Philippe Ariès - Geschichte des Todes


 

Teil 2

 

 

Wie nun wurde der Tod und das Danach im Mittelalter tatsächlich empfunden?

Führt man sich die Evangelien vor Augen, könnte man annehmen, der Sünder fürchtete sich vor dem Danach. Stattdessen, obwohl schriftlich niedergelegt, nahmen die Menschen diese im Matthäus-Evangelium angekündigte Bestrafung nicht so ernst, daher herrschte auch keine Angst und der Tod wurde als Natur gegeben hingenommen.
Hierfür führt Ariès verschiedene, aus der Zeit erhaltene Ikonen und Darstellungen an. Der Mensch empfand, wie zuvor schon angedeutet, den Tod als Schlaf, bis er in Christi auferstehen würde. Daher war seine Auffassung vom Ende der Zeiten von der Apokalypse beeinflusst. Nur Verdammten war die Auferstehung nicht möglich, ihnen blieb der „verklärte Leib der Erwählten vorenthalten“.
Hier zeigt sich, dass im christlichen Abendland die erste bildliche Vorstellung vom Ende der Zeiten durchaus noch keine Vorstellung des Jüngsten Gerichts ist, wie es das Matthäus-Evangelium verkündet. Kein Mensch fürchtete sich vor Strafe oder Rechtfertigung, stattdessen hoffte man auf das ewige Leben, in das man übergehen würde, sobald man aus dem Schlaf erweckt würde. Die Menschen des frühen Mittelalters erwarteten die Wiederkehr Christi ohne Angst vor dem Gericht.



  • Wenn es ausnahmsweise einmal vorkam, dass die Grabplastik das Jüngste Gericht darstellte, so lässt sich an diesen Darstellungen ablesen, wie wenig es gefürchtet und wie sehr es immer und ausschließlich aus der Perspektive der Wiederkehr Christi und der Erweckung der Gerechten wahrgenommen wurde, die aus ihrem Schlaf erwachen, um ins himmlische Licht einzutreten.



Insbesondere die Heiligen hatten vor dem Jüngsten Gericht nichts zu befürchten. Die Verdammten dagegen schienen weniger sichtbar als die Erwählten zu sein, weil sie ihres Seins entäußert waren, da sie nicht auferstanden. In diesem Sinne kann auch eine heutige verworfene Version der Vulgata gedeutet werden:


  • „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: wir werden zwar alle auferstehen, aber nicht alle verwandelt werden.“



Es gibt Abbildungen zum Thema des Jüngsten Gerichts aus dem 11. Jahrhundert auf Taufbecken (gefunden in Belgien und in Châlons-sur-Marne). Letzteres zeigt die Auferstandenen nackt aus einem Sarkophag steigen, paarweise, jeweils Mann und Frau in enger Umarmung. Das Ende der Zeiten ist also erreicht, jedoch keine Andeutung auf ein Gericht vorhanden. Das heißt, die Auffassung war:


Die Getauften sind der Auferstehung und des ewigen Heils, das sie einschließt, gewiss.



Das jüdische Gebet für die Fastenzeit ist das älteste, christliche Totengebet. Schon in der Roland-Saga spricht der sterbende Roland diese Worte:


  • „Errette, Herr, die Seele Deines Dieners, wie Du Henoch und Elia vom allen gemeinsamen Tod errettet hast, Hiob aus seinem Leiden, Isaak aus den Händen seines Vaters Abraham, Lot aus den Flammen von Sodom, Moses aus der Hand des ägyptischen Pharao, Daniel aus der Löwengrube, die drei Jünglinge aus dem Feuerofen, Susanna vor falscher Anklage, David aus den Händen von Saul und Goliath, die heiligen Apostel Petrus und Paulus au dem Gefängnis und die heilige Jungfrau Thekka aus ihren drei schrecklichen Prüfungen.“



Dieses Gebet war damals vertraut. Deutlich wird, dass die angerufenen Gestalten keine Sünder, sondern in Prüfungen bewährte Gerechte sind. Wenn der Christ des frühen Mittelalters also in der Stunde seines Todes dieses Gebet sprach, hatte er „den triumphierenden Eingriff Gottes vor Augen, der den Prüfungen der Heiligen ein Ende setzte“.
Diese Auffassung sollte sich bald ändern, wenn auch sehr langsam und schleichend.



Das Jüngste Gericht

 


In der ersten Darstellung des Jüngsten Gerichts aus dem 12. Jahrhundert überlagern sich zwei Szenen, eine alte und eine gänzlich neue.
Die ältere zeigt den (allgemein häufig übergroß dargestellten) Christus der Apokalypse in seiner Glorie. Die Darstellung symbolisiert „das Ende der vom Sündenfall Adams bewirkten Zerrissenheit der Schöpfung, die Aufhebung der Besonderheiten einer interimistischen Geschichte in den unvorstellbaren Dimensionen der Transzendenz: der Glanz dieses Lichtes lässt keinen Raum mehr für die Geschichte der Menschheit, ebenso wenig für die eigene Biographie des Einzelmenschen“.

In der neuen tritt unter der traditionellen Darstellung der zweiten Thronbesteigung eine vom 25. Kap. des Matthäus-Evangeliums beeinflusste Szene in Erscheinung: das Gericht des Jüngsten Tages und die Scheidung der Gerechten von den Verfluchten.



  • Diese Aspekte bringen im Wesentlichen drei Elemente zum Ausdruck: die Auferstehung der Leiber, den Akt der Rechtssprechung und die Scheidung der Gerechten, die zum Himmel auffahren, von den Verdammten, die ins ewige Höllenfeuer hinabgestürzt werden.



Diese Entwicklung hat sich lange vollzogen, als hätten der klassischen Vorstellung vom Jüngsten Gericht etliche Widerstände entgegengearbeitet. Himmel und Hölle sind häufiger dargestellt, das Gericht spielt derweil eine ganze Weile noch eine Nebenrolle oder wird nur angedeutet.
Dann aber wechselt die Darstellung und zeigt die Szene einer „juristischen Ermittlung“ durch den Erzengel Michael, der die Waage für die Seelen hält, wie hier z. B., von Rogier van der Weyden, bei dem mir die Darstellung besonders gefällt, da sie exakt das ausdrückt, was Ariès von anderen Darstellungen berichtet.


(„Erzengel Michael wägt die Auferstandenen“ von Rogier van der Weyden,
zu sehen auf dem Altar des Jüngsten Gerichtes im Hôtel-Dieu in Frankreich)


(Hier die Gesamtansicht des Tryptichons.)


Der Erzengel Michael entscheidet, wer Gottes würdig ist, so dass der Sterbende, wenn seine Seele den Körper verlässt, sich häufig im Gebet an ihn wendete. (Man beachte bei der Gesamtansicht des Tryptichons (15. Jahrhundert) die (besorgniserregende) zentrale Stelle der Wägung.)
Jedes Leben wird nun auf die Waagschale gelegt. Paradies und Hölle nehmen den gleichen Raum ein und auffallend ist auf vielen Darstellungen, dass auch Geistliche, Mönche und Männer der Kirche vor der Hölle nicht verschont bleiben.
Die alte Gleichstellung von Gläubigen und Heiligen ist damit zunichte geworden.

Auch werden die Sünder nicht nur durch den Heiligen Michael geschieden, sondern häufig ein zweites Mal durch das Schwert des Erzengels Gabriel.



  • Im 13. Jahrhundert hat sich der Einfluss der Apokalypse abgeschwächt und es bleiben nur in die Archivolten verwiesene Reste davon übrig. Die Vorstellung des Gerichts hat sich durchgesetzt.



Daher wechselt das Bild erneut, das Urteil der Waage kann durch den Richter aufgehoben oder verändert werden. Bittsteller (in ihrer Doppelrolle als Advokat) können um Barmherzigkeit und Gnade für den Sünder bitten. Christus sitzt nun häufig von Engeln und seinem Hofstaat (die zwölf Apostel) umgeben auf dem Richterstuhl. Seinen Heiligenschein hat er eingebüßt. Er allein spricht das Urteil.
Die um Milde Bittenden sind Maria und einige Jünger Christus, zumeist handelt es sich in Abbildungen um den Evangelisten Johannes.

Die Sünden und Handlungen der Menschen werden jetzt in einem Buch verzeichnet, später (ab dem 13. Jahrhundert) wird aus dem Buch ein Register. Man begegnet dem Symbol des Buches bereits beim Propheten Daniel, so ist es seit langem bekannt. Es wird in vielen Darstellungen als signatur liber vitae bezeichnet und enthält die Bewohner der terra viventium, das heißt, die, die berechtigt sind, ins Paradies einzugehen. Später wird das Buch nicht mehr die Auserwählten enthalten, sondern nur noch die Verdammten.


  • Und ein Buch wird aufgeschlagen,
  • Treu darin ist eingetragen
  • Jede Schuld aus Erdentagen.




  • Die Handlungen eines jeden Menschen verlieren sich nicht mehr im grenzenlosen Raum der Transzendenz oder – wenn man so will – im kollektiven Geschick der Gattung. Sie werden jetzt individualisiert. Das Leben wird jetzt nicht mehr nur als Hauch (anima, spiritus), als Vermögen (virtus) aufgefasst. Es setzt sich aus einer Summe von Gedanken, Handlungen und Worten zusammen.



Das Buch ist also zugleich Geschichte eines Menschen, damit seine Biographie, und die Auflistung als getrennte Spalten in gute und schlechte Taten. Deshalb hat das Buch seinen Platz unter den Symbolen des sittlichen Lebens bis ins 18. Jahrhundert behalten, während die Waage an Gehalt in den Darstellungen verliert.

Ariès verweist auf ein Gemälde von Jacopo Alberegno aus der Mitte des 14. Jahrhundert, das Christus mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien zeigt, während unterhalb die Seelen als Skelette dargestellt sind.



(J.Alberegno, „Das Jüngste Gericht“)

Und man merkt:



  • Jede dieser Seelen hält ihr eigenes Buch in Händen und bringt in ihren Gesten die Bestürzung zum Ausdruck, die seine Lektüre vermittelt hat.



Gegen Ende des Mittelalters wird das Buch von demjenigen gehalten, der daraus Nutzen zieht, ... der Teufel, der sicher ist, dass das Böse den Sieg davon trägt. Er schwenkt das Buch mit Vehemenz, um seinen Teil einzuklagen.
Ab dem 17. Jahrhundert wird ihm das Buch wieder aus der Hand genommen. Stattdessen verfügt der Mensch nun über zwei Bücher, eines, das seine guten Taten enthält und von seinem Schutzengel (Michael), ein anderes, das vom Teufel geführt wird. Gehandelt wird dann wie folgt:
Beim erbärmlichen Tod lässt der betrübte Schutzengel sein Buch fallen, womit alle guten Werke ausgelöscht werden, da das Gute, das er getan hat, für den Himmel nicht zählt. Der Teufel hebt sein Buch, das die ganze Geschichte des unglücklichen Lebens zusammenfasst.
Beim heilsamen Tod verkehrt sich das Schauspiel: Der Schutzengel hält das Buch hoch und weist auf die Tugenden, guten Werke, Fasttage, Gebete usw. und der Teufel zieht sich mit seinem Buch zurück, da die Sünden durch aufrichtige Bußfertigkeit getilgt worden sind.


Der individuelle Tod


Schließlich ersetzt der individuelle Tod das Jüngste Gericht und der Mensch gerät zu seinem eigenen Richter, wobei er beim Sterben ein Spiel spielt, das er gewinnen muss, um nicht in die ewige Verdammnis der Hölle zu geraten. Hier entfaltet sich allmählich die Angst vor dem Danach. Was vorher mit Asche und Staub gleichgesetzt wurde, war nun das Makabre, was im Mittelalter nichts anderes bedeutete, als der Prozess der Verwesung und dessen ausführliche Darstellung in Literatur und Kunst.



  • Es ist übrigens nicht überraschend, das man ungefähr im 14. Jahrhundert dem Leichnam, dem „toten Körper“ (das Wort „Kadaver“ war noch nicht gebräuchlich) den Namen der Heiligen Makkabäer beilegte; sie waren seit langem als Schutzheilige der Toten verehrt worden, weil sie, zu Recht oder Unrecht, als Begründer der Totenfürbitten in hohem Ansehen standen.



Der tote Körper als Aas wurde sich mit aller Deutlichkeit vorgestellt, sowohl in Kunst als auch Literatur, wie es z. B. der Dichter Pierre de Nesson verstand, ins Wort zu fassen:


  • Und wenn du hinscheidest,
  • So wird, vom Tage deines Todes an,
  • Dein ekles Fleisch
  • Einen abscheulichen Gestank zu verbreiten beginnen.



Kein Wunder, dass die Furcht vor solchen Vorgängen erwachte, die zwar nur die Leiche selbst umgaben, jedoch erst hier richtig sichtbar gemacht wurden. Der Zerfall des Körpers fiel auch häufig mit den Warnungen vor dem Geschlechtsakt zusammen:


  • O sehr schmutzige Empfängnis,
  • O Elend, von Durchseuchung genährt
  • Im Bauche vor deiner Geburt.



Man suchte damals den Tod in den Tiefen des Lebens selbst. In Pisa noch sieht man ihn als lebendige Frau, unter deren Sense die Menschen sterben und ihre Seelen aushauchen, die wiederum von Engeln und Teufeln eingesammelt werden. Der letzte Atemzug ist das, was für die Menschen des 14. Jahrhunderts der Tod bedeutet. Endgültig abgelöst sind die Auferstehungsszenen und das Jüngste Gericht.

Die Darstellung neben dem universellen Tod sind zum Beispiel von Reitern umgebene drei Särge, in denen die Toten in verschiedenen Verwesungszuständen liegen, mit aufgeblähtem Bauch, mit Fleischresten und als Skelett. Auch tritt als eine kurze Erscheinungsform der „Erstarrte“ in der Grabplastik auf, als die Personifizierung des Todes. Der Ort des Todes wird in Motiven vom Sterbebett auf den Friedhof verlegt und der Tod wird Totentanz.



  • Der Totentanz ist ein tendenziell endloser Rundtanz, in dem sich jeweils ein Toter und ein Lebender abwechseln. Die Toten führen den Reigen an und sind die einzigen, die tanzen. Jedes Paar setzt sich aus einem nackten, entfleischten, geschlechteslosen und wilden Gerippe und einem je nach seinem gesellschaftlichen Stand gekleideten und gänzlich verblüfften Mann (später auch eine Frau) zusammen. Der Tod reicht seine Hand dem Lebenden, den er sich ausersehen hat, der ihm aber noch nicht Folge leistet. Die Kunstwirkung besteht im Kontrast zwischen der rhythmischen Wildheit der Toten und der Gelähmtheit der Lebenden. Der moralisch-erzieherische Zweck ist der, die Ungewissheit der Todesstunde und die Gleichheit der Menschen angesichts des Todes vor Augen zu führen.



In den vor dem 16. Jahrhundert entstehenden Bildern von Tanz, Mensch und Tod fällt auf, dass die Begegnung noch nicht gewaltsam ist, sondern nahezu sanft: Die Hand muss ich auf euch legen. Der Tod bezeichnet den Lebenden eher, als dass er blind zuschlägt:
Kommt nahe herbei, ich erwarte euch…
Noch heute nacht müsst ihr davongehen…
Auf morgen seid ihr vorgeladen…


Er lädt sein künftiges Opfer ein, ihn zu betrachten, und sein Anblick dient als Mahnung.

Die darauf folgenden Allegorien und Motive (z. B. die sehr bekannten Ausdrucksformen von Breughel) stellen den Tod auf seinem Karren da. Er ist hier die Gestalt des blind zuschlagenden Schicksals, im offensichtlichen Gegensatz zum individuellen Tod, zum Tod im Sterbebett oder zu den Totentänzen. Doch trotzdem ist diese Allegorie vom ursprünglichen und traditionellen Gedanken „Wir sterben alle!“ weiter entfernt als z. B. die Totentänze. Davor war der Mensch mit dem ihm bevorstehenden Tod vertraut und hatte Zeit, sich darein zu fügen. Nun aber lässt der Tod keine Vorahnung mehr zu:

  • Ich spieße und steche, wen ich weiß, woran ich bin,
  • Ohne Vorwarnung alle, die lange genug gelebt haben.


Der Karren ist das schwerfällige Fahrzeug (der Triumph des Todes), das die Lebenden hinstreckt und überfährt, die nichts geahnt haben. Auch fehlt diesen Darstellungen die Ironie der Motive vom Totentanz. Ganz im Gegenteil soll darauf hingewiesen werden, wie absurd und widernatürlich der Tod ist: Der Tod des Triumphes schreitet starr geradeaus, wie ein Blinder.



Ariès warnt davor, nicht vorschnell zu urteilen, will man die Epoche des Makaberen samt der traumatisierten Sensibilität des 15. Jahrhunderts ausschließlich auf die zahlreichen Pestepidemien zurückführen, warum der Kadaver so sehr in den Vordergrund gerückt ist. Viel eher fand ein Nebeneinander der Entwicklung statt. Hier schreibt der Historiker J. Heers:

  • So hat ein exzessives Vertrauen in manche Zeugnisse und Zeugen der Zeit – Kirchenmänner, die, häufig wenig geübt, die Zeichen entziffern, vielmehr auf ganz natürliche Weise geneigt waren, die Verluste und Nöte zu übertreiben und ein deformiertes und romanhaftes Bild zu entwerfen und die Prüfungen einer Menschheit zu beklagen, die sie vom Zorn Gottes heimgesucht sahen – dazu beigetragen, eine Art schwarzer Legende ihrer Zeit zu beglaubigen.


Vielmehr wurden die an den Kadavern entstellten Züge der äußeren Erscheinung nicht reproduziert, um Angst einzuflößen, sondern dienten als realistische Momentaufnahme, als lebenswahre Realität.



  • So bediente man sich auf dem Höhepunkt der makabren Epoche des Todes nur, um die Illusion des Lebens – im Verein mit der der Ähnlichkeit – zu erwecken. So als gäbe es zwei säuberlich getrennte Bereiche, einerseits den der makabren Effekte, mittels derer der Tod Angst einflößte, andererseits den der Porträts, in denen er seinen täuschenden Zauber entfaltete.


Die makabre Kunst machte also das sichtbar, was nicht wahrnehmbar war und sich im Verborgenen abspielte: die schleichende Verwesung. Sie ist damit kein Resultat der Beobachtung, so erklärt Ariès, sondern Produkt der Imagination.