Teil 5
Unter der Brücke, auf der wir stehen, fährt auf einmal ein riesiges Schiff hindurch, das aussieht, als würde es eines dieser großen Rundfahrtschiffe sein. Ich finde, sie sind etwas spät dran, zudem wundere ich mich, da ich noch am Vormittag erfahren habe, dass am heutigen Tag keine Schiffstouren mehr stattfinden. Sowohl das Jazz-Schiff, wie auch die Fahrten nach Puschkin fallen ins Wasser. Ich hatte wirklich Glück, mich für den Katharinenpalast mit seinem Bernsteinzimmer noch rechtzeitig entschlossen zu haben. Einen Tag nach mir wurden der Park und der Palast für zwei Wochen geschlossen.
Auf dem unter mir langsam dahin gleitenden Schiff erkennt man wuselnde Bewegungen von in weißem Hemd und schwarzer Hose gekleideten Personen, die mir wie Kellner erscheinen. Es sind etliche und ihre Handlung ist hektisch. Sie rennen rein und raus, springen über die Balustraden und Geländer, lassen Eimer ins Wasser und ziehen diesen wieder hinauf, um das Deck zu säubern. Das Schiff platziert sich genau vor unseren Augen, so dass wir im Scherz sagen, dass es uns in dieser Weise noch die Aussicht versperren wird.
(Newa)
Rechts von ihm liegen zwei Anlegestellen, und nachdem das Schiff sich mehrfach verschieden platziert hat, kommt in mir der Verdacht auf, dass der Kapitän das Anlegen nicht allzu gut beherrscht. Das Schiff kommt und kommt nicht voran, sondern schwankt leicht hin und her, eine halbe Stunde vergeht, ohne dass etwas passiert oder auch nur eine der Anlegestellen erreicht ist. Als ich mich kurz umdrehe, sehe ich, dass sich hinter uns, die wir am Geländer stehen, mehrere Reihen an Menschen gebildet haben. Ich bin überrascht, wie viele es auf einmal sind, wie schnell sie sich ohne mein Bemerken versammelt haben. „Nicht die erste, aber wenigstens die zweite Reihe!“ sagen zwei kichernde Mädchen hinter mir, die sich abwechselnd fotografieren und laut aufquietschen, als sie die digitalen Bilder betrachten. Zwei weitere, deren Alter ich überhaupt nicht einschätzen kann, da sie sehr jung aussehen, aber miteinander unbeschreiblich erwachsen reden, fragen, ob es möglich wäre, neben mir am Geländer zu stehen. Ich sage: „Selbstverstä
ndlich!“, wir rücken alle leicht zusammen, irgendeiner knurrt nicht weit von meinem Ohr entfernt, bis beide Mädchen sich in die winzige, kurz gebildete Lücke am Geländer quetschen. So stehen wir, etwas gedrängter. Alle reden wild durcheinander. Ich muss nun mein Bein durch das Geländer schieben, um es etwas zu entlasten, um mir gleichzeitig in dieser Form Halt zu verschaffen. Die Menge schwankt leicht hin und her, und kaum habe ich mich versehen, bin ich bereits einige Zentimeter nach links geschoben. Danach entlaste ich auch das andere Bein, denn irgendwie spüre ich meinen Unterleib kaum noch. Ich bitte inständig darum, dass sich diese unbequeme Warterei lohnen wird, blicke auf die Uhr und muss mit Schrecken feststellen, dass der Zeiger kaum vorankommt. An das große Schiff vor uns legt gerade ein kleineres an, zwei Uniformierte steigen von einem Schiff ins andere. Irgendetwas Eigenartiges geht dort unten vor, ich kann nicht sagen, dass es wirklich langweilig ist, hier zu stehen. Man schwankt in der Mengenwoge und überlässt sich seinen Gedanken
. Nach einigen Minuten fährt ein erstes, größeres Boot vor. Dort stehen steif mehrere Sicherheitsbeamte, dazwischen ein Mann im Anzug. Ich fixiere meinen Blick, um so viel wie möglich zu erkennen. Hier scheint tatsächlich etwas im Gange zu sein, das doch größere Ausmaße annimmt. Das Schiff ist nahe, jedoch zu weit entfernt, um alles exakt zu erkennen, doch bald merke ich, dass es gar nicht vorhat, an die Anlegestellen zu finden. Es soll also direkt in unserer Sicht, so nahe wie möglich an der Route des Segelschiffes platziert werden, das Schwanken ist lediglich der Wellengang.
Schon ahne ich, dass dort wohl die russische Elite vorfährt, der wahre Reichtum, die Dekadenz. Der Mann im Anzug wird vorsichtig herübergeleitet, am Arm gepackt und verschwindet sofort im Inneren des Schiffes. Das Boot mit den Sicherheitsleuten legt wieder ab und fährt davon. Gleich darauf fährt ein weiteres, gleicher Sorte, heran, der Ablauf wiederholt sich wie ein zurückgespulter Film, diesmal mit einem Mann und zwei ihn begleitenden Frauen, die eilig in das Innere des Schiffes geleitet werden. So wird dieses Schiff nun mehrfach mit Leuten bestückt und bevölkert, insgesamt sind es wohl an die fünfzehn Mann (Frau), die wohlgenährt und gut gekleidet, von Sicherheitspersonal mit grimmiger Haltung umringt, das Schiff betreten und sich gegenseitig begrüßen. Die Kellnerschaft verneigt sich leicht, Hände werden geschüttelt. Das erscheint mir dann doch etwas übertrieben. Man erkennt nun zwei dieser Männer im Anzug, die ein Schnellboot besteigen und mit rasender Geschwindigkeit einige Runden auf dem Wasser drehen, apr
ubt abbremsen, wenden und wieder Gas geben. Im Hintergrund wird der Fluss für alle anderen Wasserfahrzeuge gesperrt, so dass nur noch Polizeiboote, das gewaltige Schiff der Elite und das Schnellboot zu sehen sind, das seine Show vollführt, nicht für uns, die Zuschauer, sondern, weil da jemand sein neues Rennboot ausprobieren will. Einen ganzen Fluss hat man vielleicht auch nicht jeden Tag so einfach zu seiner freien Verfügung. Etwas Wind kommt auf. Die Fahnen schlagen lärmend um den Mast. Ich ziehe lieber meine Jacke an, obwohl es nicht kalt ist. Jemand hinter mir tuschelt, dass es heute noch regnen soll, beschwichtigt sofort: "Es soll regnen, aber nur kurz." Ich hoffe inständig, dass die Wolken sich wieder verziehen. Immernoch ist es sehr hell. Man kann sich nicht vorstellen, dass es bereits kurz vor 23 Uhr ist.
Nicht weit von der Brücke entfernt entdecke ich auf einmal ein aus dem Nichts getauchtes Boot, das sich trotz der Sperre zwischen Polizeibooten hindurchgeschummelt hat. Sofort ertönt ein ohrenbetäubendes Signal, mehrere Polizeiboote umkreisen es, diskutieren und lassen das Boot nicht zurückfa
hren oder leiten es hinaus, sondern nehmen die Menschen, die sich auf dem Boot befinden, gnadenlos fest. Wir sehen, wie sie mit auf den Rücken gebundenen Armen von einem Boot ins andere steigen müssen, und man fragt sich, was sie sich dabei gedacht haben, ob sie leicht dümmlich wären oder es vielleicht doch einfach nur ein Zufall war. Mir wird dabei leicht schummrig im Magen. Diese plötzliche Aktion verstimmt mich nicht, sondern weckt lediglich einen leichten Schauer. Da stehe ich also direkt dabei, bin direkt am Geschehen, was man sonst nur in den Medien am Bildschirm verfolgt. Seitlich von mir erklingen plötzlich laut gebrüllte Rufe. Ich blicke in die Richtung und sehe, wie die Menschen Schritt für Schritt zurückdrängen. In der dadurch langsam entstehenden Öffnung schreiten in ernster Haltung Uniformierte voran, jene OMON-Truppe von Putin, den Knüppel bereit, die andere Hand an der Waffe. Sie tragen Schutzhelme, wie man sie ab und an bei Demonstrationen gegen Steinschläge erlebt, und wirken durch ihren stampfenden Schritt, dem riesigen Helm und grimmigen Blick wie Marsmenschen. Ihre Kleidung besteht aus einer Tarnuniform in Grau- und Blautönen und bei so manchem dieser kleinen und großen Wichte rutscht der Helm ungünstig ins Gesicht, der dann mit der Hand wieder hochgeschoben wird. Sie verziehen keine Miene, brüllen nur alle paar Meter, dass alle einige Schritte zurücktreten sollen. Vorsichtig bewegen sich die Menschen nach hinten. Sie laufen hindurch, Mann für Mann, drohen mit ihrer Bewaffnung. Ich bin zum Sprung bereit, um wieder an das Geländer mit guter Aussicht zurückzukehren, ich finde, ich habe einfach zu lange gewartet, um mir meinen guten Platz durch derlei unnötige Aufregung und Forderung nehmen zu lassen, doch nach dem Schlägertrupp folgt auch schon die normale Miliz.
„Zurück!“ schreien sie. „Weiter zurück.“ Wir fragen, wohin wir noch sollen. Bis zum Geländer ist nun mindestens ein Meter Platz. „Zurück, bis hinter die Bordsteinkante!“ ruft einer der Polizisten. Sie stellen sich ungefähr fünf Meter voneinander auf und werfen uns, die wir zurückweichen, hasserfüllte Blicke zu. Und doch herrscht in ihrer Mimik eine überdimensionale und in allen Falten liegende Gewohnheit. Wenn ich solche Gesichter sehe, dann ahne ich die gesamte Ausbildung im Drill. Noch nie sah ich so viel Hass, so viel Grausamkeit, so viel Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen und, vor allen Dingen, gegenüber den Menschen, wie in diesem einen Gesicht des Miliztypen, der sich genau vor uns aufbaut. Ein leicht korpulenter, jedoch noch so junger Mensch, der gnadenlos mit dem Stock droht, unter dessen gut gebürsteter Mütze wohl ein scharf gezogener Scheitel liegen musste. Die so benannte Bordsteinkante ist eine hohe, abgerundete Stein
erhöhung, etwa siebzig Zentimeter hoch. Wir weichen immernoch zurück, durch die Masse der Menschen geht alles nur langsam und taumelnd. Man hat auch keinerlei Möglichkeit, sich zu widersetzen oder eine eigene Richtung zu bestimmen. Schon fällt ein Kind mit dem Bein in ein tiefes Loch und beginnt zu weinen. Mitten zwischen den Steinerhöhungen sieht man es mit dem gesamten Körper nach unten sinken, bis hilfreiche Arme es packen und wieder hinaufziehen. Das Bein blutet, und der Junge wird über die Köpfe der Menschen hinweg davongetragen. Ein Eisenpfeiler fehlte, so dass in der Straße tatsächlich ein Loch klaffte. Auch ich steige nun rückwärts über den hohen Bordstein, versuche dabei, den Halt nicht zu verlieren, einen Bordstein, den ich auch nur so nenne, weil er als hoher Stein eigentlich nur den Fußgängerweg von der Straße trennt. Hier fahren normalerweise Autos, doch da alles abgesperrt ist, stehen nun wir auf der Straße, während der Fußgängerweg, der etwas mehr als zwei Meter lang ist, völlig leer ist, lediglich durch die im Abstand zueinander stehenden Polizisten und der Presseleute, die immernoch am Geländer in jener Ausbuchtung der Brücke ihre Gerätschaft prüfen, belagert wird. Flüche ertönen, die aber nur bedacht ausgestoßen werden.
(Zwischen (links) dem Geländer der Brücke und (rechts) den Menschen erkennt man die in ihrem Abstand zueinander stehenden Polizisten in ihrer steifen Haltung.)
Für jeden Meter Menschenhaufen ist ein Polizist zuständig, der die Aufsicht hat, dass alles Ruhe und Ordnung bewahrt. Immernoch überrascht mich mal wieder die Genügsamkeit der Menschen, die zwar stöhnen und sich leise beschweren, die aber ihre Fassung trotz ihrer leichten Trunkenheit nicht verlieren. Wendet sich jemand an einen der Polizisten, dann wird höflich erst einmal um Entschuldigung gebeten und gefragt, ob er bitte sagen könne, wann es denn nun endlich losgeht. Die Milizantwort
lautet auf jede Frage im gleichen Standartsatz. „Ich kann es Ihnen nicht sagen!“ Dieser Satz staubt trocken aus zusammengekniffenen Lippen. Nur ab und an wechselt so einer die Worte und schreit: „Treten Sie wieder zurück! Ich sage, zurücktreten.“ und schwingt dabei seinen Stock, im Sprung bereit, sich auf die bösartigen Bordsteinüberschreiter zu stürzen, die vom Druck der Menge darübergestolpert sind. Ich beobachte diesen Miliz-Typen, der auch noch direkt vor mir steht, mir die Sicht nimmt, bin erschüttert über so ein Verhalten, dieses "über Leichen hinweg". Sicherheit, na gut, vielleicht wird all das gemacht, damit niemand gegen das Geländer gedrückt wird und ins Wasser fällt. Aber die Menschen scheinen alle selbst überrascht, so dass diese Behandlung doch eher mit dem unten liegenden Schiff zu tun haben muss. Auch sehe ich inmitten all dieser Köpfe und Körper kein einziges rotes Kreuz, dafür etliche Uniformen. Der Polizist steht steif und mit bewegungslosem, hasserfülltem Gesicht. Der Knüppel ist mit weiß geknöchelter Hand gepackt. Seine Augen schweifen mechanisch über die Köpfe. Sobald ein Mensch oder, was häufiger geschieht, ein Kind über die Steinerhöhung klettert, wird es böse fixiert und zurückgetrieben. Dabei ist völlig egal, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt. Sobald dieser Bordstein überstiegen wird, weil die Menge von hinten drückt, fixiert der Polizist die Bewegung und zählt wohl die Sekunden, bevor er handeln wird.
Hinter ihm schreiten seine Vorgesetzten vorüber. Meine Knie werden unsanft gegen den Stein gestoßen, ich drücke mit dem Hintern die weiche Menschenmasse wieder zurück, kenne da keine Skrupel. Ich bin völlig fassungslos und fühle die Woge an Bäuchen in meinem Rücken. Eine unerträgliche Hitze breitet sich durch die Massen aus. Jetzt, so dermaßen zusammengefercht, während vor uns zwei Meter Platz bis zum Geländer ist, stehen wir eng aneinander und rauben uns fast gegenseitig den Atem. Mittlerweile ist es kurz vor Mitternacht. Das Segelschiff lässt auf sich warten. Erste Versuche werden gestartet, Lichter geschaltet. Mein Interesse bleibt bei diesem Roboter, diesem steif dastehenden Polizisten, bei dem ich mir versuche auszumalen, wie er aussehen könnte, wenn er lächelt. Die Vorstellung ist unmöglich. Er starrt in die Menge und reagiert lediglich, wenn jemand wagt, den hohen Stein zu übertreten. Ansonsten steht er wie in Stein gehauen. Allmählich kann ich mich kaum noch aufrechthalten. Neben mir stehen zwei Betrunkene und machen sich über die Situation lustig. Sie bieten reihum Schnaps aus kleiner Flasche an. Dankend lehne ich ab, sehe aber einige Menschen einen Schluck daraus nehmen. Dahinter steht ein anderes Ehepaar, wobei der Mann seine Frau anjammert: „Was machen wir hier? Was soll das ganze Theater? Waru
m gehen wir nicht einfach?“ Sie schüttelt den Kopf und sieht ihn streng, dann bittend an. Ihr Gesicht wechselt von Freude zu Leid. Sie will dieses Segelschiff unbedingt erleben, wie die meisten hier in ihrer Geduld. Er zuckt mit den Schultern und blickt um sich, während sein Atem mir ins Gesicht schlägt, so dass ich den Kopf abwenden muss. Ich teile seine Ansicht, wäre gerne geflohen, doch sobald ich hinter mich blicke, treffe ich auf die unerschütterliche Wand an Körpern, die undurchdringbar ist. Sie steht, als wäre sie in diese Brückenstraße gepresst und könnte ihre Form erst lösen, wenn alles vorbei ist. Mensch an Mensch, Stimmen und Gespräche, darüber ein hellblauer Himmel, der sich ganz allmählich leicht verändert. Ich stöhne und seufze mit all den anderen, jeder Knochen im Leib singt sein eigenes, tragisches Lied. Als ich mich wieder zurückdrehe, wird es kaum besser, dort treffe ich auf das Töten wollende Gesicht der Miliz. Schließlich kann ich nicht mehr und setze mich einfach auf die oberhalb leicht abgerundete Kante des Bordsteins. Einige Menschen handhaben es genauso. Die Zeit verri
nnt und nichts geschieht. Die Entlastung der Beine tut gut. Als ich sitze, dampft mir die Hitze der stehenden Menge ins Gesicht. Obwohl die Luft etwas abgekühlt ist, friert man nicht in diesem Sumpf an Menschen. Die Russen haben auch ein Sprichwort, das lautet: Das Herz - bei dem einen ein Meer, bei dem anderen - ein Sumpf. Und diese geduldigen Menschen, die hier auf das immer weiter weg verschobene Ereignis warten, wachsen mir mit dem eigenen Schmerz im Leib ans Herz. Ich frage mich, was so lange dauert, ob das Schiff einen Schaden hat oder die Feuerwerkskörper nicht richtig funktionieren. Irgendetwas Unvorhergesehenes musste diesen ganzen Ablauf bedeutungsvoll verzögern. Gebannt starre ich auf die Newa, auf die weit entfernt liegenden anderen Brücken, suche den Horizont ab, ob ich darauf vielleicht einen roten Funken entdecke. Kinder toben jetzt nicht mehr herum, sondern stehen müde an die Beine ihrer Eltern gelehnt. Mittlerweile ist es fast ein Uhr. An der Peter und Paul-Festung wird Licht geschaltet, wechselt aus dem Blau in ein Gelb in ein Rot. Auf den beiden roten Säulen werden Flammen gezündet. Die Helligkeit wechselt in eine leichte Dämmerung. Man ist dieses Wechsels aber schnell wieder überdrüssig, da die Zeit scheinbar er
neut irgendwie stehengeblieben ist, nichts weiter passiert. Nun versuche ich wieder die Ereignisse auf dem Schiff auszumachen und stelle mit Erstaunen fest, dass dort genüsslich gespeist wird. Man kann ungenau ins Innere sehen, sieht Silhouetten und Schatten. Ich wage es kaum zu denken, aber eine Unruhe jagt mir durch den Körper, auf einmal stellt sich mir ein Gedanke ganz klar vor Augen: die Verzögerung der Segelschiffsfahrt musste irgendwie mit diesen speisenden Leuten zu tun haben. Und als hätten meine Gedanken den Ablauf neu gestaltet, kommt auf dem letzten Drücker ein weiteres Boot mit Sicherheitspersonal heran, wohl ein Verspäteter, der wiederum, wie alle anderen vor ihm, auf das große Schiff gehievt wird
(Hier erkennt man das Schiff River Palast und links eines der Securityboote, wobei die Sicherheitsleute gerade jemanden hinüberschleusen.)
Und ich denke mir: Warten wir alle etwa auf ihn? Wartet eine ganze Stadt tatsächlich darauf, dass die Herrschaften dort unten gespeist haben und satt genug sind, um dem Spektakel in aller Ruhe ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen? Wenn das tatsächlich der Fall ist, so überlege ich weiter, dann handelt es sich bei den Menschen dort unten nicht um bloß reiche Leute mit genügend Kapital, um auf einem Schiff nahe genug die Aussicht zu genießen. Dann musste es sich um weitaus höhere Tiere und einflussreichere Menschen handeln, und welche waren das wohl in Russland, als die Politiker selbst. Wer auch anderes konnte das Vorgehen einer ganzen Stadt abbremsen? In St. Petersburg tagte, wie ich am Vortag durch einen Taxifahrer erfahren hatte, gerade ein ökonomisches Forum, wo mehrere Abgeordnete aus ganz Russland zusammentrafen. Waren sie es, die den ganzen Ablauf verschoben? Doch, was war ein Forum? Fünfzehn Mann waren dafür einfach eine zu kleine Anzahl an Menschen. Auch die Miliz vor der Menge kann nichts Genaueres wissen, sich die enorme Verschleppung an Zeit nicht erklären, dessen bin ich mir jetzt fast sicher, darum können sie auch keine konkrete Antwort geben. Sie haben ihre Befehle, und diese lauten: Stehen und für Ruhe sorgen.
Gerade tritt der Polizist vor mir von einem Bein auf das andere, gibt damit irgendwie ein winziges Detail seiner selbst preis. Vielleicht hat auch er nicht mit dieser langen Nacht, mit dieser so starken Verzögerung der Show gerechnet.
Ich werfe einen genervten Blick auf die Straße vor der Eremitage. Vom Vorplatz des Winterpalastes sieht man Scharen an Schülern und Studenten laufen. Zehntausende an Köpfen mache ich aus, die wie eine gewaltige Masse aus den Nebenstraßen, Plätzen und Parkanlagen quellen und sich an der unteren Brüstung zur Newa hin sammeln. Dort stehen nun auch sie und warten auf das Segelschiff, während sie eigentlich feiern könnten. Im Hintergrund findet immernoch ein Konzert statt, von dem leise Töne zu uns herüber dringen, doch zu leise, um uns alle tatsächlich zu unterhalten. Die Musik stammt von dem Popstar Dima Bilan, dem Gewinner des Eurovision Song Contests 2008. Auch gibt es dazu einen Auftritt des Cirque Du Soleil. All das verpassen wir, hätten es auch verpasst, wenn wir nicht auf der Brücke stehen würden. Denn der Zutritt zum Vorplatz ist, wie schon berichtet, für normal Sterbliche gesperrt.
Endlich nehme ich eine neue Bewegung auf dem Schiff wahr. Die Herrschaften wandern soeben nach oben an Deck. Ein kleines Polizeischiff fährt heran, man sieht, wie sich mehrere Gestalten einander zubeugen, etwas tuscheln, und das Schiff wieder davon düst. Im Hintergrund gehen weitere Lichter an der gegenüberliegenden Brücke an, eine rote Leuchtkugel wird in den Himmel geschossen. Ein bisschen Brot gegen die Ungeduld, die kurz Hoffnung weckt. Ich erhebe mich wieder, ein Schmerz zischt mir durch den Rücken. Ich werde sofort nach vorne gedrückt, dass meine Knie erneut an den harten Stein prallen. Der betrunkene Mann mit seiner Frau spricht nun in heulendem und leicht lallendem Ton zu ihr, während alle anderen leise murren, jedoch standhaft weiter warten. Irgendjemand hinter mir erklärt, dass letztes Jahr alles zeitgenau klappte. Man wundert sich allgemein über diese absurde Verzögerung. Ich stelle mir all die Familien vor, die gleich nach der Arbeit mit ihren Kindern zur Newa geströmt sind und nun, da es bereits fast zwei Uhr morgens ist, die letzte Metro um Mitternacht verpasst haben. Wie würden sie nach Hause kommen, wenn alle Straßen abgesperrt, nirgendwo ein Auto fährt? Ich will mir gar nicht ausmalen, wie ich selbst nach Hause finden soll. Die Erschöpfung schleicht sich durch jeden Knochen, ich stoße auf Deutsch einen Fluch aus und schimpfe ein bisschen vor mich hin. Der betrunkene Mann blickt mich jetzt an, blickt sehr lange, bis er vorsichtig fragt, woher ich käme. Ich bedeute ihm, dass ich aus Deutschland sei, und er schlägt sich mehrmals mit lautem Klatschen an die Stirn, wobei ich auf alles gefasst bin. „Was zum Teufel machst du denn bloß hier?" redet er drauf los. "Du bist ja nicht einmal eine Einheimische. Warum tust du dir diesen ganzen Mist denn nur an! Geh’ und genieß, sei froh, dass du nicht solch dämlichen Traditionen beiwohnen musst.“ Ich lache und nicke und zucke dann mit den Schultern. Nun habe ich schon fast fünf Stunden hinter mich gebracht, so machen die hoffentlich wenigen Minuten, bis das Schiff endlich losfährt, auch nichts mehr aus.
Meine Mundwinkel sind einem beständigen Sog nach unten unterzogen, und trotzdem bin ich froh, dass ich hier, inmitten des einfachen Volkes stehe und all das leibhaftig miterlebe, nicht irgendwo auf einer Yacht die Daumen drehe, wo mich der Funken der Wirklichkeit nicht erreicht. Hier spürt man die Anstrengung, das Sein des russischen Volkes. Kein Film, kein anderer Ort könnte mir diese so lebendige Empfindung vermitteln.
Der Mann redet nun vor sich hin, dass er schon in Frankreich war, in Italien, in Spanien, aber noch nie in Deutschland. Dann stampft er auf, packt seine Frau am Arm und zerrt sie mit sich, ohne tatsächlich voranzukommen. Die Masse ist wie eine Mauer. Nicht weit von ihrer vorherigen Position müssen sie aufgeben und stehenbleiben. Hinter mir ertönt ein Schrei. Schon herrscht Unruhe und Bewegung. Ein Mädchen ist umgekippt und wird von Hand zu Hand nach vorne getragen. Ich lasse sie vor mir auf dem Bordstein sitzen, streiche ihr über das weiße Gesicht. Dicke Tropfen Schweiß stehen ihr auf der Stirn. Ich krame hastig in meinem Rucksack, um ihr etwas zu trinken zu geben. Dort finde ich nur eine Flasche mit einem lauwarmen Schluck Sprite. Eine andere Frau ist zum Glück schneller und reicht Wasser. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schreie dem Polizisten zu, dass hier jemand umgefallen wäre, er einen Arzt rufen soll. Er blickt durch Schlitzaugen kurz zu uns und sofort wieder weg, starrt weiter mit seiner so geübt bewegungslosen Mimik vor sich hin. „Scheiß Roboter, tu etwas!“ schreie ich auf Deutsch. Er fixiert mich böse. Ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat, aber auf einmal zuckt etwas minimalistisch um seine Lippen. Schon setzt er sich in Bewegung, läuft einige Meter davon, ich atme auf. Als er wenige Augenblicke später wieder zurückkommt, ist er alleine. Das Mädchen sackt in sich zusammen, ihr Freund versucht sie mit einigen Ohrfeigen zu beleben. Der Polizist winkt ihn heran und bedeutet ihm, dass sie schnell und zügig über den leeren Gehweg, auf dem nur die Miliz steht, nach vorne gehen dürfen. Ich traue meinen Ohren nicht. „Los. Los!“ bedeutet der Polizist, während das Mädchen kaum auf die Beine kommt. Ihr Freund stützt sie, hebt sie dann auf die Arme. Mühsamen Schrittes schreitet er voran und verschwindet auch schon aus meinem Blickfeld, während ich den Polizisten mit Blicken durchbohre. Dieser Typ hat lediglich Befehl darüber eingeholt, was nun zu tun sei. Unfähig zu handeln oder zu helfen, eigens zu reagieren, was doch eigentlich die Aufgabe der Polizei ist. Jene Aufgabe, die überall ein Trug ist: die helfende Hand der Sicherheit. So fährt mir in den Sinn, dass keiner dieser Spinner sein Leben riskieren würde, geschweige denn tatsächlich nützlich ist. Sie stehen und repräsentieren die Gewaltbereitschaft, die Macht und Überwachung.
Gerade in Russland, in dieser riesigen Stadt mit ihrer absurd hohen Präsenz an Miliz, dient keiner dieser Uniformierten der Menschheit, sondern lediglich dem Staat. Sie halten die Menge in Schach, die noch nicht einmal etwas im Schilde führt. Sie stehen in ihrer aufgeplusterten, übersauberen Uniform und behandeln die Menschen wie den letzten Dreck. Ich möchte ihm, wie er sich da wieder aufgebaut und in seine Reglosigkeit verfallen ist, am liebsten direkt gegen das Schienenbein treten. Nachdem das Mädchen von ihrem Freund hinausgetragen wurde, hoffentlich schnell genug, damit alles wieder zur Ruhe kommt und beide nicht den gezogenen Knüppel dieser Roboter zu spüren bekommen, werfe ich dem Polizisten weiterhin böse Blicke zu, ohne mich beherrschen zu können. Auf einmal wendet er seinen Kopf, sieht mich direkt an, fixiert mich mit toten Augen. Eine Weile hält er Blickkontakt, starrt ohne zu Blinzeln fest zurück. Mit derartigem Hass soll man sich wirklich nicht anlegen. Hinter seinen Augen liegt die ganze grausame Welt verborgen, die Solschenizyn beschrieben hat. Ich blinzle lieber zuerst und wage dann nicht mehr, ihn noch einmal in Augenschein zu nehmen. Ein eiskalter Schauer legt sich einem da über den Körper. Wie schnell kann man in solch einem Land einfach so verschwinden oder einen Unfall haben. Wie gnadenlos wenig Menschlichkeit steckt in so einer längst verbrauchten Seele, die nur durch Uniform und Befehl zusammenhält. Endlich wird eine weitere, diesmal gelbe Leuchtkugel gezündet. Eine Ampel, juble ich innerlich. Wenn das grüne Licht gezündet wird, dann geht es los. Auf dem Schiff erspähe ich, dass die Herrschaften am oberen Deck hin und her schlendern und gerade mit Champagner versorgt werden. Erneut nähert sich ein Polizeiboot, um vorsichtig anzufragen, ob es losgehen dürfe. Scheinbar nicht. Vielleicht sind noch nicht alle mit dem Essen und Austernschlürfen fertig. Es wird zwar eine grüne Leuchtkugel gezündet, und kurz lebe ich auf, aber nichts passiert. Auch die Presse vor mir packt ihre Kameras unter Plastiktüten, ein kleiner Regenschauer setzt ein, hört aber sofort auch wieder auf. Ich verliere die Geduld, will nur noch gehen, will diesen ganzen Auswurf hinter mich lassen. Der Zusammenbruch des Mädchens und die Tatenlosigkeit des Polizisten, dessen irrer Blick mich schockierte und vielleicht immernoch auf mir ruht, all das frisst sich durch meine Nerven.
Auf der Brücke geht nun auch noch das Licht aus. Ich überlege, ob die Fahrt des Segelschiffs vielleicht ins Wasser fällt, doch keiner der Menschen reagiert in diesem Sinne, auch die Presse steht und wartet, der Kameramann auf seinem Kran ist noch sichtbar. Jemand sagt, dass sie hoffentlich Aufnahmen von diesen absurden Vorgängen machen würden, doch in mir macht sich der Verdacht breit, dass gerade die Presse nur das aufnimmt, was sie aufnehmen soll, und es wird sich hinterher genau so bestätigen. Am nächsten Tag erscheint in den Medien nichts von Verspätung, nichts davon, dass eine ganze Stadt auf ein mit fünfzehn Mann besetztes Schiff gewartet hat, es wird nur berichtet, wie schön alles war, wie wundervoll das Segelschiff mit seinen rot bestückten Masten aussah, wie herrlich das Feuerwerk sich am Himmel entfaltete. Wenn man den wahren Kapitalismus spürt, dann in diesem Land. Hier wartet ein ganzes Volk, eine ganze Stadt aus mehreren zig Tausend Menschen, bis, wie sich ebenfalls hinterher herausstellt, Medwedewund Putin, samt ihrem Gefolge, in Ruhe gespeist, in Ruhe Kaviar gelöffelt haben und dann, nach Belieben, den geblähten Bauch gestreichelt, allmählich nach oben schlendern, sich Champagner einschenken lassen und schließlich bereit sind, damit das Schiff mit den purpurnen Segeln endlich fahren kann. Ganz im Gegensatz zu Präsident Obama, der sich dem amerikanischen Volk häufig ganz bürgerlich, als „einer von ihnen“ zeigt, so legt die russisch politische Elite Wert darauf, dem Volk klar zu machen, wer das Sagen hat. Sie sind nicht Teil des Volkes, sie sind, was sie sind. Ganz ohne Heuchelei. Das hat sich in dieser Nacht überdeutlich gezeigt.
Es ist fast halb drei Uhr morgens, das Polizeiboot fährt zum dritten Mal heran, bekommt wohl einen Wink und begibt sich hinter die nächste Brücke, wo das Segelschiff wartet. Zwei grüne Leuchtkugel werden noch gen Himmel geschossen, mittlerweile ist es dunkel geworden, die Peter und Paul-Festung erstrahlt in verschieden Farben, die Brücke öffnet sich. Und endlich. Endlich. Endlos endlich. Die Show kann beginnen. Das Volk atmet auf. Atmet mit einer einzigen Lunge auf. Und in aller Pracht steigen nun die Feuerwerke empor, im Klang lauter klassischer Musik, die die jeweiligen unterschiedlichen Geschosse zeitgenau untermalt. Das Schiff der Herrschaften versperrt zwar den meisten die Sicht, sie müssen ganz nahe dabei sein, nicht nur nahe, das Schiff fährt alleine für sie, nicht für die gewöhnlichen Menschen, doch man spürt jetzt eine große Erleichterung. Auch ich empfinde sie, während die Menge hinter meinem Rücken Ah und Oh Rufe ausstößt oder klatscht, wenn sich die Flammen und Feuerfarben am Himmel besonders schön ausbreiten und verglühen. Noch einmal strecke ich den gesamten Körper – Halt durch! Halt durch! – und überlasse mich den zerstäubenden Farbexplosionen. Aus der Ferne rückt das Segelschiff langsam voran, so klein und doch schön. Ich denke gleichzeitig, wie herrlich auch in diesem Moment die Eremitage in ihrer gesamten Beleuchtung wirkt (Bild 4), wie sehr sie in ihrem Anblick doch Balsam für alle Strapazen ist. Die Musik stößt Trompetenklänge und Paukenschlag aus, die Farben der Festung wechseln schnell und flackernd, das Segelschiff ist nun deutlich zu erkennen und stoppt vor den politischen Herrschaften, um dort, nicht an üblicher Stelle, nicht bis ganz an die Brücke heran und wieder zurück, seine Fahrt zu beenden. Da stehen sie dann wohl an der Reling und klopfen sich auf die Rücken, leicht angesoffen, leicht notgeil über ihre Macht und loben sich selbst. Schönes rotes Schiff. Haben wir gut gemacht. Ja, hat uns ganz gut gefallen. Das Abschlussfeuerwerk platzt über die Köpfe, die Leute kreischen und jubeln, die roten Segel erstrahlen am Mast dieser Nacht, und das Spektakel findet bis in die letzte Erschöpfung sein ersehntes Ende.
(Rotes Feuerwerk, das sich in allen Formen und Farben abwechselte.)
(Das Segelschiff mit den purpurnen Segeln, das die Sommerwende ankündigt und feste Tradition in St. Petersburg ist.)
(Eremitage in ihrer nächtlichen Beleuchtung. Linker Hand sieht man im Dunklen das Schiff der Politiker und etwas vom Feuerwerk.)
12.
Und genauso schnell, wie die Dinge dann doch noch ihren Lauf genommen haben – oh nein, nichts ist überstanden, nichts ist vorbei -, bricht nun die Flut los. Ich bekomme kaum noch etwas mit. Weder das Segelschiff noch die Präsenz der Miliz, eine stark nach vorne treibende Bewegung setzt sich in Gang. Gleich einer riesigen Menschenwoge werde ich mitgerissen. Sie strömen zum Ausgang der Brücke, Richtung Eremitage, strömen in alle Richtungen, man kann sich diesem Strom nicht entziehen. Zwischen Körpern eingedrückt, schöpfe ich verzweifelt Atem und rudere mit den Armen. Vom linken Außenrand werde ich durch die Mitte der Massen an den rechten Rand gespült. Als ich eine kleine Lücke entdecke, nutze ich sie und klettere über einen Zaun. Auf seinem Geländer verharre ich kurz, bevor ich auch schon wieder weiter gedrückt werde und in genauso viel Mensch lande. Nun sehe, rieche, höre ich die Massen. Gesichtslos und bedrohlich verwandeln sie die Straßen, machen sie lebendig und unvorhersehbar. Alle Schüler und Studenten mischen sich nun aus ihren für sie abgegrenzten Gebieten unter die Menge, die Menge aber darf nicht hinter die Abgrenzung. Immernoch versperrt die Miliz die Umgebung, es ist unmöglich zur Metro oder überhaupt hinaus zu gelangen. Inmitten der Leute, auf neuem Zaun, überblicke ich das Chaos, das sich in verschiedene Richtungen sammelt. Ich frage mich ernsthaft, wie ich durch dieses Gelage durchkommen soll, wohin ich überhaupt muss, wie ich den Weg zur Metro oder in die Stadt oder zu mir selbst zurück finden soll, wenn alle mir bekannten Straßen abgesperrt sind. So kneife ich die Augen zusammen und lasse mich mit kleinem Sprung wieder in die Menge fallen, treibe mit dieser Welle der Feierlichkeit mit, lasse mich durch sie führen und lenken. Obwohl die meisten sturzbetrunken sind, sind sie zum Glück nicht aggressiv, obwohl mir ein kräftiger Schluck aus irgendeiner Flasche jetzt auch gut tun würde, um diese Stimmung und Enge leichter zu ertragen. Es wird um uns herum schon wieder hell, unter meinen Füßen klirrt und knackt es. Ich laufe auf Glas, auf zerbrochenen Flaschen, vielleicht auf Knochen. Busse, die als Toilette umgestaltet wurden, sind überfüllt, vor ihnen ewige Schlangen an Menschen. Ich verkneife mir den Drang, der nach so viel Zeit immer zu spüren ist, der zur beschwerlichen Belastung wird, wenn man nirgendwo hin kann.
Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, versuche mich an den Gebäuden zu orientieren, die irgendwie alle gleich erscheinen. Schön, gewaltig, aber nicht besonders hilfreich. Die Wege, die ich kenne, sind abgesperrt. Die Masse lichtet sich unmerklich. Irgendwie bin ich schon ganz an den Rand der Häuser gespült und überlege, wohin ich mich nun wenden soll. Ich sehe, wie einige der Studenten fröhlich singend, die letzten Flaschen schwingend, in eine Straße einbiegen, schätze grob, dass hinter der Häuserfront vielleicht eine geöffnete Straße für den Heimweg liegen könnte und folge ihnen, weil sie mir wie Leute auf dem Heimweg erscheinen, die nach einer durchzechten Nacht Sehnsucht nach ihren Betten verspüren, bis ich erkenne, dass sie in ihrer guten Stimmung lediglich um das Haus herumlaufen, was zur Folge hat, dass man im Quadrat dann wieder genau auf der Straße landet, von der man zuvor schon gekommen ist. Ich keuche und japse. Kaum noch Kraft in den Beinen, im Gedanken, dass ein einfaches Geradeausgehen mir viel Zeit erspart hätte, laufe ich weiter und weiter. Endlich entdecke ich einen Zaun, der in seiner zwei mal drei Meter Gesamtheit aus der Fassung gebrochen ist und schräg vom restlichen Gitter absteht. Ich schlüpfe wie etliche andere junge Menschen hindurch und befinde mich endlich wieder in einem Park, den ich kenne. Einige Mädchen taumeln mir entgegen, lachen und greifen meine Hand. Ich lasse mich eine Weile mitziehen, bis die Masse wieder dichter wird, und verliere sie aus den Augen. So durchquere ich weiter den Park, ohne recht zu wissen, wie ich es immernoch schaffe, mich voranzuschleppen, und sehe drei Taxen, die auf der immernoch gesperrten Straße warten. Ich stoße einen Jubelschrei aus, eile hin und erkundige mich, ob sie fahren würden. Die Antwort ist positiv. Ich atme auf und frage, was es kosten würde. Die Antwort lässt mir das Blut gefrieren. Eine normale Fahrt aus dieser Gegend zum Haus meiner Großmutter kostet normalerweise an die 300 Rubel. Der Preis, den mir der grinsende Taxifahrer nennt, beläuft sich auf 5000 Rubel. Ich schlucke. Selbst wenn ich wollte, hätte ich nicht so viel Geld dabei. Ein nächstes Taxi ist auch nicht besser, wenn auch schon günstiger. 2800 Rubel. Ich winke ab und laufe weiter. Die Metro fährt jetzt nicht mehr, ich müsste bis fünf oder sechs Uhr morgens in dieser ausschweifenden Stimmung herumirren, ohne selbst einen Tropfen Alkohol im Blut zu haben. Ich überlege, ob ich eine Bar aufsuchen soll, jedoch hat keine mehr offen, lediglich eine Sushibar in greller Beleuchtung, die dazu auch noch völlig überfüllt ist. Dann komme ich an einem vereinzelt geöffneten Kiosk vorbei und sehe eine unfassbar lange Schlange. Sie stehen für Bier an, für diese Menschen ist die Nacht noch lange nicht beendet.
Die Müdigkeit überwältigt mich, die Helligkeit schlägt mir auf das Gemüt, ich friere, obwohl es nicht kalt ist. Irgendetwas frisst sich durch mein Inneres. Meine Beine spüre ich nicht mehr. Ich schwanke voran, immer mit der Menschenmenge, die sich wieder etwas lichtet, überquere Straßen, Plätze, Zebrastreifen mit blinkenden Ampeln, laufe mit dem Strom. Die Richtung muss stimmen, denn je weiter ich mich voranschleppe, desto mehr gleichen die Körperhaltungen meiner eigenen Verfassung. Wir sind hier also auf dem Weg der Verdammten, der Schlapp-Macher, der Heimkehrer. Hinter uns wird weiter gefeiert und gegrölt, gesungen und getanzt. Selbst mit dreiunddreißig Jahren fühle ich mich auf einmal uralt, zu alt, um so eine Nacht zu überstehen.
Vor der noch geschlossenen Metro dann ein ähnliches Schauspiel. Mit der Idee im Kopf, dort irgendwo zu warten, treffe ich auf die nächste Absperrung. Man muss sich bewusst machen, dass es der einzige Weg zur Metro ist, es gibt keine Querstraße oder einen anderen Weg dorthin. Die Leute stehen und diskutieren mit der Miliz, die ihre Standartantwort verkündet: „Wir haben keine Ahnung! Gehen Sie weiter!“ Weiter ist gut, denke ich. Es gibt kein Weiter. Es gibt nur Stillstand oder Rückkehr. Auf der gesperrten Straße laufen einige Schüler und heben ihre Flaschen. Für diese sporadischen Feierfreunde bleibt die Straße für den Rest der Stadt, Familien, Kinder, Nichtschüler, weiterhin gesperrt. Sie haben am Vortag alle eine Karte gekauft, die es ihnen ermöglicht, das abgesperrte Gebiet zu betreten und für sich zu nutzen, bis die letzten der Feier- und Feuerfreudigen müde werden. Solange wird nichts geöffnet. Und sollte es auch nur ein einziger, torkelnder Mensch, der letzte fleischliche Rest einer Nacht sein, der nicht aufgeben will.
Ich bahne mir einen Weg durch die nun an dieser Stelle neu gestaute Menschenmenge, weiche in eine Nebenstraße aus, versuche mir die Augen mit den Fingern offen zu halten, und sehe erneut ein Taxi, das hinter der letzten Häuserecke einbiegt und auf mich zukommt. Ich renne mit aller Kraft auf das Autofenster zu, wie auf ein Licht am Ende des Tunnels, beuge mich hinein und frage mit ersterbender Stimme, ob der Fahrer in die Budapeschskaja fährt und was es kosten würde. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber auf einmal erwachte ein Funken Menschlichkeit in ihm. Im Gegensatz zu den anderen, die die Gunst der Stunde erbarmungslos ausnutzten, ruft er nach einigem Überlegen „1000 Rubel!“. Ich glaube, so schnell bin ich noch nie in ein Auto gestiegen. In den Sitz zurückgelehnt spüre ich dann die ganze Müdigkeit mit voller Wucht über meinen Körper einbrechen, bis sich ein Rauschen in meinem Kopf festsetzt. Alles verlischt dahinter. Die Häuser und Lampen, Türen und Menschen schwimmen wie Irrlichter an mir vorüber. Ich zähle die Minuten, die das Bett näher rückt. Die Vögel beginnen überlaut zu zwitschern. Ich starre vor mich hin, ohne etwas zu sehen, erkenne nur den Hinterkopf des Taxifahrers, dem ich tiefe Dankbarkeit entgegenbringe. Er fährt mich sicher heimwärts, winkt zum Abschied, während ich die letzten Stufen im Treppenhaus hinaufächze, dabei abwechselnd ein Bein packend, um es von Stufe zu Stufe hochzuheben. Verzögert öffnet sich vor mir die stille Wohnung, das Zimmer, in dem ich schlafe, die Weichheit der Kissen.
Weiße Nacht, du mit deinen roten Segeln und dem flammenden Himmel, den vielen Gesichtern und nicht befahrenen, glasknirschenden Straßen. Dich werde ich wohl, ob ich will oder nicht, für immer fest verankert in meinem Gedächtnis behalten.
Weiter zum
letzten Teil
|