"Traum eines lächerlichen Menschen"
Es war mir in jenem Augenblick vollkommen klar, dass das Leben und die Welt gleichsam nur von mir abhängen.
Ein Mann stellt für sich fest, dass außer ihm selbst nichts existiert, darum wird ihm alles einerlei.
"Vielleicht daher, weil in meiner Seele eine furchtbare Beklemmung anzuwachsen begann wegen eines Umstandes, der unendlich höher, wichtiger war als mein ganzes Ich: nämlich die mehr und mehr von mir Besitz ergreifende Erkenntnis, dass auf der ganzen Welt alles überall vollkommen einerlei sei. (…) Ich fühlte mit einem Mal, dass es mir ganz einerlei wäre, ob die Welt existiere oder ob es überhaupt nichts gäbe. Ich begann wahrzunehmen und mit meinem ganzen Wesen zu spüren, dass es außer mir nichts gab."
Er hört damit auf, sich über die Menschen zu ärgern, hört auf zu denken, zu grübeln, sich Gedanken über die Welt zu machen. Er beschließt stattdessen, sich mit einem Revolver zu erschießen. Diesen hat er schon vor einer ganzen Weile gekauft, nur das Ende immer wieder aufgeschoben. Es gebricht ihn aber an Kraft zu diesem letzten Schritt oder, wie Sartre in „Der Ekel“ sagt: "Wir leben weiter aus Angst und Schwäche.“ Eines Abends jedoch erblickt er einen seltsamen Stern am Himmel und weiß auf einmal, dass es diese Nacht geschieht, dass er seinen Plan endlich in die Tat umsetzen wird. Auf dem Weg zurück begegnet ihm ein kleines Mädchen, das ihn verzweifelt um Hilfe bittet. Ihm fällt auf, wie arm und zerrissen sie gekleidet ist, er stampft auf und verjagt sie. Hier wird Dostojewskis erster erhobener Zeigefinger sichtbar, aufzuzeigen, dass eine Absicht, die das Absurde verdeutlicht, gefasst und doch eigentlich sinnlos ist (wartet sowieso der Tod auf jedweden Menschen) gleichzeitig dazu führt, die Dinge zu übersehen, handlungsunfähig zu werden. Wo er nun, mit Aussicht auf den Tod, noch einmal handeln könnte, versagt er seine Hilfe, vielleicht aufgrund seines Charakters, vielleicht auch, weil es sowieso egal ist, weil er bereits nicht mehr zu dieser Welt gehört. Gerade hier, wo ihn das Handeln von der Absicht abbringen könnte, die mehr aus Verzweiflung getroffen ist, verweigert er die Tat. Trotzdem wird ihn ausgerechnet dieses kleine Mädchen retten. Der Mensch, Gefangener seiner Gleichgültigkeit, strebt zwar nach dem eigenen Tod als eine ihm sinnvoll erscheinende Handlung, übersieht aber dabei, wieviel sein Handeln auslösen könnte, wozu er eigentlich bereit wäre, weiterzuleben, wenn er nur zulassen würde, sich zu öffnen und in dieser Weise neu zu handeln. Stattdessen muss er erst mühselig erkennen, dass alles Leid ist, nicht nur das eigene, sondern ein in jedem Menschen liegendes Leid, um die Welt (die für ihn nicht mehr existiert) zu begreifen. Was der Mann einerseits fürchtet, ist der Schmerz, die einzige Regung, die er noch zu spüren vermeint. Hier ahnt man doch die Angst vor dem Sterbevorgang. Doch bald schon, in der Auseinandersetzung mit dieser Begegnung mit dem kleinen Mädchen, erkennt er, dass er Mitleid mit ihr hatte, obwohl ihm die Welt doch eigentlich längst gleichgültig sein müsste. Mit diesen Überlegungen schläft er ein und hat dabei einen alles verändernden Traum. – „Aber ist es denn wirklich nicht ganz gleich, ob es ein Traum war oder nicht, wenn dieser Traum mir die Wahrheit offenbart hat?“ - Er träumt, sich zu erschießen, jedoch nicht durch den Schädel, wie er es eigentlich vorhatte, sondern durch sein Herz. Er sieht sich sterben, im Grab liegen und auferstehen, zu einem anderen Planeten treiben, der der Erde ähnelt. Ein erster, neuer Schmerz erwacht in ihm, warum der Planet ist, wie der, den er verlassen wollte, doch bald erkennt er, dass sich die Planeten unterscheiden, denn auf diesem neuen sind alle Menschen glücklich, nichts als Liebe existiert, die sich aus keinem Wissen heraus bildet, sondern einfach ist, als ein auf Erden gegenwärtiges Paradies. Sofort bemerkt der Mann, wie schwer es ihm fällt, diese Menschen zu begreifen oder ihnen zu vermitteln, wer er ist. In ihm wuchert noch das Alte, während er sich dieser neuen Welt überlässt, ohne den Wunsch zu hegen, dass die Menschen verstehen, was ihn von ihnen unterscheidet. Sie wiederum nehmen und akzeptieren ihn ohne Hinterfragung, schenken ihm die gleiche Liebe, die in allen von ihnen existiert. Oh, sie fragen mich nach nichts, sie schienen schon alles zu wissen, und sie wollten nur schneller das Leid aus meinem Gesicht verscheuchen. Hier zeichnet Dostojewski dieselbe All-Seele, wie sie z. B. Emerson ins Wort gefasst hat. Sie strahlt als Einheit in und durch all diese Menschen, die nicht über den Verstand, sondern einfach über ihr Sein zueinander finden.
Nun gut, mag das nur ein Traum gewesen sein! Aber die Empfindung der Liebe dieser unschuldigen und schönen Menschen ist für alle Zeiten in mir geblieben, und ich fühle, wie ihre Liebe sich auch jetzt von dorther auf mich ergießt. Ich habe sie selbst gesehen, habe sie kennen und lieben gelernt und später um sie gelitten. Oh, ich begriff sofort, sogar damals schon, dass ich sie in vielem überhaupt nicht würde verstehen können; es schien mir als Petersburger unbegreiflich, warum sie, die doch so viel wussten, nicht auch unsere Wissenschaft hatten. Aber ich begriff bald, dass ihr Wissen durch andere Einsichten ergänzt und genährt wurde als durch das Wissen auf unserer Erde, und dass ihre Bestrebungen gleichfalls ganz anderer Art waren. Sie wünschten nichts und waren ruhig, sie rangen nicht nach der Erkenntnis des Lebens so, wie wir es tun, denn ihr Leben war vollkommen erfüllt. Aber ihr Wissen war ein tieferes und höheres Wissen als das unserer Wissenschaft; denn unsere Wissenschaft sucht zu erklären, was das Leben ist, sie will es selbst ergründen, um die anderen zu lehren, wie sie leben sollen; jene aber wussten auch ohne Wissenschat, wie sie zu leben hatten, und das begriff ich, aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen.
Emerson in "Die Natur": Wie gelassen und kongenial erfasst der Geist ein Gesetz der Physik nach dem anderen. Welche edlen Gefühle erfüllen den Sterblichen, wenn die Schöpfung ihn ins Vertrauen zieht und wenn er durch sein Wissen das Privileg des DASEINS entdeckt. Seine Einsicht läutert ihn. Die Schönheit der Natur erstrahlt in seiner Brust. Der Mensch ist größer, da er dies zu sehen vermag, und das Universum kleiner, denn Zeit und Raumbeziehungen verschwinden in dem Maße, in dem Naturgesetze erkannt werden. Hier wiederum werden wir von dem ungeheuren Universum, das wir erforschen sollen, beeindruckt, ja erschreckt. „Was wir wissen, ist ein Inselchen im Meer dessen, was wir nicht wissen.“ Trotz seiner Erkenntnisse, dass diese paradiesischen Menschen „durch irgendetwas mit den Sternen in Verbindung standen, nicht nur durchs Denken, sondern durch irgendeine lebendige Fühlungsnahme“, trotz dass er Lieder vernimmt, die er nicht mit dem Verstand begreift, wohl aber mit dem Herzen, beginnt der Mann Fragen zu stellen, fragt, warum sie nichts hinterfragen, warum sie nicht neidisch aufeinander wären. Mehrmals fragte ich mich, weshalb ich, solch ein Prahler und Lügner, ihnen nicht von meinen Kenntnissen einiges mitteilte, von denen sie natürlich keine Ahnung hatten, um sie in Erstaunen zu setzen. Diese Frage wird ihm so drängend, dass er sie irgendwann ausspricht, obwohl sie nichts anderes als eine Selbstlüge ist, der unsinnige Wunsch, sich in einer herrlichen Welt zu unterscheiden, hervorzutun. Sie ist Lüge und Eitelkeit. Die Menschen werden hellhörig, finden Gefallen an den Schönheiten der Leidenschaften und dem Schmerz der Hinterfragungen. Von da an geht diese Welt Stück für Stück zugrunde (verfällt der Sünde) und verwandelt sich in jene gewöhnliche Welt, die man Erde nennt. Sie wird zu einem Sein, in dem die „Erkenntnis des Lebens höher als das Leben“, die „Kenntnis der Gesetze des Glücks höher als das Glück“ sind. Das Glück (wie auch das alte Leben im paradiesischen Zustand) wird Erinnerung und Götzenbild, das zwar angebetet, jedoch von den Menschen die sich in ihrer neuen Unvollkommenheit und ihren Fehlern wohlfühlen, zum unerreichbaren Ideal errichtet wird. Der Glaube wird ihnen Ausrede, das Streben nach einer besseren Welt zum unerreichbaren Ziel. Sie versuchen diesen Zustand nur noch geistig zu erfassen, nicht mehr mit dem Herzen. Sie wissen, dass sie schlecht handeln und statt sich zu ändern, rechtfertigen sie sich und errichten den Willen, den sie nicht umsetzen wollen. Sie leben im Zustand einer „Religion mit dem Kult des Nichtseins“. Da kam bei ihnen die Wissenschaft auf. Als sie böse geworden waren, fingen sie an von Brüderlichkeit und Humanität zu sprechen, und sie begriffen diese (als) Ideen.
… aber sie lebten es nicht.
Nachdem sie allen Glauben an das gewesene Glück verloren hatten und es ein Märchen nannten, wollten sie dermaßen gern wieder unschuldig und glücklich sein, dass sie vor den Wünschen ihres Herzens niederknieten wie Kinder, dieses Wünschen vergötterten, ihm Tempel erbauten und zu ihrer eigenen Idee, ihrem eigenen „Wunsch“ beteten, während sie dabei doch unerschütterlich an die Unerfüllbarkeit, Undurchführbarkeit der Idee weiter glaubten, trotzdem aber beteten sie sie weinend an und sanken vor ihr auf die Knie.
„Und sie priesen das Leid in ihren Gesängen“.
Als der Mann erwacht, scheint ihm der Wunsch, sich umbringen zu wollen, völlig absurd. Er ist nun der Narr, der an eine bessere Welt glaubt, dem es nicht ausreicht, Konstrukte zu errichten. SEHEN – HANDELN – LEBEN – nicht erklären wollen. Nicht erkennen wollen! – das wird ihm seine Moral. Außerdem liebe ich jetzt alle, und die, die über mich lachen, die liebe ich am meisten. Alles ist da, damit wir uns an ihm prüfen und schulen. Emerson: Jede Eigenschaft der Materie ist eine Schule für den Verstand – ihre Dichte oder ihr Widerstand, ihr Beharrungsvermögen, ihre Ausdehnung, ihre Gestalt, ihre Teilbarkeit. Und: Alle Dinge, mit denen wir zu tun haben, predigen uns. Bei Dostojewski nimmt jener Mann in Kauf, für den Traum, der ihn sehen ließ, zum lächerlichen Menschen zu geraten und zu lernen, welche Worte notwendig sind, um mit dem, was er in seinem Traum gesehen hat, die Menschen zu erreichen – das lebendige Bild dessen, was ich gesehen, wird ewig in mir sein und mich immer wieder korrigieren und leiten -, denn er weiß: Nach meinem Traum hatte ich die Worte verloren. Er hat das, was er mit seinem Verstand erklären will, wenn der Traum die Vernunft untergräbt und die absurden Umstände zu ganz natürlichen und akzeptierten Vorgängen macht, durch etwas anderes ersetzt, das ihm aus dem Herzen dringt. All das ist vergleichbar mit einem überwältigen Erlebnis, für das es keine Worte gibt, das man sehen muss, um es zu verstehen. Bei Drewermann heißt es über diese wunderbare Erzählung von Dostojewski ganz buddhistisch:
Wenn es so steht, dass alle Menschenschuld bei mir selbst beginnt, gibt es nichts mehr zu richten, nichts zu urteilen, nur noch zu verstehen.
Dostojewskis lächerlicher Mensch gibt zu, dass er seinen Traum zunächst im Idealzustand weiter verkünden wollte, statt zuzugeben, dass ausgerechnet er am Untergang des Paradieses schuld war (der Sündenfall). So wäre auch nach diesem Traum voller Offenbarung wieder eine Lüge entstanden (denn eine vergiftet alles, trug auch im Paradies zum Untergang bei, eine beinhaltet alle Lügen wie auch eine Wahrheit alle Wahrheiten enthält – Emerson: Jede universelle Wahrheit, die wir in Worte fassen, schließt jede andere Wahrheit ein oder setzt sie voraus. ) Erst durch den Kontrast, diese perfekte Welt mit der Lüge verdorben und zerstört zu haben, wird sichtbar, was der Grund dafür ist, dass er die Wahrheit erschaut hat und dafür die Verantwortung übernimmt. Verstehen lässt sich nur durch das Erschauen einer paradiesischen Welt und gerade daran, woran sie zugrunde ging. An sich selbst muss er in jeder Konsequenz handeln, nicht auf andere deuten, nicht nach Schuld suchen, was nichts anderes wäre, als das Errichten eines nächsten Götzenbildes, um davor zu knien, statt längst in die Welt zu treten und in ihr zu handeln, mit dem festen Glauben daran, das Richtige zu tun. Auch hier finden sich für mich ermerson’sche Anklänge, der sagte, die Natur sei in uns, dass jeder instinktiv wüsste, wie er handeln muss, ohne einem anderen zu schaden. Dostojewskis Mann eilt daraufhin hinaus, um das Mädchen zu suchen.
(Alle Zitate sind der Gesamtausgabe Dostojewski von Zweitausendeins entnommen. Übersetzung durch E. K. Rahsin)
© Annelie Jagenholz
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