Teil 6

 

 

 

13.

Ich komme gerade von der Blutskirche. An den Häuserfronten entlang, mitten auf der Straße, sind Gemälde aufgehängt, die ich erstaunt nacheinander betrachte. Ein guter Platz, um Bilder zu hängen, mitten im Getümmel. Später finde ich heraus, dass es sich um Kopien der Bilder handelt, die im russischen Museum hängen, vor dem der stehende Puschkin in erhabener Pose seinen Arm ausstreckt und damit etlichen Tauben Platz bietet.

Beim Träumen von der hohen Gabe
Des, der einst Russlands Schicksal war,
Steh ich am Twerer Boulevard,
Ich steh und stell mir manche Frage.

Als Blonder, und noch als Ergrauter,
Und legendär wie Nebel wehn,

Warst, Alexander, du ein Gauner,
Wie heute ich ein Hooligan.


Doch diese liebenswerten Possen

Verdunkelten dein Abbild nicht,
In Bronze, die der Ruhm gegossen,
Senkst du dein stolzes Angesicht.


Ich steh hier, wie vorm Abendmahle,
Und sage dir als Antwort gern:
Wollt sofort tot zu Boden fallen,
Würd’ mich ein solches Schicksal ehr’n.

Doch, ausgeliefert dem Gemeinen,
Tönt, hoff ich, lang noch mein Gesang …
Damit mein Steppenlied wie deines

Dereinst in Bronze klingen kann.

(Sergej Jessenin – „Mein Puschkin“, übersetzt von E. Boerner)

 

Von der anderen Straßenseite hörte ich jeden Tag eine melancholische Stimme volkstümlich singen. Bald darauf erblicke ich ein kleines Mädchen an einem Stand mit Cds sitzen, leicht nach vorne gebeugt und ohne große Reaktion. Sie hockt bescheiden zwischen all diesen Tonträgern, hält die Hände gefaltet. Nur wenn jemand an sie herantritt, dann beginnt sie zu verhandeln, verlangt so und so viel Rubel und schnippt mit den Fingern.

Die Stimme des Sängers, der zu hören ist, klingt wehmütig und entbehrt nicht der Tragik und damit der Schönheit, drückt sich in solchen Liedern aus, die die Russen lieben, die sie in ihren Abendstunden singen, durch deren Melodie sie sich nach besseren Zeiten sehnen. Ich kann mir vorstellen, dass das Mädchen die Tochter des Sängers ist, der sie jeden Tag losschickt, um seine Aufnahmen unter die Leute zu bringen.

Als ich jetzt laufe, sehe ich zwischen den Cd-Hüllen zum ersten Mal jemand anderen sitzen, und als ich näher trete, stimmt das Gesicht des Mannes mit dem auf dem Cover der Cd überein. Er ist leicht angetrunken und kippt vornüber, seine Frisur erinnert an die eines Pagen vergangener Zeiten, der jedoch nicht nur bedient, sondern soeben aus den Gemächern des Übersatten zurückkehrt. Kreuz und quer liegen die Haare, durch die glühend rot die Kopfhaut funkelt. Auch seine Nase wirkt, als wäre sie wie Popcorn aufgepufft.

Das Mädchen ist nicht zu sehen, aus dem Cd-Player tönt seine bleierne Stimme, durch die er sich leicht hin und her im Takt wiegt. Ein eigenartiges Leben, denke ich mir. Vielleicht schwierig, doch nicht schwieriger als so viele andere Leben. Verrauchte Kneipen, Straßengesang. Das kleine Mädchen ist darin fester Bestandteil und mit ihren sechs Jahren schnell erwachsen geworden.

 

Im russischen Museum hängen Bilder, die so riesig sind, dass die abgebildeten Figuren fast dreifach so hoch sind, wie man selbst. 

Eines der Bilder ist von kleineren Bildern umringt, welche die Studien für das Bild darstellen. Jene Studien jedoch könnten durchaus für sich stehen. 

 

Überhaupt bin ich von den russischen Realisten stark beeindruckt. Eine Kunst, dass manchmal ein Bild wie eine übergroße Fotografie wirkt, z. B. eine Schneelandschaft von Schischkin:

(Quelle: kunst-für-alle)

 

... oder eine dieser allmächtigen Wellen von Aiwasowskij. Dessen Wasser ist so klar, dass man glaubt, meterweit auf Grund zu blicken. Opal- und schimmernde Blautöne, manchmal gläsern oder verschwommen, mit der so lebendig wirkenden Gischt des Meeres.

(Eines der riesigen Bilder von Aiwasowskij, „Schiffbruch“)

 

Ich habe noch nirgendwo so ein Wasser gesehen.

 

Man begegnet dort der Skulptur von Gogol und stößt mehrere Räume weiter auf ein Portrait von Tolstoi als barfüßigen Wanderprediger, gemalt von Repin, der durch seine Wolgatreidler  bekannt wurde, oder auch auf die Ikonen von Andrej Rubljow, den Tarkowskij im Film verewigt hat und der in Russland bis heute sehr berühmt ist. Repin und Aiwasowskij haben auch ein gemeinsames Bild gemalt. „Puschkins Abschied vom Meer“.

  (Statue von Gogol)

       

        (Repin: Portrait von Tolstoi)                                    (Aiwasowski und I. Repin 1887)

 

Tolstoi erzählte Alexander Goldenweiser zu seinem Portrait:

 

„So weit, dass ich barfuss herumging, kam es natürlich nicht. Repin aber hat mich tatsächlich im décolleté dargestellt: ich bin barfuss, im Hemd. Ich bin noch froh, dass er mir wenigstens die Unaussprechlichen nicht ausgezogen hat! Und dabei hat er mich nicht einmal gefragt, ob mir das lieb sein werde! Übrigens bin ich es ja schon gewohnt, dass man mit mir wie mit einem Toten umgeht.“

 

(… zitiert aus Alexander Goldenweisers „Entlasse mich aus deinem Leben, Tolstois letztes Jahr“)

 

Tolstoi wurde häufiger porträtiert. Besonders ausdrucksstark finde ich das Bild von Kramskoj, das zu der Zeit entstand, als er „Krieg und Frieden“ schrieb.

 

Weiterhin gibt es eine „moderne Ebene“, wo man u. a. auf Malewitsch trifft, oder auf Valentin Serow, der Ida Rubenstein auf seine ganz eigene Weise porträtiert hat. Fast zufällig stoße ich auf den Spaziergang von Chagall.

Bei all den Kunsteindrücken, die sich mir tief eingeprägt haben, ist eine erstaunliche Gier geweckt, mich in der eigenen Malerei ganz neu zu verlieren. Der erste Entwurf wird wohl eine Metrofahrt darstellen, all diese Menschen ins Bild setzen, die mich durch ihre Müdigkeit, Erschöpfung und Traurigkeit beeindruckt und bewegt haben. Die Picassos, die russischen Realisten, von denen ich so viele nicht einmal kannte, die Riberas und Murillos, all diese Geniepinselstriche habe ich mir einverleibt und sie wiederum haben in mir Inspiration geweckt.

 

Eine der Ausstellungen im russischen Museum war die von Pyotr Konchalovsky. Die fast 120 Bilder sind von ausdrucksstarker Farbe und manchmal dicken Pinselstrichen, deren Struktur dem Abgebildeten eine regelrechte Bewegung initiiert. Die Bilder entstanden 1912 und sind doch von ausdrucksstarker Modernität.

 

Immernoch auf dem Weg zurück von der Blutskirche komme ich nun an mehreren Bistros und Cafés vorbei. Hier herrscht Tourismus, die Preise sind hoch. Man sitzt auf Holzbänken und hört allerlei englische und deutschsprachige Laute. Im Inneren eines dieser Cafés, das sich, betritt man es, als regelrechtes Kellergewölbe herausstellt, feiert zu Mittag eine ganze deutsche Truppe. Ihr lautes Gegröle, das Anstoßen mit russisch gelobtem Bier bringt mich zum Lachen. Einer der Deutschen beschwert sich einige Meter weiter gerade bei einer der Kellnerinnen, dass die Speisekarten nur in russischer und englischer Sprache gedruckt seien. „Er hätte es doch verdient… Die Deutschen, sie hätten doch verdient…“

Ich ging schnell weiter.

 

Auf einmal wanken aus einer Nebengasse zwei Frauen heraus, mit tiefem Ausschnitt, eng anliegendem Kleid, den üblich sehr hohen Hakenschuhen und leicht zerwühlter Frisur. Ihr Gang wie auch ihr Aussehen sind auffällig. Sie heben sich durch ihre Freizügigkeit und das enorme Torkeln stark von der übrigen Meute ab. Sie laufen direkt vor mir.

Die Kleinere klammert sich an die Andere im roten Kleid. Sie kichern. Man sieht sofort, was sie sind. Ich überlege, was sie wohl gerade erlebt haben müssen und was, verhältnismäßig gesehen, ein Mann mit Geld doch für ein Glück hat, dass er auf so schöne Frauen steigen darf. Vielleicht hat sie irgendein reicher Sack für eine Nacht gebucht. Die Mittagszeit lässt darauf schließen, dass es sogar eine verdammt lange Nacht war.

In meinem Kopf rattern filmische Bildsequenzen, was sein könnte oder auch nicht. Sie sind beide sehr attraktiv, wären ihre Gesichter nicht so verwischt, stände in ihnen nicht so deutlich das zuvor Erlebte geschrieben, der Einfluss von Drogen, Alkohol und Rausch, die leichte Erschöpfung des Danach, die Unausgeschlafenheit, um nun gemeinsam irgendwie den Heimweg anzutreten. Die Röcke, durch die runde und feste Backen schwingen, sind leicht fleckig, ich wende den Blick verlegen ab und richte ihn auf die Vorüberkommenden.

Diese versuchen den stark schwankenden Bewegungen auszuweichen. Einige lächeln und flüstern sich etwas zu, andere blicken empört und wenden mehrmals den Kopf.

Die Frauen sind in dieser Gegend vielleicht doch auffällig genug, um selbst die Einheimischen zu irritieren, wo sie sonst kaum den Kopf heben, um einander zu betrachten. Vielleicht ist es die ungünstige Uhrzeit, vielleicht findet man solche Frauen eher an anderen Plätzen. Ich weiß es nicht, aber beide wissen sich wohl zu helfen. Wer sie auslacht, denen begegnen sie mit lallendem Spott, wer schimpft, wird in einer ruckartigen Kopfbewegung abgetan. Sie haben im Moment einander, und werden ihren Weg schon gehen.

Neben mir fährt ein riesiges Auto vor. Daraus hervor steigen zwei reiche Damen, geliftet und mit Juwelen geschmückt, und mischen sich unter die Leute. Dieser luxuriöse Wagen zwischen den anderen Wracks sticht hervor. Ich wundere mich, dass sie so einfach wagen, ihren überteuerten Schlitten dazwischen abzustellen.

 

So viele Menschen und sicherlich etliche Geschichten. Gerne würde ich mehr über die alten Blumenfrauen erfahren, die sich an den Parkeingängen und Metrohaltestellen ein paar Kröten verdienen. Die Blumen sind meist verwelkt oder eben mehrere Meter weiter im Park selbst zu finden. Doch die Leute kaufen. Der Mutter, Tochter, Großmutter, Tante, Geliebten einen Strauß mitzubringen, ist eine nette Geste und stark verbreitet. Manchmal hört man sie laut miteinander streiten. Es bleibt Kampf und Überleben. Schon als Kind sah ich etliche dieser Frauen. Sie verkaufen Blumen, Selbstgebackenes, kleine Hundewelpen.

 

Bedingungslos vorvererbt wurde mir eine zehnbändige Ausgabe von Dostojewskij in russischer Sprache. Ich werde vielleicht erst einmal mit Tschechow beginnen, da dieser einfacher schrieb. Die Buchstaben zu entziffern, die Worte im Kopf zu bilden, bis man sie deuten kann, das Ganze noch einmal für sich zu lesen, ist nicht so schwierig, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Bücher in diesem großen Regal meiner Großmutter tragen ihre eigene Geschichte.

Durch das emsige Sammeln von Buchscheinen, die dann abgegeben nach fünf Jahren einen Band Tschechow ermöglichten, haben sich meine Großeltern ihre Bibliothek über all die Jahre langsam zusammengesucht. Für Bücher musste man Beziehungen haben. Das Dom Kniga, das heute über Etagen reich gefüllt ist, mit Moderne und Klassik auf neuem und altem Papier, führte früher in leichter Übertreibung nur Marx und Lenin Werke und vielleicht einen Band von Puschkin. Es war nicht einfach, sich Literatur zu verschaffen.

Ich habe mich immer gefragt, warum sich mir diese Sprache so tief eingeprägt hat, warum ich die Menschen nach all den Jahren immernoch verstehe, selbst reden kann. Meine Mutter hat selten mit mir Russisch gesprochen, und obwohl ich früh Russischunterricht hatte, kann eine Schule das Gedächtnis nicht so intensiv prägen.

Die Russen erwarten übrigens ganz selbstverständlich, dass man ihre Sprache beherrscht. Sie setzen es regelrecht voraus, um dich zu akzeptieren. Wenn jemand sich nicht in ihren Worten verständigen kann, findet er nicht völlig in ihren Kreis hinein. Er wird gerne eingeladen, genauso gerne angesprochen und auch ebenso gerne belächelt. Wenn man sie dagegen fragt, welche anderen Sprachen sie beherrschen, wird, genauso selbstverständlich, das Fehlen jeglicher Sprachkenntnisse mit einem Schulterzucken abgetan. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun.

Aufklärung über meine eigene Tiefverwurzelung in jener Sprache verschaffte mir schließlich meine Großmutter, weil ich, ohne es mehr zu wissen, wohl eine Zeit lang bei ihr verbracht habe. Zunächst, so erzählte sie mir, traute ich mich nicht, mich auszudrücken, wollte nicht mit anderen Kindern spielen. Ich fühlte mich alleine gelassen, meine Eltern waren gerade zu Besuch in Moskau. Ich trottete lustlos zum Spielplatz, wobei mein Großvater schreckliche Ängste ausstand, wie er es immer tat. Er hatte bei seinen eigenen Kindern oder wenn andere Kinder zu Besuch waren, immer einen längeren Hals als sonst, weil er ständig auf dem Balkon stand und nach ihnen Ausschau hielt.

„Hoffentlich passiert nichts. Hoffentlich passiert nichts!“ pflegte er dann immer zu sagen. „Wie kannst du sie nur so einfach gehen lassen!“

Meine Großmutter winkte dann ab. „Wir haben sie doch im Auge. Mach dir keine Gedanken!“

Meinen Großvater vermisse ich sehr. Seine Art, beim Essen die Menschen regelrecht zu nötigen, sich vollzustopfen, während er eine Scheibe Brot in kleine Stückchen zerteilte und mit seinem schlechten Gebiss ganz langsam kaute. Wie er im Sessel saß und eine nach der anderen rauchte, mich auf seinen Schoß hob und mir Geschichten erzählte. Wie er, selbst als er von seinem Lungenkrebs erfuhr, weiter rauchte, nicht in ein Krankenhaus wollte, sondern erklärte: „Wenn ich schon sterbe, dann dort, wo ich zu Hause bin, umgeben von den Menschen, die ich liebe!“ In diesem Sessel, von dem ich nun zwei Erinnerungen besitze, der heute nicht mehr für das Sitzen geeignet ist, ist er auch gestorben. Ich habe einiges von ihm geerbt, Essen, das wir beide mögen und sonst keiner in meiner Familie, Eigenschaften, die ich auch von ihm übernommen habe. Meine Großmutter ist so glücklich, dass ich so viel lese, wessen sie beide immer gefrönt haben, sie hat auch andere Enkel, deren Leben von starken Höhen und Tiefen geprägt ist, dass darin kein Platz für die Literatur bleibt.

Als sie eine Stunde später wieder nach mir sah, kam ich dann wohl mit einem Jungen an der Hand zurück und erklärte ihm auf Russisch die Welt. Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus mir hervor, und von da an ging ich jeden Tag zum Spielplatz.  Darüber lacht sie heute noch. Der kleine Junge wohnte im gleichen Haus, auf einer höheren Etage. Er stand dann immer vor der Tür und fragte, ob ich spielen käme, auch als ich schon längst wieder abgereist war.

An solche Situationen erinnere ich mich nicht, doch als Kind lernt man am besten. All das, was mir heute so leicht über die Lippen geht, wurde in diesem Alter vertieft.

Auch erzählte sie mir, dass ich ein russisches Kinderlied besonders mochte und es immer und immer wieder auf Schallplatte abspielte. Das wurde dann schnell zur allgemeinen Belastung, dass sie sich verzweifelt die Ohren zuhielt, zunächst darauf wartete, dass ich endlich genug bekommen würde und mich danach mehrmals bat, den Plattenspieler auszuschalten, was ich nicht tat. Die Lösung brachte mein Onkel. Er zwinkerte mir zu, ging in sein Zimmer, holte ein Paar Kopfhörer und setzte sie mir auf. So war für alle eine zufriedenstellende Lösung gefunden. Ich saß noch ganze Ewigkeiten und nickte im Takt der Musik, die Zeit der Erwachsenen wäre wohl sehr lang geworden.

 

Woran ich mich erinnere, sind die winzigen Blinies, die sie mir zum Frühstück machte, in genau derselben Küche, die mir heute so klein erscheint. Auch an gezuckerte Nudeln in Milch kann ich mich entsinnen, die ich ausspuckte und mich weigerte, aufzuessen. Ich kann mich an den Spielplatz erinnern, der vor dem Haus liegt, der jetzt durch eine bunte Rutsche bereichert ist. Oder an die Spaziergänge, an der Schule vorbei, die meine Mutter besuchte. All das findet man irgendwie wieder, wenn auch stark zusammengerückt, stark verkleinert. Die endlosen Gänge der Treppenhäuser mit den vielen gepolsterten Türen, der kaputte Fahrstuhl, die Balkone und Magazine. Die löchrigen Straßen und Trolleybusse, deren Kontaktstellen zischend aufblitzen. Die dicht besiedelten Plätze, prächtigen Anlagen und Häuser, Zarenspielereien. Das warm umfangende Sein der Menschen in ihren Alltagssorgen und flinken Schritten über Schlammwege und Widrigkeiten hinweg. Getrocknete Fische, darunter auch kleine mit Augen, die zum Bier geknabbert werden, bunte Märkte, übersüße Klumpen Halvar, Konfekt, Samoware. Sehnige Hände, die einem anderen Menschen über den Kopf streicheln, denen man ansieht, dass sie ein Leben lang harte Arbeit gewöhnt sind. Die zupacken, wenn jemand auf der Straße zusammenbricht oder zusehen, weil sie Uniform tragen. Junge Männer, die beim Gehen wie selbstverständlich in alle Ecken rotzen. Wodka, ausgeschenkt in winzigen Gläschen. Das Verniedlichen aller Namen. Gitarren, die im Zimmer an der Wand hängen. Kleine Mädchen mit übergroßen Schleifen im Haar. So manches müdes, zerknittertes Gesicht.

Es ist eine Stimmung, die sich einem tief vermittelt, aus einem ersten Schreck über den Verfall zu einer liebgewonnenen neuen Welt geraten ist, deren viele Gerüche, Menschen, Vorfälle man stark vermisst. All das hüllt einen ein, ist nicht sofort verinnerlicht, wenn man schon wieder durch die ewigen Passkontrollen muss, bei denen man ernst und unmäßig lange angesehen und mit dem Lichtbild im Pass verglichen wird. Auch im Flugzeug nicht, wenn durch die Wolken hindurch erneut ein klarer, blauer Himmel auf einen wartet, während die Landschaft sich verkleinert, die Häuser und Straßen zum Modell werden und unter ihrer eigenen Nebelschicht zurückbleiben. Es entfaltet sich erst, wenn all das weiter zurückliegt, die Menschen unerreichbar geworden sind, die Stadt aus Fotografien noch einmal geistig vor dem inneren Auge erbaut wird, wenn all das Erlebte längst zu einer Geschichte geworden ist, die sich vielleicht lohnt, erzählt zu werden.

 

 

 

 

(Ende)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 

Aiwasowskij.