Philippe Ariès - Geschichte des Todes

© Annelie Jagenholz


Teil 4



Das Grab


Auch die Geschichte des Grabes ist keinesfalls eine gradlinige. So galt es als Schande, ohne Sarg begraben zu werden, wie es sich z. B. in den Ländern des Islams bis heute erhalten hat, wo die Toten, ins Leichentuch eingenäht, direkt in der Erde bestattet werden. Auch gab es lange Zeit anonyme Gräber, was die Annahme zulässt, dass der Mensch sich so von seiner sterblichen Hülle befreite und jene Hülle, hatte das Leben sie einmal verlassen, für nichts mehr galt.
Während die Fürbitten wichtig, die Bruderschaften bestürzt waren, wenn z. B. Ertrunkene, Arme, durch Unglücksfälle zu Tode gekommene Menschen wie „Tiere, Hingerichtete oder Exkommunizierte auf den Schindanger geworfen wurden“, nahm keiner Anstoß daran, wenn das Grab anonym blieb:



  • Das liegt im Grunde daran, dass das Bedürfnis, der eigenen Grabstelle und der der Angehörigen öffentliche Reputation zu verschaffen, zu Beginn der Neuzeit nicht als dringlich empfunden wurde.

 




Das wiederum ist kein Wunder, für eine Zeit, in der die Gebeine der Toten aus den Gräbern in den Beinhäusern „auf einem Haufen kunterbunt in wirrem Durcheinander“ (Villon) aufeinander gestapelt wurden.


  • Wenn ich die Totenschädel alle so betrachte,
  • Die hier im Beinhaus ruhn, zu Haufen aufgeschichtet,
  • Und überlege, was ein jeder trieb und machte,
  • Als er noch lebend war und nicht so zugerichtet,
  • So dünkt es mich, sie waren Männer allesamt
  • Von hohem Stande, wohlversehn mit Ehren, Würde, Amt.
  • Ob Bischof einer war, Landstörzer oder Schmied,
  • Hier gibt es zwischen hoch und niedrig keinen Unterschied.


(… zitiert aus den wunderbaren Versen „Le Grant Testament“ von Villon)



Dazu lag der Leichnam nicht zwangsläufig an einem einzigen Ort, wie es noch beim antiken Grab der Fall war oder in der heutigen Zeit Voraussetzung ist.



  • Überdies war es immer möglich, das ein einziger Leichnam mehrere Grabstellen erhielt, sei es, dass er zerstückelt wurde (Grab des Fleisches, Grab der Eingeweide, Grab des Herzens, Grab der Gebeine), sei es, dass sich die Funktion des Andenkens verselbstständigte, sich von der Grabstätte löste und dass der Verstorbene so an mehreren Stellen zugleich verehrt wurde, ohne sonderliches Privileg des authentischen Grabes.



 

Die Menschen glaubten daran, dass ihr Leib der Erde zurückgegeben, ihre Seele aber zu den Sternen aufsteigen würde.
Diese Ewigkeit und Unsterblichkeit, einmal als aufsteigende Seele und gleichfalls in der verdienstvollen Erinnerung auf Erden, war ein fester Begriff und fand sich gerade auf Inschriften von angesehenen Menschen und Heiligen. Es galt also, sich bereits auf Erden Ansehen und Ehre zu verschaffen, um dann die ewige Seligkeit erfahren und genießen zu können. Tugenden werden den Himmel öffnen, das war die Devise.

So ist die Verehrung der Reliquien von Heiligen auch gut nachvollziehbar, von denen manche ihrer Grabstätten keine Inschrift über das aufweisen, wer sie waren, sondern nur, was sie getan und womit sie sich die Seligkeit und das ewige Andenken auf Erden verdient haben.



  • Die Schwierigkeit einer solchen reinlichen Scheidung zwischen himmlischer Unsterblichkeit und während des Lebens auf Erden erworbenem Ansehen rührt vom fehlen einer scharfen Trennlinie zwischen der Welt des Diesseits und der des Jenseits her. Der Tod bedeutete weder vollständige Trennung noch unverzügliche Vernichtung.



 

Darin, dass die Trennung nicht existierte, das Andenken der Lebenden vom Heil seiner Seele nicht geschieden ist, liegt die eigentliche Bedeutung des Grabes, ist sich Ariès sicher.

Es gab also zwei Hauptkategorien an Begräbnissen. Einmal die der nahezu gesamten Bevölkerung, für die der absolute Glaube an ein Leben nach dem Tod wichtiger war als das Andenken an den Leib und an das irdische Leben, die der Nachwelt jedoch nichts zu überliefern und auch nichts Bemerkenswertes geleistet hat. Zum anderen die der seltenen Individuen (Heilige und ähnlich angesehene Menschen), die eine Botschaft oder Losung zu übermitteln hatten. Die Menschen der ersten Kategorie bedurften in diesem Sinne keines Grabes, die anderen hatten sogar ein Anrecht darauf, um das Andenken an ihre außergewöhnlichen und überlieferten Verdienste zu erhalten.

Nun hätte sich die Anonymität der Gemeinschaftsgräber, wie sie die Masse der Menschen ja pflegte, in Hinblick auf den um sich greifenden Materialismus behaupten können, aber die Dinge haben sich genau ins Gegenteil verkehrt.



  • Vom 11. Jahrhundert an setzt nämlich die neue, langsam und kontinuierlich verlaufende Phase ein, in der der Gebrauch des sichtbaren, vom Leichnam häufig räumlich getrennten Grabes wieder häufiger wird. Der Wunsch nach Wahrung des Andenkens geht dann von den erlauchten Persönlichkeiten auf die Mehrheit der Sterblichen über, die, sehr zurückhaltend und ganz allmählich, ihre Anonymität hinter sich zu lassen versuchen, sich aber nichtsdestoweniger weigern, eine bestimmte Schwelle der Zurschaustellung und der realistischen Präsenz zu überschreiten …



Das Epitaph

 


 

Nachdem also wieder Wert darauf gelegt wurde, auch auf Erden zu überdauern, begann man mit ersten Grabinschriften, die die Identität und ein gelegentlich festgehaltenes Wort der Lobpreisung umfassten. Im 12. Jahrhundert ist das Epitaph nahezu immer lateinisch abgefasst. Im 14. Jahrhundert ist die lateinische Inschrift immer noch gebräuchlich, wird aber nun auch häufiger in französischer Sprache vorgebracht.



  • Bis zum 14. Jahrhundert setzt sich das allgemein verbreitete Epitaph aus zwei Abschnitten zusammen: der eine, ältere, ist eine Identitätsangabe, die den Namen, die Stellung, das Todesdatum und zuweilen ein kurzes Lobeswort mitteilt. In der Mehrzahl der Fälle wird hier innegehalten und weder das Alter noch das Geburtsdatum erwähnt.
    Der zweite, im 14. Jahrhundert verbreitete Abschnitt ist ein an Gott gerichtetes Gebet für die Seele des Verstorbenen.

 



Dieser Abschnitt zeigt immer noch die Besorgnis angesichts des Jüngsten Gerichts. Das Gebet ist zunächst noch ein anonymes Gebet. Danach wird die Inschrift zur Lektion und zum Aufruf (für die Lebenden), zunächst (12. Jahrhundert), um am Grab über den Tod zu reflektieren und Einkehr zu halten – Was wir einst waren, bist du jetzt, und was wir sind, wirst du sein.“ -, dann (14. Jahrhundert), um für den Verstorbenen Fürbitte zu halten:

  • Ihr guten Leute, die ihr hier vorüberkommt,
  • Werdet um Gottes willen nicht müde, zu beten,
  • Für die Seele des Leichnams, der hier unten ruht.



Auffällig ist die Bemühung, zwischen Seele und Körper zu unterscheiden. Auch auf die Angabe des Alters wird bei diesem Epitaph noch verzichtet.

(Kurzes Dazwischen: Dieses Wenden an die Vorübergehenden, die nachdenken sollen, gibt mir zu denken. Wenn ich da an den heutigen Brauch denke, der von Schlichtheit bishin zu fast schon leidvollen Bemerkungen, wie: Hier ruht das Mädchen … Sie wurde ermordet. – reicht, wie ich es mit einem Gruseln auf dem Friedhof gelesen habe, auf dem mein Opa begraben wurde. Was für ein Wandel und welche Vielfalt, dass jeder das Grab und dessen Aussage nutzt, wie er es für richtig befindet. Wenn dabei das Grab eine Anlaufstelle für die Lebenden und Zurückgebliebenen ist (denn was hat, aus heutiger Sicht, der Tote davon?), wie schwer muss diese ständige Erinnerung (Mord) verstärkt auf der Seele lasten? Als ob nicht die Erinnerung an das Mädchen sowieso die schreckliche Art des Todes enthält, warum also noch auf einem Grab festgehalten? Um nicht zu vergessen? Um ganz und gar zu trauern? Trost kann hier nicht zu finden sein, vielmehr erreicht mich hier ein Aufschrei. Ist diese Grabschrift also für die anderen Menschen gedacht, die vorbeikommen? Oder wollten die Eltern oder Angehörigen sich gar an den Mörder selbst richten? Wenn ich so überlege, wozu Inschriften alles genutzt wurden, ist das gar nicht so weit hergeholt. Da zeigt sich, wie vielfältig die Gräber und Epitaphe heute sind, welche Breite sie bieten, alleine aus einer langen Entwicklung mit Moden und ihren Untergängen und ihrer Wiederbelebung.)

Aber zurück zum Eigentlichen:
Derjenige, den also das Epitaph des 12. bis 14. Jahrhunderts anspricht, ist nicht, wie heute üblich, ein Angehöriger oder Freund des Verstorbenen.
Das Gefühl der Klage am Grab war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vollkommen unbekannt. Der Gesprächspartner des Toten war wirklich jeder Vorübergehende, jeder Fremde, der den Friedhof durchstreifte. Manchmal wurde dieser sogar ganz abrupt gebremst: Halt ein, Vorübergehender, hier ruht ein ehrbarer Mann (gestorben 1575). Bete für ihn, der du deines Weges gehst.
Hier gerät der Vorübergehende zum Andächtigen. Er kann aber auch einfach nur ein Spaziergänger oder Neugieriger sein:


  • O du, Vorübergehender, der du über ihre Asche hinschreitest,
  • Erstaune nicht (…),
  • Ich bitte dich, Vorübergehender, betrachte die edle Grabstätte.



Hier soll das Grab eine Geschichte erzählen, wobei Interesse und Gedächtnis selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Ab dem 15. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert hinein nahm das Epitaph dann die Tendenz zur Beredsamkeit und langatmigen Ausschweifung an. Von nun an wird dem Todesdatum auch das Alter hinzugefügt.



  • Dieser Zusatz entspricht einer mehr statistischen Auffassung des menschlichen Lebens, das hinfort eher durch seine Dauer als durch seine Wirksamkeit definiert wird – eine Auffassung, die die unserer technisierten und bürokratisierten Industriegesellschaft ist.



Auch wird bald nicht nur ein Bestatteter genannt, sondern seine gesamte Familie. Hier ruhen… Der Herr nehme ihre Seelen zu sich. Amen.

Damit haben sich alle formalen Elemente der epigraphischen Literatur zusammengefügt: Identitätsangabe, Anrede an die Vorübergehenden, die fromme Formel, rhetorische Weitschweifigkeit und schließlich das Einbeziehen der ganzen Familie.



  • Was früher auf einige wenige Worte oder Zeilen beschränkte fromme Ermahnung wird im 16. Jahrhundert zum erbaulichen Lebensbericht des Verstorbenen.

 


 


 

Dabei kam es häufig vor, dass die ausführlichen Epitaphe nicht am Grab selbst, sondern ganz woanders angebracht waren (Andachtstafeln z. B.), dass sie gar literarisch in einem Buch veröffentlicht oder eigens Gräber ausschließlich für das Epitaph errichtet wurden.

 

Ariès lässt einige Epitaphe (zum wahren Vergnügen des Lesers) noch einmal auferstehen, wo Menschen sich die Mühe machten, ihre ganze Lebensgeschichte zu berichten, darunter auch ihren Mut, ihre Erfolge, ihre Schlachten ins Wort fassten, dass sie in einer bestimmten zwei Pferde verloren haben, in Kriegsgefangenschaft gerieten, sich wieder befreien konnten… usw., also mit Details versahen, die so nebensächlich sind, für den Verstorbenen scheinbar aber über-wichtig waren, dass man das eine oder andere Lachen beim Lesen nicht unterdrücken kann (besonders auch mit den wunderbar ironischen Anmerkungen und Hinweisen Ariès’). Als Beispiel sei hier diese lustige Grabschrift eines Ehepaars zitiert:

  • Hier ruht, der reinen und unversehrten Herzens war,
  • Meister Mathieu Chartier (…),
  • Jeanne Brunon nahm er zur Frau,
  • Die züchtig bei ihm ruhte,
  • Und fünfzig Jahre einander treu,
  • Teilten sie das Bett ohne Zank und Streit.


(Da werden die beiden Menschen durch ihre Hinterlassenschaft in Worten allerdings wirklich wieder sehr lebendig. Man kann sich bestens vorstellen, wie die beiden züchtig beieinander ruhten (das mag stimmen) und ohne Zank und Streit miteinander lebten, denn wer dies noch im Tode betonen muss, der hat wohl gerne ausführlich gezankt und gestritten. )

Ariès führt aber auch Beispiele an, in denen sogar für Menschen, die sehr arm waren und in einem Gemeinschaftsgrab landeten, ellenlange Epitaphe verfasst wurden. Manch einer nutzte die Grabsteinfläche sogar zum Protest und verwies so auf all die Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren sind. Der Tod sollte wohl den Ruhm bringen, der im Leben verwehrt wurde. (Allerdings ist diese Art des vorwurfsvollen Klagens eher selten, häufiger ist das heroische Epitaph.)
Hier findet übrigens auch ein interessanter Wechsel statt. Während sich ein Jedermann besingen ließ, wurden die Epitaphe der Kleriker, denen sonst so viel Aufmerksamkeit gebührte, im Zuge der Gegenreformation immer schlichter. Die einzigen Kleriker, die sich dieser weltlichen Mode der Grabepigraphie anschließen, sind Soldaten – die Malteserritter.

Die meisten Epitaphe wurden von den Menschen als ein „Wenn es soweit ist…“ verfasst. Sich das Epitaph auszuarbeiten, war im 16. Jahrhundert eine Art Meditation über den Tod. Später oblag es der Familie, dem Verstorbenen eine Grabinschrift zu verfassen, auch scheuten sich einige nicht, darauf zu verweisen, dass sie das Grab samt des Epitaphs bezahlt haben und nennen sich daher namentlich auch an erster Stelle, noch vor dem Namen des Toten. Wie aufwendig das Verfassen eines damaligen Epitaphs war, zeigen manche Inschriften, die vom Tod eines Sohnes handeln und dann vier Jahre später auch den Tod der Ehefrau in selbiger Inschrift ankündigen und mit unterbringen.

 


 

 

Ariès berichtet, nachdem er die Art der Gräber (Flach-, Vertikal-, Horizontalgrab u. a.) umrissen hat, wobei letzteres bei den Christen Voraussetzung wurde, da man davon ausging, dass die vertikal aufrechte Lage den Eingang in die Hölle vereinfachte, von der Bildhauerei und Grabkunst, über die er als einen ausführlichen Gang durch eine Art imaginäres Museum die meisten historischen Schlüsse zieht. Es gibt Darstellungen, die zeigen den Toten kurz vor dem Tod, währenddessen oder kurz danach. Ariès unterscheidet zwischen der zunächst aufkommenden Darstellung des Ruhenden und der später auftretenden Darstellung des Betenden , bis beide Richtungen wieder ganz verschwinden. Häufig wird der Tote mit übereinander gekreuzten Händen dargestellt. Sind die Hände nicht zusammengefügt, so war das ein Verstoß gegen das Schema, das dann seine Bedeutung verlor (… erinnert an die betenden Hände heutiger Zeit). Hier eine Darstellung von Tullio Lombardo. Der Bildhauer hat 1525 die große schmerzliche Verstörung eins jungen Menschen, und zwar handelt es sich um Guidarello Guidarelli, zum Ausdruck gebracht, den soeben der Tod heimgesucht hat:


(Quelle: scultura-italiana.com)


Die häufigste Abbildung war die von Lazarus als den Prototyp des Todes des Gerechten. Von diesem Thema gibt es in der Kunst natürlich etliche Varianten, so seien hier ruhig einige angeführt:


(The Raising of Lazarus, Juan de Flandes(Museo del Prado, Madrid))


(Cecchino del Salviati, Raising of Lazarus, 1545 ) (Alexandro Turchi, Raising of Lazarus)


(Caravaggio, Raising of Lazarus)


Rembrandt „Auferweckung des Lazarus“


Das Thema der wandelnden Seele löst jene Vorstellung von der Seele ab, die zu den Sternen aufersteht. Sie wird häufig als Kind-Seele dargestellt, die von Engeln geleitet wird. Sie steigt auf und soll in Abrahams Schoß (der als sitzender Greis mit einer Schar an Kindern auf den Knien dargestellt wird, die die Seelen symbolisieren) landen.

Zwischendurch wechselt die Darstellung des ruhenden Toten auch schon einmal zum leblosen Körper, zum Leichnam samt Totenstarre, wie in den Heures von Rohan zu erkennen:


(Quelle: library.arizona.edu)


 

Das edle Tuch, auf dem der Tote in einer angedeuteten Totenstarre ruht (vielleicht auch an der verkrampften, rechten Hand zu erkennen), ist gleichzeitig das Leichentuch.

Und nach dem Ruhenden findet, wie gesagt, der Betende Einzug in die Grabkunst. Während der Ruhende den Tod als Schlaf symbolisierte, ist der Betende ein überirdisches Wesen, kommt häufig im Innenraum der Kirche zur Geltung, da der Stifter seine Zukunft im Jenseits darstellen will. Der Betende ist, selbst wenn er noch lebt, kein Mensch dieser Erde. Er ist eine „Gestalt der Ewigkeit“, kniend vor der Majestät des ewigen Vaters, vor der Jungfrau mit dem Kinde oder vor dem auseinander fliehenden Reihen einiger großer Heiliger. Er wird nicht nur ins Paradies geleitet, sondern ist Mittelpunkt der göttlichen Handlungen, die die Heiligen Schriften darstellen. Seine Haltung bringt die Antizipation des Heils zum Ausdruck, wie der Ruhende den Genuss der ewigen Ruhe demonstriert. Bei dem einen wie bei dem anderen herrscht die gleiche Ewigkeit vor, jedoch liegt beim Betenden der Nachdruck auf der Dynamik des Heils, während beim Ruhenden die Passivität der Ruhe in den Vordergrund rückt.




  • Solange die Gestalt des auf Knien Betenden mit gefalteten Händen Bestand hat, ist die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits verwischt.



Isabella von Aragon (es gab 1970 (durch R. Payne in Gang gesetzt) den Verdacht (denn die Ähnlichkeit ist verblüffend), dass sie die Mona Lisa von da Vinci sein könnte, die wirkliche Mona Lisa soll allerdings Lisa del Giocondo sein) stürzte vom Pferd, was eine Frühgeburt auslöste, woran sie starb. Es gibt von ihr eine sehr realistische représentation, die schon einige Historiker und Forscher zur Verzweiflung gebracht hat. Das Gesicht wirkt so echt und tot, dass der Verdacht aufkam, der Bildhauer hätte sich schon bei ihr der Tradition des Abnehmens einer Totenmaske bedient. Ihre „Totenmaske“ ist allerdings keine tatsächliche Totenmaske, denn diese wurden erst im 15. Jahrhundert allgemeiner Brauch. Trotzdem spekuliert auch Ariès, warum das Gesicht der eindeutig Toten so realistisch ist. Er spricht von der Darstellung einer Betenden mit ihrem Gesicht, die kniet (die ich leider nicht im Netz finden konnte). Aber an der liegenden Königin erkennt man deutlich genug, dass es sich hierbei um das Gesicht einer soeben Verstorbenen handelt:


(Quelle: kunst-fuer-alle)

… vergleicht man einmal mit dem Abbild der lebendigen Königin.

(Quelle : kleio.org)

Ariès erklärt, der Abguss ihres Grabmonuments, von dem er spricht, würde sich im Musée du Trocadéro befinden und sagt weiterhin:



  • Der Besucher kann sich der Wirkung dieses verschwollenen, durch eine Wundnaht entstellten Gesichtes mit geschlossenen Augen schwerlich entziehen. Es überrascht durchaus nicht, dass dieser Gesichtsaudruck einer unmittelbar nach Eintreten des Todes abgenommen Totenmaske zugeschrieben wurde, die der Bildhauer dann kopiert hätte.



Dafür allerdings ist, wie schon erwähnt, der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Isabella starb 1271. Das Gesicht der Frau ist das einer Toten, soll aber nicht Angst einflößen sondern nur Ähnlichkeit erzielen.
Ariès zitiert daher aus E. Erlande-Brandenburg „Le roi, la sculpture et la mort“:

  • Es gibt aus dieser Epoche keinerlei Zeugnis für eine Totenmaske. Sie tritt in der Tat erst im 15. Jahrhundert in Erscheinung. Die Erklärung für das Rätsel dieses Antlitzes liefert das Material: Eine Ton-Ader im kalkhaltigen Tuffstein lässt auf eine Ungeschicklichkeit des Bildhauers schließen.


Trotzdem merkt Ariès an, dass sie die Augen geschlossen hat, was für die Statue des Betenden keineswegs normal war.



  • Wenn man also auch einräumt, dass kein direkter Wachs- oder Gipsabdruck vom Antlitz der Toten genommen worden ist, ließe sich denn nicht annehmen, dass das Antlitz des Grabmals trotzdem eine Nachahmung ist?


 


Das ist sicher nicht von der Hand gewiesen. Der Bildhauer wurde vielleicht trotz allem direkt nach ihrem Tod gerufen und sollte ihr Gesicht einfangen.

Anhand der Grabikonographien des Ruhenden und des Betenden, wobei der Ruhende mehr dem Tode verbunden zu sein scheint, lebt und doch nicht lebt, während der Betende im Himmel ist und doch nicht im Himmel, zeigt Ariès auf, das sich die Vorstellung des Todes als neutraler Zustand trotz der Abwehr der Kleriker, Moden und Glaubensrichtungen erhalten hat. Hier entdeckt man die Ablehnung eines Dualismus des Seins, des Gegensatzes von Toten und Lebenden, von der völligen Gleichstellung des menschlichen Nachlebens im Jenseits und des unaussprechlichen Ruhmes der himmlischen Gestalten.



 

  • So hat ein mächtiger Tiefenstrom während eines halben Jahrtausends der Grabikonographie – und der kollektiven Sensibilität – massive und erstaunlich konstante Zwänge auferlegt, die die Schriftkultur nicht zum Ausdruck bringt und die sie außer acht gelassen hat – eine Vorstellung des Jenseits, die mit der der kirchlichen Lehre durchaus nicht genau zusammenfällt.



Der Ruhende ist im 17. Jahrhundert verschwunden, der Betende gegen Ende des 18. Jahrhunderts.



 

  • In den neuen Auffassungen, die einer Gelehrtensphäre entstammen und sich dann den mündlichen Kulturen und der gemeinschaftlichen Sensibilität mitteilten, hat sich die sehr alte und sehr widerstandfähige Vorstellung eines neutralen Zwischenzustands jenseits des Todes – zwischen Leben und Himmel – verloren und ist verblasst. Sie ist durch Glaubensinhalte ersetzt worden, in den man auf die von einer spontanen Sensibilität assimilierte Idee einer Trennung von Seele und Körper stößt: das Nichts für den Leib, und für die Seele ein – je nach Auffassung – unterschiedliches Geschick, das Überleben in einem wohlorganisierten Jenseits, das irdische Überleben im Andenken oder ebenfalls das Nichts. Das ist die gänzlich neue Vorstellungswelt vom 18. bis zum 20. Jahrhundert.