar wiederum tritt als alter Pilger auf, den die Familie Werssiloff liebevoll umsorgt. Er ist derjenige, der sehr gläubig ist, jener bis in den Kitsch „echte, gläubige Russe“ voller Sentimentalität und schwankend zwischen Aberglaube und Weisheit, der den Menschen rät, einander zu lieben und zu ehren. Seine Geschichten sind die Glanzstücke des gesamten Romans, darunter eine, die die Sünde „Selbstmord“ hinterfragt, während es sich bei dem Freitod nicht um den eines Erwachsenen, sondern um den eines gequälten Kindes handelt, über den die Eltern versuchen, Buße zu tun, was ihnen dann durch die Geburt eines weiteren Kindes, das sie zum Sinnbild des Vergebens erheben, nicht gelingt, da dieses in ihren Armen stirbt.

Makars Worte an diese verirrte Familie sind rührend und er verweist mit seinen Geschichten auch auf sein eigenes Scheitern, ein guter Vater zu sein, denn er glänzte durch sein Pilgerleben durch Abwesenheit. Damit duldete er das Fremdgehen seiner Frau Ssonja mit Werssiloff, nahm das uneheliche Kind als sein eigenes an, ohne für es da zu sein, ging in die Welt hinaus, kehrte zurück, um einige letzte Worte an alle zu richten und dann zu sterben. Sein Vermächtnis an Werssiloff ist ein Heiligenbild, das dieser dann im Wahn zertrümmert. Einerseits vermittelt dieses Ereignis auch für den Nichtgläubigen ein Sakrileg, steht für die Entehrung des Toten, einen Verfall der übermittelten Traditionen und Ratschläge, das dem zuwiderläuft, von dem Werssiloff als sein „goldenes Zeitalter“ träumt, da er damit nur die Degeneration und Missachtung verdeutlicht, an der er selbst zu leiden scheint, andererseits wird in diesem Bild auch seine Idee verwirklicht, als ein Zertrümmern des Alten und Erbauen des Neuen, endet leider im Wahn, ist damit hinfällig. Auch glaubt Werssiloff, dass die Toten weiter unter den Menschen weilen und ihm vergeben, was dem Glaube der Russen zuwiderläuft, die sich darüber verschreckt bekreuzigen.

Beide Väter stehen in ein eigenartiges Verhältnis zu Ssonja, Arkadijs Mutter. Der leibliche Vater, von dem sie das uneheliche Kind hat, lebt bei ihr, der nominelle Vater, der sie geheiratet hat, ist Pilger. Nie sind also Dostojewskis Gestalten ganz eindeutig festgelegt, weder die Väter noch der Erzähler, noch die Frauen.
Gleich widersprüchlich ist die Beziehung Arkadijs zu seinen Eltern. Einerseits verehrt er Werssiloff, andererseits hasst er ihn. Er kämpft um die Legitimität ihrer Ehe, konkurriert aber auch sowohl mit der Mutter um die Gunst des Vaters und mit dem Vater um die Gunst der Mutter. Weiterhin muss er auch mit dem Vater um die Frau kämpfen, die er liebt, für die er dazu auch noch viel zu jung ist. Eine Verbindung wirkt auf den Leser bereits von vorne herein unmöglich, dagegen eine Versöhnung zwischen ihr und Werssiloff schon eher, die nicht gelingt, vgl. den Dialog zwischen ihnen, der an Dostojewski und Suslowa erinnert.


* Autobiographische Bezüge:


Möglicherweise verarbeitete Dostojewski in diesem Werk neben der Beziehung zur „fatalen Geliebten“ auch die eigene Erfahrungen seiner Jugend- und Schulzeit an der Ingenieurschule. Gerade war seine Mutter gestorben, der sechzehnjährige Fjodor wird mit seinem Bruder Michail nach Petersburg geschickt, wo sich beide Brüder trennen müssen, da Michail den Anforderung gesundheitlich und körperlich nicht entsprach.
Fjodor war nun mutterseelenallein in der großen Stadt und verstand sich mit den älteren Schulkameraden kaum. Sie waren älter und er musste sich fügen, was seinem stolzen Wesen zuwiderlief. Im „Jüngling“ spricht Arkadij Makarowitsch ständig von einem „Gehäuse“, in das er sich zurückzieht. Ähnliches wird wohl auch Dostojewski selbst aufgebaut haben, um diese Zeit zu ertragen und zu verarbeiten.
Bekannt ist, dass Fjodors Vater ihm nur sehr wenig Geld schickte. Auch hier ließe sich eine Verbindung herstellen, wenn Arkadij Makarowitsch fastet und mit so wenig Geld wie möglich auskommen möchte, um sich selbst zu stärken und etwas zu beweisen.

Arkadij Makarowitsch demonstriert den ersten Anflug einer Umsetzung seiner Idee auch an der Rettung eines Säuglings, für den er sich einsetzt und dafür sorgt, dass er nicht ins Findelhaus kommt. Er zahlt der Frau, die ihn bei sich aufnimmt, bereitwillig acht Rubel von seinen Ersparnissen im Monat. Leider stirbt das Kind. Dostojewski hat, während des Schreibens am „Jüngling“, auch das Grab Sonjas in Genf besucht, seines ersten Kindes. Die Eindrücke und Erinnerungen an den Tod seiner Tochter finden sich in dieser Szene gespiegelt.



* Fazit:

Letztendlich ist und bleibt „Der Jüngling“ ein unterschätzter Roman, der durchaus viel Stoff zum Nachdenken bietet, jedoch eben nicht jene Tiefen erreicht, die Dostojewskis anderen großen Romanen eigen ist. Dennoch können jene Bekenntnisse Arkadijs nicht einfach gelesen werden und als chaotisch abgetan, die Menschen nicht in ihrer Krankheit „Menschsein“ unterschätzt werden. Ideen sind die Grundpfeiler dieses Romans, die sich alle verlaufen oder als fatal erweisen. Die Idee steht für Dostojewskis Kritik an der Jugend, die entweder den falschen Idealen nachläuft oder nicht einmal in der Lage ist, eine eigenständige zu entwickeln.
Die Jugend würde sich, seiner Ansicht nach, nicht auf selbsterfundene Ideen einstellen, sondern sich auf fertig vorgefundenen werfen, die dann eher gefährlich werden können. Die Jugend aber „ist schon darum rein, weil sie Jugend ist“, so die Worte im Roman. „Vielleicht sind diese so frühen Ausbrüche der Unvernunft eben nur Ausbrüche der Sehnsucht nach Ordnung und ein Suchen nach der Wahrheit“.
Wer aber, fragt Dostojewski weiter, sei schuld daran, dass „manche junge Menschen von heute diese Wahrheit und diese Ordnung in so dummen und lächerlichen Utopien zu sehen glauben, dass man gar nicht begreift, wie sie auf so etwas überhaupt hereinfallen können“?
Das ist die Frage, die nicht nur von Dostojewski, sondern vor jeder Veränderung gestellt wird, die das Altbewährte, das ängstlich erblickte Neue, den ewigen Kampf von Generation zu Generation sehr schön ins Auge fasst. Das sind die fatalen Begleitumstände jeder Rebellion, die sich in politische Machtansprüche kehren.
Darum hat Dostojewski hier auch Recht behalten, da sich vieles in ein gefräßiges Nichts verwandelte, als die Ideen zu Ideologien wurden, sich schließlich gegen den Menschen kehrten und ihn einfach überrollten.



* Anmerkung zum Schluss:
Dostojewski vermittelt seine Kritik und seine Sinnsuche immer durch den Mund seiner Figuren, so dass ihm vieles, was er durchaus nicht als eigene Überzeugung teilte, als diese ausgelegt wurde. Auch wird ihm von emanzipierten Frauen vorgeworfen, der Frau gegenüber „frauenverachtende Ignoranz“ an den Tag gelegt zu haben.
Natürlich vermittelte er auch seine eigenen Ideen und führte den Disput gegen das, was ihn beschäftigte und erschreckte. Seine Zeit ist in seinen Romanen eingefangen, ebenso das, was er dachte, wenn auch nicht immer eindeutig klar aus den Werken hervorgeht, zu welcher Lösung er selbst für sich gekommen ist, und schon gar nicht bezieht er Stellung. Dennoch ist vieles auch überbewertet worden, insbesondere in Hinblick auf die emanzipatorische Frage.

Manche Stellen in seinen Romanen, gerade auch im "Jüngling", verweisen auf das fatale Weib oder die sich demütigende Seele. Hier sollte allerdings der tatsächliche Aspekt nicht aus den Augen verloren werden, dass diese Figuren dem Roman als Sinnbild dienen. Die Einstellung z. B. des Jünglings gegenüber der Frau muss sich notgedrungen als eine Verkörperung des Sexus erweisen, da er selbst nach Macht strebt, durch die er sich eine Ersatzbefriedigung erhofft.

Auch die von Werssiloff aus Mitleid umworbene Ssonja, die sich seiner dennoch annimmt, als er wahnsinnig wird, ist nicht die unterwürfig gläubige, sich verschenkende Frau oder jene große russische Dulderin, der Dostojewski ein Denkmal setzen möchte, sondern, im Gegenteil, seine Kritik an einem eben solchen Verhalten. So sagt die Powerfrau Tatjana Pawlowna im „Jüngling“ zu Ssonja, sie würde sich wie ein Fisch verhalten und passiv alles hinnehmen. Damit würde sie ihre eigene Schwäche nicht nur fördern, sondern den Männern geradezu vermitteln, dies bei ihr vorauszusetzen und sie dementsprechend zu behandeln.
Eindeutig lässt sich hier herauslesen, dass Dostojewski durch seine Tatjana Pawlowna, die überhaupt für viele im Roman eintritt und die Moral verteidigt, vor jenem bestimmten Hang zur Demütigung und Unterwerfung warnt.

Das sind nur einige wenige Beispiele, wie sich die Frau in Dostojewskis Romanen ausnimmt. Häufig sind sie starke und selbstbewusste Typen, dem gegenüber platziert der Schriftsteller die gekränkten oder gefallenen. Keine aber ist seine Einstellung zur Frau. Sie dienen immer nur als Symbol.

 

 

 

© Annelie Jagenholz

 

 

(Alle Zitate sind der Gesamtausgabe von Zweitausendeins entnommen. Übersetzung von E. R. Rahsin)