Aufzeichnungen aus dem Untergrund
Hab mir Abenteuer ausgedacht und das Leben zurechtgedichtet, um doch wenigstens auf diese Weise zu leben.
Nach der Lektüre von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Untergrund" behauptete Nietzsche, der russische Romancier sei der einzige Psychologe gewesen, von dem er etwas gelernt habe, er gehöre insofern zu den schönsten Glücksfällen seines Lebens. Die Einsichten, die er dem russischen Autor verdankt (bzw. bei ihm bestätigt sieht), beziehen sich hauptsächlich auf die Frage nach der Genesis moralischer Wertungen. Vorab wird die Vermutung geäußert, dass dieser innere Monolog womöglich mit zusammengebissenen Zähnen verfasst wurde. Und das trifft es wohl auf den Punkt. Hier sehen wir einen ehemaligen Beamten, der sich ganz langsam in einen zornigen Angriff auf Mensch und Sein steigert. Meine Späßchen sind vielleicht etwas abgeschmackt, sind uneben, wirr und voll von Misstrauen gegen mich selbst. Aber das kommt doch daher, dass ich mich selbst nicht achte. Kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten? Solche Gedanken scheinen aus solchen Voraussetzungen zu ergehen:
"Der Genuss liegt hier gerade in dem allzu grellen Erkennen der eigenen Erniedrigung; entsteht daraus, dass man schon selbst fühlt, an der letzten Wand angelangt zu sein, dass es zwar scheußlich ist ,aber doch auch nicht anders sein kann; dass es für dich keinen Ausweg mehr gibt, dass du nie mehr ein anderer Mensch werden kannst …"
Aus diesem doch eher boshaften Blick auf sich selbst, entsteht auch ein allgemeiner Hass auf den Menschen. Er verweigert die eigene Veränderung von vorneherein, gibt die Macht, Herr über sich selbst zu sein, einfach ab, weil hier möglicherweise die Furcht besteht, dass die Änderung ins Nichts führt, weil er nicht weiß, in was er sich hier verändern soll. Von der Bosheit kommt der Erzähler zum Rachegefühl und projiziert dieses Riesenempfinden direkt in eine Maus, um die ganze Sinnlosigkeit solcher Gefühle zu demonstrieren, denn hier ist jemand, der nicht an seine ausgeführte Rache glaubt, sich aber in Gedanken so lange und ausführlich in seinen Hass hineinsteigert, dass er darüber letztendlich mehr leidet, als im eigentlichen Augenblick des Geschehens. Das sind für den Leser bekannte Gedanken.
"Es heißt: der Mensch rächt sich, weil er darin Gerechtigkeit sieht. Also hat er doch eine Grundlage gefunden, und zwar: die Gerechtigkeit. Also ist er allseitig beruhigt und folglich rächt er sich, da er überzeugt ist, eine anständige und gerechte Tat zu vollbringen, ruhig und mit gutem Erfolg. Ich jedoch sehe hierin keine Gerechtigkeit, und eine Tugend kann ich hierin erst recht nicht entdecken; wollte ich mich aber dann trotzdem noch rächen, so könnte es allenfalls aus Bosheit geschehen."
In Selbstzweifel verfallend vergleicht der Erzähler:
"Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang stolz darauf war, dass er sich auf Bordeauxweine verstand. Er hielt das für eine positive Würde und zweifelte nie an sich."
Mir scheint, dass der Berichtende hier in seiner Auseinandersetzung mit der Menschheit sich selbst sucht.
Und dann wird es interessant:
"Wissen Sie vielleicht, wer es zum ersten Male ausgesprochen hat, dass der Mensch nur deswegen Schändlichkeiten begehe, weil er seine wahren Interessen nicht kenne, und dass, wenn man ihm seine eigentlichen, normalen Interessen erklärte, er sofort aufhören würde, Schändlichkeiten zu begehen, denn einmal aufgeklärt über seinen Vorteil, würde er natürlich nur im Guten seinen Vorteil erkennen …"
Würde der Mensch nicht so orientierungslos durch die Welt irren, wäre sein Wissen um den Traum und auch die erkennbare Möglichkeit der Traumerfüllung vorhanden, würde es dann wirklich weniger Verbrechen, Frust und Hass in der Welt geben? Der Erzähler zweifelt hier ebenso:
"O reines, unschuldiges Kindlein! Wann ist es denn jemals in den vergangenen Jahren geschehen, dass der Mensch einzig und allein um des eigenen Vorteils willen seine Taten vollbracht hat? Was mit all diesen Millionen von Tatsachen anfangen, die da bezeugen, dass die Menschen wissentlich, das heißt bei voller Erkenntnis ihrer wirklichen Vorteile, diese doch zurücksetzten und sich auf einem anderen Weg begaben, aufs Gradewohl in die Gefahr, von niemandem und durch nichts dazu gezwungen, als hätten sie gerade die Vorteile verschmäht und eigenwillig und verstockt einen anderen, schweren unsinnigen Weg gesucht und nahezu im Dunkeln tappend?"
Henry Thomas Buckle behauptete, der Mensch werde durch die Kultur milder und folglich weniger blutdürstig und immer unfähiger zum Krieg. Der Erzähler glaubt hier an eine Theorie, die nur aus der Logik entstehen konnte.
"Der Mensch aber hat solch eine Vorliebe für das Systematisieren und die abstrakten Schlussfolgerungen, dass er bereit ist, die Wahrheit absichtlich zu entstellen, bereit, mit den Augen nicht zu sehen, mit den Ohren nicht zu hören, nur damit seine Logik recht behalte."
… und widerspricht heftig:
"Und was macht denn die Kultur milder in uns? Die Kultur arbeitet im Menschen nur die Vielschichtigkeit der Empfindungen aus… (…) Und gerade durch die Entwicklung dieser Vielseitigkeit wird der Mensch womöglich auch noch im Blutvergießen Genuss finden."
Wo zunächst der Erzähler von sich behauptet:
"… die Vernunft (…) ist und bleibt nur Vernunft und genügt nur dem Vernunftteil des Menschen; das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, das heißt des gesamten menschlichen Lebens, auch einschließlich der Vernunft, und in allen seinen Heimsuchungen. (…) Denn ich zum Beispiel will doch selbstverständlich leben, um meine ganze Lebenskraft zu befriedigen, nicht aber, um bloß meiner Vernunft Genüge zu tun, also irgendeinem zwanzigsten Teil meiner ganzen Lebenskraft. Was weiß schon die Vernunft? Die Vernunft weiß nur das, was sie bereits erfahren hat (…), die menschliche Natur jedoch handelt stets als Ganzes, mit allem, was in ihr ist, bewusst und unbewusst, und wenn sie auch flunkert, so lebt sie doch."
... wird er dann aber widersprüchlich, weil er die Vernunft über den eigenen Willen stellt. Er wertet den Menschen hier böse ab und behauptet, dass dieser "um das Recht zu haben, sich sogar das Dümmste zu wünschen", lieber auf die Pflicht verzichtet, "sich einzig und allein Kluges wünschen zu müssen"… Da staunt man nicht schlecht. Für ihn ist der Mensch = ein Wesen auf zwei Beinen, das undankbar ist. Schnell wird seine Auslegung verwirrend, besteht er auf die Vernunft noch vor dem freien Willen. Individualismus ist in seinen Augen überschätzt, der Mensch ist dumm, der Mensch ist schlecht und handelt alleine aus einem gemeinen, niederträchtigen Wesen heraus und um sich selbst zu beweisen, dass er im Recht ist, auch mal gegen die eigenen gesetzten Ziele. Ja, er würde sogar in Kauf nehmen, verrückt zu werden, nur um ja keine Vernunft mehr zu haben. Der Mensch muss sich also immer wieder beweisen, dass er ein Mensch ist. Dann räumt er ein, dass er vielleicht nur zähneknirschend scherzt. Schließlich bereinigt er seine Ansichten mit einer ganz wunderbaren Auseinandersetzung über den Menschen und seinen Fluch, ein Ziel haben zu müssen. Diese Gedanken sind so reich, dass ich sie hier im Gesamtbild festhalten möchte:
"Also gut: der Mensch ist ein vornehmlich schöpferisches Tier, das verurteilt ist, bewusst zu einem Ziel zu streben, und sich mit Ingenieurkunst zu befassen, das heißt sich ewig und ununterbrochen einen Weg zu bahnen, wenn auch einerlei wohin. Nun aber will er sich vielleicht gerade deswegen zuweilen aus dem Staube machen oder sich seitwärts in die Büsche schlagen, weil er dazu verurteilt ist, sich diesen Weg zu bahnen, und meinetwegen auch noch aus dem anderen Grunde, weil ihm, wie dumm der unmittelbare und tätige Mensch im allgemeinen auch sein mag, zuweilen doch der Gedanke kommt, dass dieser Weg, wie es sich erweist, fast immer einerlei wohin führt, und dass die Hauptsache durchaus nicht ist, wohin er führt, sondern, dass er überhaupt nur führt, auf dass sich das artige Kind nicht, die Ingenieurarbeit verschmähend, dem verderblichen Müßiggang ergebe, der, wie allgemein bekannt, der Vater aller Laster ist. Der Mensch liebt es, sich als Schöpfer zu erweisen und Wege zu bahnen, das ist unbestreitbar. Warum aber liebt er bis zur Leidenschaft ebenso Zerstörung und Chaos? (…) Liebt er Zerstörung und Chaos vielleicht deswegen so sehr (…), weil er sich instinktiv fürchtet, das Ziel zu erreichen und das zu erbauende Gebäude zu vollenden? (…) vielleicht liebt er dieses Gebäude nur aus der Entfernung, nicht aber in der Nähe? Vielleicht liebt er nur, es zu erschaffen, nicht aber in ihm zu leben (…) Der Mensch aber ist ein leichtsinniges und garstiges Geschöpf und liebt vielleicht gleich dem Schachspieler nur den Prozess des Strebens zum Ziel, nicht aber das Ziel an und für sich. … vielleicht liegt auch das ganze Erdenziel, zu dem die Menschheit strebt, nur in dieser ununterbrochenen Fortdauer des Strebens zum Ziel, mit anderen Worten: im Leben selbst, nicht aber im eigentlichen Ziel… Nehmen wir an, dass der Mensch nicht anderes tut, als (…) suchen, in diesem Suchen Ozeane überschwimmt, das Leben opfert, jedoch es zu finden, es wirklich zu finden, sich, bei Gott, gewissermaßen fürchtet. Er fühlt doch, dass ihm, wenn er es gefunden hat, nichts mehr zu suchen übrig bleiben wird."
Besser kann man es vielleicht gar nicht formulieren. Trotz allem erscheint der Erzähler hier wahrhaftig einem Kellerloch entsprungen, abgewandt von der Welt, der sich aus seiner Einsamkeit heraus in einem wütend gespuckten und gleichzeitig auch hilflosen Monolog über die Welt und die Menschheit verliert.
"Und warum sind Sie so fest, so feierlich überzeugt, dass ausschließlich das Normale und Praktische, mit einem Wort, dass nur das Wohlergehen für den Menschen vorteilhaft sei? Sollte sich die Vernunft nicht vielleicht doch täuschen in dem, was sie Vorteile nennt? Denn es wäre doch möglich, dass der Mensch nicht nur das Wohlergehen liebt! Vielleicht bringt ihm das Leid ebensoviel Gewinn wie das Wohlergehen? Und der Mensch liebt zuweilen wirklich das Leiden, bis zur Leidenschaft kann er es lieben, und das ist Tatsache."
Ja, das ist eine Tatsache. Es gibt viele, die sich in ihrem Leid suhlen. Dagegen ist es nicht verwunderlich, wenn der Mensch, der zur Bibel greift, hier schon erfährt, dass das Leid erlöst hat, dass im Leid die Erkenntnis liegt.
"Ich nehme Ihren ganzen Spott gerne hin, werde aber trotzdem nicht sagen, dass ich satt sei, wenn ich hungrig bin …"
"Im Gegenteil, ich wäre sogar gern bereit, mir aus lauter Dankbarkeit die Zunge ganz abschneiden zu lassen, wenn man mir dafür garantiert, dass ich dann niemals mehr wollen werde, sie noch herauszustrecken."
"Ohne ein reines Herz aber wird man niemals zu voller, rechter Erkenntnis gelangen."
Der Erzähler ist von einer erschreckenden Verachtung gegen sich selbst besessen und erhebt aus dieser Unsicherheit (diesem Spiel?) die kleinsten Ereignisse zu bösartigen Angriffen gegen sich selbst. So packt ihn ein Offizier ohne nachzudenken an den Schultern und schiebt ihn zur Seite, um an ihm vorbei zu kommen, und löst damit einen von nun an gut genährten Hass aus. Der Erzähler verfolgt den Unbekannten, erhebt sein Rachegefühl zum einzigen Lebensinhalt und steigert sich so sehr hinein, dass er entweder eine Entschuldigung benötigt oder sich auf der Stelle in einem Duell verlieren möchte. All das verfolgt er natürlich ebenso nur in der Überlegung.
Dass dieser Hass (diese Aufgabe) nur mit dem Entgegenkommen des Offiziers verlöschen kann, dem diese harmlose Geste nicht einmal aufgefallen ist, zeigt, dass der Erzähler keinen anderen Weg sieht, ja nahezu darum bettelt, endlich durch eine einfache Geste erlöst und befreit zu werden. Erfolgt diese Geste nicht, explodiert das Hineingesteigerte in gefährliche Unberechenbarkeit.
Weil es eine so große Belastung geworden ist, genügt eine Entschuldigung, um sofort ein Vergeben und Vergessen zu bewirken. Ja, es führt noch weiter, der Erzähler würde (beim Verständnis des anderen oder einem kleinen Entgegenkommen) sogar Freundschaft schließen.
Das Wesen des Erzählers wird hier deutlicher:
"… Dass heißt, ich spazierte dort durchaus nicht, sondern empfand bloß unzählige Qualen und Demütigungen und fühlte die ganze Zeit, wie mir die Galle überlief, aber wahrscheinlich brauchte ich gerade das."
Er empfindet Genuss in der Demütigung, im Erniedrigtwerden (ähnliche Züge entdeckt man an Dostojewski selbst), allerdings ist dieses aus seinem eigenen Denken erschaffen, nicht wirklich (also ein rein geistiger, innerer Prozess).
Das wird sichtbar in diesem Widerspruch, wenn der Erzähler sagt:
… dass ich vor diesen Menschen eine Fliege war, eine ganz gemeine, unnütze Fliege, wenn ich auch klüger war als alle, entwickelter, edler – das versteht sich von selbst – so doch eine ihnen allen fortwährend ausweichende Fliege, die von allen erniedrigt und von allen beleidigt wurde.
Das Selbstverachten ist ein Mittel für ihn, um sich in eine Form der Selbstmarter zu steigern, während er gleichzeitig seinen Geist hoch schätzt. Es ist ein Lustgefühl für ihn, sich klein zu machen und zwischen anderen die eigene Quälerei zu spüren. Er sagt bei der Verfolgung des Offiziers:
"… ich berauschte mich an meinem Hass, wenn ich ihn beobachtete …"
Er berauscht sich an seinem Hass wie auch an seiner Selbstverachtung.
Ob es nun Demut ist oder die Freude an der Demütigung, der Berichtende sucht Erlösung. Auch wird das besonders schön durch die Form seiner Rache sichtbar. Er beschließt, den Offizier, der ihn nicht kennt und nicht sieht, anzurempeln. Für diesen kleinen Akt, dessen Planung ihn in pure Euphorie versetzt, nimmt er einen riesigen Aufwand auf sich. So muss die richtige Kleiderwahl getroffen werden, wofür er sich ein ganzes Monatsgehalt auszahlen lässt, denn wenn er seine Rache schon auf diese Weise ausführt, muss alles auf "höherer Ebene" geschehen, also perfekt verlaufen. Da das Geld nicht ausreicht, muss er den Rest borgen (man bedenke, wofür das alles!!!). Dieses Geldleihen wird zur nächsten Tortour, zu einer "schmachvollen" und "quälenden" Angelegenheit, zudem bei einem "positiven Menschen", der nie Geld verleiht. (Fast erscheint es, als ob sich der Erzähler ganz absichtlich immer neue Schwierigkeitsgrade setzt, um das "Spiel", das Ereignis ganz und gar und in voller Wucht auskosten zu können, wobei die Vorbereitung den eigentlichen Akt ausmacht, da man hierbei nicht vergessen darf, dass es sich um ein fiktives Ziel handelt, das er überdramatisiert.) Schließlich ist alles vorbereitet, doch gerade jetzt verlässt den armen Burschen der Mut. (Das ist auch kein Wunder, wenn man eine Sache so krampfhaft beschließt und der ganze zittrige Gedanke darauf ausgerichtet ist.) Kurz vor dem besagten und "erkrampft" erhofften (und so mühsam ausgearbeiteten) Zusammenprall ändert er sein Vorhaben, während der Offizier ahnungslos und stolz an ihm vorübergeht. (Hier sieht man auch, wie sehr sich die verschiedenen Ebenen und Perspektiven unterscheiden. Der eine leidet, der andere nimmt es nicht einmal wahr, würde vielleicht ganz anders reagieren, wenn Verständnis vorhanden wäre.) Und erst, als er endlich seine Rache fallenlässt, einfach beschließt aufzugeben, gelingt das Unternehmen, freilich, ohne dass der Unbekannte so richtig Notiz davon genommen hätte. Aber, das genügt. Der Protagonist kann sich nun mit Freude einreden, dass der Offizier nur so getan hat, als ob er nichts mitbekommen hat, auch das ist ein nährender Gedanke, und es stört ihn somit keinesfalls, dass er bei diesem Stoß schlechter davon gekommen ist und mehr Schmerz erlitten hat. Das Ziel ist erreicht, die überaus frag"würdig"e Würde gerettet. Dostojewski versteht es hier ganz phantastisch, diese Sinnlosigkeit der Rache in ein Gefühl und Ereignis zu packen. Ebenso die kleinen Zugeständnisse, die sich ein von Rache erfüllter Mensch macht, wenn sein Unternehmen misslingt. Solch ein "Leben" lässt sich nur mit der Phantasie aufrecht erhalten, die oben schon erwähnte Flucht in das "Schöne und Erhabene", dass egal welche kleine Rolle man in der Wirklichkeit spielt, die Rolle in Gedanken mächtig und strahlend ist.
"Entweder Held oder Schmutz, eine Mitte gab's nicht. Das war's ja, was mich verdarb, denn im Schmutz beruhigte ich mich damit, dass ich zu anderen Zeiten wiederum Held war, der Held aber den Schmutz zur Null macht."
... ein "edles Schlupfloch" vor der Gewöhnlichkeit und dem Alltäglichen. Auch so kann man sich eine Bedeutung verschaffen, sicherlich nur als Illusion und darum nicht erfüllend genug. Es erscheint mir überhaupt, dass darin Dostojewskis Absicht lag, zu verdeutlichen, wie ein Mensch, der seine Handlung durch das Phantasieren ersetzt, völlig egal, ob im Sinne einer Rache oder einer Liebe, seiner Vernunft und dem wirklichen Leben allmählich entgleitet. Im Traum zu lieben, ohne je wirklich geliebt zu haben, in Traum eine Genugtuung zu planen, ohne sie je in diesem Ausmaß zu erfahren, ersetzt das Gefühl durch eine Vorstellung des Gefühls und kann somit keine langanhaltende Befriedigung bewirken. Aus dem Kellerloch, der Vereinsamung, dem Rückzug vor der Welt, gerät ein Mensch in ein abstraktes Denken von der Welt. Das alles muss sich dann auch in einen Aufschrei gegen die Welt entladen. Und das versinnbildlicht in meinen Augen der hier geführte innere Monolog, der in seinemVerlauf unerhört bleibt und damit genau das darstellt, was er im Schrei beinhaltet. Er ist nur Ersatz für den echten Aufruf.
Ganz erschütternd ist gegen Ende die Erzählung der Zusammenkunft mit den ehemaligen Schulfreunden, die der Erzähler so sehr verachtet und die ihn durch seine eigene Verachtung ebenso wenig schätzen. Hier artet dieses Traumgebilde, diese „verkehrte Welt“ in ein Dilemma aus, was letztendlich bewirkt, dass der Protagonist sich so sehr in seiner Wut verfängt, dass er schon fast ohnmächtig beschließt, bis zum bitteren Ende gehen zu müssen (selbst eine Verbannung nach Sibirien in Kauf nimmt), um sich darüber dann sein ganzes Versagen zu erklären und vor allen Dingen dann auch vor den anderen Menschen zu rechtfertigen. Durch diesen ganzen Irrsinn, den der Protagonist sich hier auflädt, indem er sich selbst einer für alle so unangenehmen Situation ausliefert, sich aufdrängt, wird das ganze Lesen zur Anspannung. Der eigene Wille verliert sich zum unaufhaltsamen Trieb, der durch nichts und niemanden gebremst werden kann und sich dabei doch nur aus dieser grausamen Einsamkeit nährt. Im Gespräch mit der Prostituieren, die der Erzähler wieder auf den rechten Weg bringen möchte, wird diese „Romantik“ deutlich, in der er lebt. Seine Rede ist aufrichtig und wahrhaft, trotzdem fürchtet er sich danach, dass er hier erfolgreich war, das Mädchen überzeugt hat und sie ihn schließlich in seiner Wohnung aufsucht, wo er vom romantischen Helden, der ihre Seele gerettet hat, zum armen Mann in der Kellerwohnung schrumpft. Sein Griff aus der Phantasie eines angewandten edlen Herzens verlischt in der Wirklichkeit. Mit echten Tatsachen konfrontiert sagt der Erzähler:
"Das „lebendige Leben“ bedrückte mich aus Ungewohntheit dermaßen, dass ich nach Atem rang."
Und er verallgemeinert auch, denn in seinen Augen zieht der Mensch eine fiktive Phantasiewelt immer dem echten Leben vor.
"Denn wir haben uns doch alle vom Leben entwöhnt, alle lahmen wir, ein jeder mehr oder weniger. (...) Sind wir doch sogar schon so weit gekommen, dass wir das wirkliche "lebendige Leben" für Mühe, für eine Last, beinahe für Frondienst halten, und im geheimen sind wir uns vollkommen einig, dass es besser ist, literarisch zu sein."
Der Mensch ist nicht fähig, seine eigene "Macht" zu erkennen:
"So blicken Sie doch aufmerksamer hin! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt lebt, was es eigentlich ist (...) Man versuche es doch: lasst uns allein, nehmt uns die Bücher, und wir würden uns sofort verlieren und verirren, würden nicht wissen, an wen uns anschließen, an was uns halten, was lieben und was hassen, was hochachten und was verachten. Es ist uns ja sogar schon lästig, Menschen zu sein, Menschen mit wirklichem, eigenem Leib und Blut; wir schämen uns dessen, halten es für Schande und drängen uns dazu, irgendwelche noch nie dagewesenen Allmenschen zu sein."
Kein Wunder, dass man nach solchen Sätzen Dostojewski mit gefurchter Stirn zu schätzen lernt. Was mich ein bisschen wundert, ist, dass Nietzsche aus dieser Schrift so viel Nutzen gezogen hat. Ist ihm der "Aufschrei" des Menschen aus dem Untergrund, der am Ende sagt: Ich mag nicht mehr aus dem Untergrund schreiben! entgangen? Oder hat er genau diese Art zu denken auf den allgemeinen Menschen projiziert? Der Allmensch, zu dem sich der Mensch erhebt, wo er sich in Gedanken zum "perfekten" über alles stehenden, mächtigen Menschen macht, während er in der Wirklichkeit versagt, erinnert mich stark an den Übermenschen, den Nietzsche später entwickelt. Dabei betont Dostojewski doch gerade in den "Brüdern Karamsow", genauer im "Großinquisitor", dass die Menschen eben nicht alle Heilige oder Übermenschen sein können, dass man von einigen wenigen niemals auf alle schließen kann. So wie Nietzsche Stärke voraussetzt, weil er selbst aus der Krankheit und den Schmerzen heraus stark war und dagegen ankämpfte, dies auf alle verallgemeinerte (seine Wunschvorstellung vom Übermenschen), sagte auch Jesus im "Großinquisitor", dass der Mensch selbst glauben muss, weil es einige wenige gab, die der Führung nicht bedurften. Ich aber verstehe Dostojewski hier so, dass der ganze Charakter dieser Erzählung, - dieser Beichte, seine Grausamkeit nur durch seinen Rückzug vor der Welt entwickelt, durch den er dann unsicher wird (siehe den Zusammenbruch vor dem gefallenen und wieder auferstandenen Mädchen Lisa), und dass dieser Rückzug nur in der Phantasie ertragbar geworden ist, wobei sich das "lebendige", also echte Leben neben dieser Welt langsam verliert. Wird der Mensch dann trotzdem mit der Wirklichkeit konfrontiert, entwickelt er aus der Unsicherheit Aggressionen, wird grausam. Wenn die echte Welt also durch eine Traumwelt abgelöst wird, verkommt diese allmählich, weil der Mensch hier nur "erfüllt" (ohne Liebe zum Leben, eher wie eine Pflicht), während er die Phantasie immer vorzieht, weil er sie kontrollieren kann, weil sie einfacher und angenehmer ist, als die Wirklichkeit. Wo er hier Held ist, versagt er aus Angst im echten Leben. Die Grundaussage bleibt: Statt die Welt zu verbessern, klagen wir sie an und ergreifen die Flucht. Wen sollte es dann noch wundern, wenn darüber das echte Leben zur Last gerät. Wir erheben uns lieber zu einem Ideal in einem Traum, in unseren Vorstellungen, als "lebendig" in der Welt nach den eigenen Idealen zu handeln. Der Übermensch aber ist nichts anderes als ein erdachtes Ideal, welches der Erzähler in diesen Aufzeichnungen doch gerade anprangert. "Die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" sind sehr gelungen und beklemmend erzählt. Dieser kleine Roman hinterlässt viel Raum zum Nachdenken.
(Alle Dostojewski-Zitate stammen aus der Gesamtausgabe von Zweitausendeins.)
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