Schaum


 (veröffentlicht in der Literaturzeitschrift "... & Radieschen", Ausgabe: "Milch & Zucker")




Auf dem Grund des milchigen Glases entdecke ich einige Kristalle Zucker, und als ich sie näher ans Auge hebe, sehe ich mich darin kubistisch gespiegelt. Ein Glas Wasser mit Zucker für die Verstorbenen. Der Durst war wie hinweggeweht. Wie Salz und Sand über Boden. Über Flächen. Ewige Weiten.

„Aus allen Farben entsteht das Weiß!“, sagt mir der Maler und raschelt mit Zeitungen, mit denen er seinen Boden auslegt. Ich bin enttäuscht, hatte Wildnis erwartet. Sein Bart deutete darauf hin, als könnten Fledermäuse oder Flüche darin nisten oder er beim Denken poetisch daran kauen. Seine Reden, in ewig geworfenen Gesten, rahmten die Welt in neue Strukturen, hatten mich verwirrt und begeistert. Unter riesigen und buschigen Augenbrauen verbarg er seine Seele. Vor mir auf dem Tisch steht das Glas Wasser, das er mir angeboten und auf einen Untersetzer gestellt hat. Ich schweige, weil noch alles im Ungewissen liegt. Teppiche, Möbel. Ein Tisch, auf dem eine Schüssel mit Obst steht. Wenig Licht, weil der Schnee blendet. Wir werden zu Silhouetten, wenn durch den Spalt des Fensterladens ein Strahl Sonne auf uns trifft. Von der Decke hängen Marionetten, staubbedeckt und mit hölzernen Gesichtern.

Er steht lange vor der Leere seiner Leinwand. Ein Portrait oder eine Idee? Er sagt, er will mich skizzieren und kann nichts versprechen. Letzteres macht Hoffnung.

Ich sehe mich in seinen Räumen um, Leinwände an der Wand, nicht dagegen gelehnt. Ordentlich gereiht für das Auge. Keines, das noch unter einem Tuch verborgen liegt oder mit dem Motiv zur Wand steht.

„Ich male meist nach der Arbeit“, erzählt er mir. Vielleicht kann er darum nicht malen. Er hat heute frei.

„Mein Vater war Fischer“, plaudert er weiter und legt den Pinsel aus der Hand. „Ich wollte immer einmal das Meer malen.“
“Mit Salzwasser?“ erkundige ich mich. Er sieht mich fragend an.

Irgendwie erinnert er mich an einen dieser Mönche, die ich in Griechenland gesehen habe, die in Sandalen, mit ihren langen, schwarzen Kutten und Bärten einen voll bepackten Einkaufswagen durch die Moderne schoben. Autoradios, Popcorn und ein Karton Ouzo-Flaschen. Dabei saß ich so oft am Strand und betrachtete den heiligen Berg in der Weite, dessen Gipfel oft in Wolken lag, war für ihn extra bis nach Ouranoupolis gefahren, um wenigstens bis an die Grenze zu gehen, die mit groß klaffenden Schildern und Stacheldraht bis ins Meer hinein den Zutritt untersagte. Unerreichbarer Berg meiner Sehnsüchte. Auf dem Wasser zog eine dieser Fähren vorbei, auf denen sich die Touristen drängten, um wenigstens vom Meer aus die Klöster zu betrachten. Als ich ankam, war ich erschüttert über die Verflüchtigung der Stille, die der Berg in mir geweckt hatte. Heute kann ich die Erinnerung höchstens noch an drei Fingern abzählen. Nur das Meer ist noch lebendig, als ich auf ruhender Fläche die Sonne untergehen sah und sich Wasser und Himmel in einen echten Monet verwandelten. Der Maler ist kein Grieche, sondern Franzose. Vermutlich hat er nur sein Montmartre verloren, aber kennt die Liebe.

Am Ende der Sitzung denke ich mir, dass der Zusammenbruch des Künstlers am Vortag vielleicht gespielt war. Auch deswegen sitze ich hier. Er redete von „Zerrissenheit“ und bat um Rat. Eine Frau schlurfte an uns vorbei, als wir weinselig am Fass standen und Altbier tranken, und empfahl ihm Milch mit Honig.

„Das beruhigt und hilft gegen Schlaflosigkeit“, bedeutete sie und richtete ihre feuchten Augen für einen kurzen Moment auf uns beide.

„Honig zerstört die Zähne“, flüsterte der Maler mir ins Ohr, als sie bereits wieder in einem anderen Raum dieser verschachtelten Galerie verschwunden war. „Zucker ist da viel besser!“

Ich wusste von diesen Dingen nichts und verstand auch nicht, was so verkehrt an Zerrissenheit war. Die Welt ist voll von Vertriebenen, Umtrieben, Trieben und wälzt sich unter einer Dunstwolke an Träumen. Und doch treibt es uns hinaus.

Was tun wir hier zwischen den Bäumen? Nicht weit von uns die nächste Gruppe. Menschenkreise, halten sich an Händen und wiegen sich im Wind. Vereinzelt schreit jemand, beugt sich vor und stößt Schlamm aus dem Mund hervor, während ein anderer seinen Zuspruch in schrille, heisere Echos fasst, sie reißen die Füße aus den Lianen des Bodens, der weiß wie Milch ist. Doch wir frieren nicht. Wir fühlen uns wohl. Es sind Lieder, die aus uns hinausströmen, immer weiter und sichtbar, über unsere Köpfe hinweg. Es ist Winter, und ich halte die raue Hand des Malers.

Seit langem ist meine Haut so weiß, dass mich die Leute nicht mehr erkennen. Aus so mancher Nacht habe ich unruhige Tage mit mir gebracht. Rundgänge im Schädel. Aufgerissene Augen. Stille ringsherum, nur das Schlagen der Trommeln aus irgendwelchen Schubladen, die ich noch nicht zu öffnen wage. Irgendetwas ist passiert. Irgendwas ist vom Bart des Malers auf mich übergesprungen. Noch liegt das Buch vor mir, das ich in Gedanken schon wieder ins Regal zurückgestellt habe. Bevor die Dichterin sich umgebracht hat, hat sie rasende Poesie in Morgenstunden verfasst und ihren Kindern, ehe sie dann endgültig die Küchentür abdichtete und ihren Kopf in den Gasherd steckte, noch Milch und Kekse hingestellt. Kälte überläuft mich. Ich fühle mich wie eine Kopie der Venus von Milos und sitze hier und folge Ratschlägen. Aufhören zu suchen, denke ich mir. Wege öffnen sich bereits, wenn wir sie noch nicht kennen. Dann hebe ich mein Glas und sehe es mit dem Auge des Künstlers. Meine Milch ist bunt und schmeckt süß wie der Schlaf.




 


(c) Annelie Jagenholz