Wassili Rosanow
"Die Legende vom Großinquisitor"
Versuch eines kritischen Kommentars
Über ihn heißt es im Vorwort zu seinen Aphorismen „Solitaria“:
- Rosanow war sicher eine der bemerkenswertesten Figuren des „Silbernen Zeitalters“ der russischen Literatur zwischen 1895 und 1920. Er verkehrte in den Zirkeln der Symbolisten und arbeitete mit an ihren Zeitschriften wie der „Welt der Kunst“, der „Waage“ und dem „Apollon“. (…) Dazu war er einer der bewundertsten, aber auch bestgehassten und meistbeschäftigten Journalisten jener Zeit. Seine Glanzzeit als Schriftsteller fällt in die Jahre 1911 bis 1915, als er nach emsiger journalistischer, wissenschaftlicher und literarischer Tätigkeit auf den Gebieten der Literaturkritik, Kunstbetrachtung, Religionsphilosophie, Pädagogik, Mythenforschung und Kulturpolitik die beiden großen Aphorismensammlungen „Solitaria“ und „Verwehte Blätter“ veröffentlichte, die zusammen mit der „Apokalypse unserer Zeit" seine Stellung in der russischen Literatur begründeten. Kurze Jahre eines von Anfeindungen sowohl wie literarischen als auch politischen Fehden angefochtenen Ruhmes, aber eben doch des Ruhmes. Das Ende war bitter. Häusliche Unglücksfälle, die diesen überzeugten „pater familias“ und zärtlichsten, anhänglichsten Gatten doppelt empfindlich trafen, suchten ihn heim. Und die Revolution von 1917, die er ablehnte und verwarf, stieß ihn in die Not und Dürftigkeit, so dass seine Konstitution den Altersbeschwerden nicht standhalten konnte. Er starb in dem Klosterort Sergijew Possad bei Moskau …
(Heinrich Stammler)
Rosanow hat mit seiner Kritik die Dostojewskij-Forschung in Gang gesetzt und fordert sie bis heute heraus. Daher soll er auch näher betrachtet werden.
- Dort, „von wo keiner zurückgekehrt ist“, gibt es natürlich Leben, aber es ist uns nichts darüber berichtet, und aller Wahrscheinlichkeit nach, ist dieses Leben ein ganz besonderes, ein für unsere lebendigen Wünsche zu abstraktes, etwas zu kühles und gespenstisches. Darum klebt der Mensch so ängstlich an der Erde und will sich nicht von ihr trennen; doch da es früher oder später unvermeidlich ist, versucht er alles, um die Trennung nicht vollständig zu machen. Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, nach irdischer Unsterblichkeit, ist as seltsamste und unbezweifelbarste Gefühl im Menschen.
Aber diese Unsterblichkeit, dieses Leben unseres Blutes, nachdem wir zu einem Haufen Asche geworden, ist zu unvollkommen: Es ist eine zerrissene Existenz, zersplittert in zahllose Generationen, und birgt nicht das, was wir an uns am meisten lieben: unsere Individualität, unsere Gesamtpersönlichkeit.
Um auf Dostojewskij zu stoßen, ihn in seinen tiefsten Tiefen auszuloten, muss Rosanow weit ausholen. Die russische Literatur samt ihrer tiefen Abgründe und menschlichen Erhöhungen lässt sich nicht einfach kurz skizzieren, um dann auf das Wesentliche zu kommen. Nur kurz geht Rosanow am Anfang auf Dostojewskijs Weg ein, die Not seiner Schreibarbeit, die Unfähigkeit, sich die Zeit ganz und gar nehmen zu können, um in Muße zu schreiben.
Rosanow zeigt auf, dass „Die Brüder Karamasow“ ein eigentlich unvollendetes Werk ist, jedoch die Figuren darin vollendet sind, während alle anderen Figuren in den Romanen von Dostojewskij nur Skizzen und Vorstudien waren. Auch Smerdjakoff – dieser „geistige Quasimodo“, der „Torso eines menschlichen Wesens“ ist die Synthese alles Lakaienhaften und trotzdem eine Wiederholung der Hauptcharaktere, sowohl in den "Brüdern Karamasow" als auch in den anderen, als ein Inbegriff aller düsteren Gestalten Dostojewskijs. Und da Dostojewskij die Abgründe der Menschen, dieses „Wohin es führen kann!“ so tief zeichnet, so psychologisch durchleuchtet, kann das Werk trotz allem als vollendet betrachtet werden.
Rosanow lehnt eine allgemein gültige Behauptung ab, dass alle russischen Schriftsteller durch Gogol geprägt sind, sondern dass sie lediglich aus ihm hervorgehen und sich dann diametral gegen ihn richten. Über Gogol sagt er:
- Sein Hauptwerk nannte er „Tote Seelen“, und er hat damit, ohne es abzusehen, selbst das große Geheimnis seines Dichtens und seines Lebens offenbart. Er war ein genialer Schilderer der äußeren Formen; und ihrer Darstellung, zu der allein er fähig war, verlieh er fast, wie von Zauberhand, eine ungeheure, fast plastische Lebendigkeit. Deshalb merkte niemand, dass sich dahinter im Grunde nichts verbarg, keine Seele und kein Träger einer Seele.
Er zeigt auf, dass Gogol sich auf die reine Natur des Leides, der Liebe, der Zweifel beschränkt, ohne sie näher auszuleuchten, sie gar "eindimensionalisiert". Er hat statt einer Wirklichkeit nur Karikaturen gezeichnet, und das mit verblüffender Meisterschaft, warum sie sich auch so tief ins Gedächtnis prägen, wie es lebendige Gestalten nie tun. Dahinter aber steht für ihn die Tatsache:
„Mit leblosem Blick hat Gogol das Leben betrachtet und nur tote Seelen in ihm erblickt.“
„Seine Helden sind nach außen geworfene Eigenschaften seiner eigenen Seele (...)“ sagt Rosanow und bezieht sich auch auf Gogols „Briefwechsel mit Freunden“. Das Buch, heute unter dem Titel „Vermächtnis in Briefen“ bekannt, gab Gogol heraus, obwohl es keine einzige Zeile aus wirklichen Briefen enthält. Es sind fiktive Briefe, in denen er sich mit dem Wesen von Staat, Kirche, Theater, Poesie, russischer Dichtung und ähnlichem auseinandersetzt. Darum fällt es auch so schwer, Gogol als Mensch zu betrachten, weil wenig von ihm bekannt ist, nichts über sein Leben. Er existiert nur durch sein Werk, ist nur dort zu finden, zumindest hat sich Berdjajew so ähnlich ausgedrückt. Tatsächlich will Gogol mit seinen fiktiven Briefen erklären, wer er ist, während es trotz allem Literatur, nicht Wirklichkeit ist. Er sagt, in diesen Briefen wäre mehr über ihn zu finden, als in seinen Werken. Er drückt es so aus: „…denn meine Briefe enthalten laut Eingeständnis jener, an die sie gerichtet waren, mehr von dem, was der Mensch braucht, als meine Werke." (Vorwort, Seite 7)
Er schreibt die Briefe nieder, nachdem er sich von schwerer Krankheit einigermaßen erholt hat. Womöglich hatte er viel Zeit, um sich mit dem Leben und Sterben auseinanderzusetzen. Mit dem Sein an sich. Auch glaubt er, sein eigenes „Leben hinge nur noch an einem Haar“, er spürt den Verfall seiner Kräfte. Er möchte zum Abschied noch etwas von sich hinterlassen, das mehr Geist offenbart. Gogol bittet in diesem Vermächtnis alle um Entschuldigung: „Im allgemeinen war an meinem Umgang mit Menschen immer viel unangenehm Abstoßendes.“ sagt er. (Seite 9) Auch bittet Gogol darum:
- „… keinen verborgenen Groll gegen mich zu hegen, sondern statt dessen offen auf alle Mängel hinzuweisen, die in diesem Buch entdeckt werden könnten – sowohl die des Schriftstellers wie die des Menschen: meine Unvernunft, Unbedachtsamkeit, Selbstgefälligkeit, Anmaßung, kurz alle Fehler, die bei allen Menschen vorkommen, wenn sie diese auch nicht einsehen, und die ich wahrscheinlich in noch höherem Maß habe.“
Das hat sich Rosanow dann wohl zu Herzen genommen. Was ich schon interessant auf den ersten dreißig Seiten fand, ist die Betrachtung der Figur Aljoscha aus den "Brüdern Karamasow", die nach Rosanow keineswegs eine Kopie von Fürst Myschkin und in der Literatur sowieso nicht noch einmal zu finden ist. Er sagt, sie ließe sich, wenn überhaupt, nur mit der heranschreitenden Jesus-Gestalt im Bild Iwanows "Erscheinung Christi vor dem Volke" vergleichen.
(Quelle: commons.wikimedia.org) Detail:
Es ist natürlich schon eigenartig, wenn man von der Literatur Wirklichkeit erwartet. Ist nicht jede Figur, streng genommen, trotzdem nur eine Karikatur, so real sie auch gezeichnet sein mag? Vereint sie nicht mehrere Charaktereigenschaften oder eine einzige, dann jedoch überspitzte oder idealisierte in sich? Dostojewskij hat geforscht, hat die Abgründe des Menschen durchdrungen, versucht zu zeigen, was geschehen kann, wie sich Atheismus oder Gottglaube ausdrücken oder verkehren können. Wohin Freiheit führt und was sie in einer solchen Welt bedeutet. Die Suche war eine andere, als die bloße Darstellung von Charakteren, auch immer eine selbst erforschende. Seine Figuren dienten ihm eher als Ausdruck bestimmter Eigenschaften. Gleichzeitig karikierte auch er wirkliche Personen, z. B. Turgenjew. Dostojewskij gibt in einem Brief an Maikow zu verstehen, dass er einen "letzten Roman" schreiben will, im Umfang von "Krieg und Frieden". Darin soll die Frage nach der Existenz Gottes behandelt werden. "Der Held ist im Laufe seines Lebens bald Atheist, bald Gläubiger, bald Fanatiker, bald Sektierer, dann wiederum Atheist." erklärt Dostojewskij dort, womit er wohl eindeutig Iwan Karamasow meint. (Man muss sich dabei dann noch vor Augen führen, dass Dostojewskij das ganze und fast fertige Konzept zwei Jahre lang im Kopf herumtrug, bevor er es dann zu Papier brachte.) Der zweite Teil der Erzählung sollte in einem Kloster spielen und als Hauptfigur den Bischof Tichon Sadonski, einen echten Wanderprediger und Theologen, ins Bild setzen, der bei ihm dann als Starzen Sossima erscheint. Jedoch hat er ihn dann lediglich als Randfigur auftreten lassen, sich mehr auf "den Knaben" konzentriert. Aljoscha wirkt durchaus wie eine leuchtende Gestalt. Rosanow sieht ihn als die "offentsichtlich gespaltene Figur des Tichon". Zum Thema Kritiker und den zeitgenössischen Geschmack sagt Gogol exakt das, was Rosanow dann auch tut. Er kennt also den Vorwurf schon:
- Diese Kritiker werden ihm selber die Charaktereigenschaften seiner Helden zuschreiben, werden ihm Herz und Seele und den göttlichen Funken des Talents absprechen, denn sie erkennen nicht an, dass das Glas, welches die Gestirne des Himmels vor das Auge zaubert, ebenso wunderbar ist wie dasjenige, welches uns die Bewegungen der unscheinbarsten Lebewesen sichtbar macht. Der Richterspruch der Zeitgenossen will nicht wahrhaben, dass es ungewöhnlicher seelischer Tiefe bedarf, um ein Bild des missachteten Alltagsdaseins als Perle der Schöpfung ins Licht zu heben, dass hochherziges Lachen erhabenem lyrischen Überschwang ebenbürtig ist und dass zwischen jenem Lachen und den Grimassen des Possenreißers in der Jahrmarktsbude ein unüberbrückbarer Abgrund liegt! Das alles übersieht die zeitgenössische Kritik, sie verkehrt es in Schimpf und Schande für den Dichter, dem sie ihre Anerkennung versagt und den sie ohne Teilnahme, ohne Antwort und Verständnis wie einen heimatlosen Wanderer seine Straße ziehen lässt. Schwer ist die Bürde seiner Sendung und das Bewusstsein der Verlassenheit.
("Briefe an Freunde")
Rosanow spricht Gogol tatsächlich das Menschliche seiner Figuren ab. Er sieht in ihnen nur Leichname, Gogols Ängste und eigene Fehler, die sich nie über sich selbst hinausentwickeln, geschweige denn ein einzig wirkliches Gefühl offenbaren. Im Gegensatz zu der Lebendigkeit bei Dostojewskij, Turgenjew, Tolstoi u. a., deren Figuren atmen, in denen sich der Leser wiedererkennt, alleine weil sie keine Stereotypen sind, wie z. B. der stinkende Petruschka oder der immer betrunkene Selifan, entwirft Gogol nur Abstraktionen an Menschlichem, umpflastert mit einer Moral.
Gogol sagt jedoch selbst zu den „Toten Seelen“ in seinen „Briefen an Freunden“:
- Ich bin schon viele meiner Fehler dadurch losgeworden, dass ich sie auf meine Helden übertragen habe, ich habe sie in ihnen verspottet und zwang auch andere, über sie zu lachen… Das wird dir auch erklären, warum ich dem Leser keine tröstlichen Erscheinungen geschildert und warum ich keine tugendhaften Menschen zu meinen Helden erwählt habe. Die lassen sich nicht ausdenken.
Rosanow sagt dazu: Seine Helden sind nach außen geworfene Eigenschaften seiner eigenen Seele… …und hält Gogols Figuren im Vergleich zu der nächsten Generation für „erbärmliche Puppen“, ein „boshaftes Grinsen über etwas, worüber noch niemand gegrinst hat“. Hierbei teile ich seine Meinung allerdings in keinster Weise. Ich musste häufig lachen und fand die Figuren auch sehr lebendig, gerade in ihrem bewusst auf den Leib geschneiderten Eindimensional-Charakter. Für Rosanow ist eine richtige Figur diejenige, durch die der Leser beginnt, sich selbst zu hinterfragen. Bin auch ich so gütig in einer solchen Situation? Wie würde ich reagieren? Kann ich unter diesen Umständen verzeihen? usw. Im Gegensatz zu den anderen, schönmalerischen Autoren, die Rosanow bereits genannt hat, sagt er von Dostojewskij:
- Er wählt kein einziges Bild aus der Natur, um es zu lieben und wiederzuerschaffen; ihn beschäftigen nur die Fäden, die alle diese Bilder verbinden; wie ein kühler Analytiker beobachtet er lediglich und will nur erfahren, warum die Gotteswelt so entstellt und so fehlerhaft ist. Mit dieser Analyse geht bei hm auf unerreichte Weise das Gefühl brennender Liebe für alles Leidende einher.
Über die Figuren Turgenjews sagt er:
- Es wäre unzeitgemäß, heutzutage z. B. die Gestalten Turgenjews zu analysieren, obwohl seit ihrer Entstehung nur wenige Jahre vergangen sind. Sie haben dem Interesse eines Augenblicks entsprochen, wurden zu ihrer Zeit verstanden und haben nur noch rein künstlerischen Reiz. Wir lieben sie wie lebende Wesen, aber wir suchen in ihnen nichts zu erraten.
Turgenjews Romane sind in meinen Augen wunderbar geschriebene Werke. Doch in diesem Sinne hat Rosanow Recht, denn seine Figuren bergen keinerlei Geheimnis. Sie sind, was sie sein sollen. Durch das Beispiel von Dostojewskijs Schilderung auf der Weltausstellung in London, wo er Müttern begegnet, die ihre Kinder zum Verkauf anbieten und Scharen an Arbeitern - weiße Neger – die ihre im Fluch verdiente Kohle für den kurzen Moment des Vergessens auf den Putz hauen, gerät Rosanow zu folgenden Gedanken:
- Das Ziel jedes normalen Entwicklungsprozesses ist das Wohlergehen des sich entwickelnden Wesens. (…) Der Mensch ist das sich entwickelnde Wesen und ist folglich das Ziel, aber nur in der Idee, in der Illusion: In Wirklichkeit ist der sich in diesem Prozess entwickelnde Mensch nur ein Mittel, das Ziel aber ist: Institutionen, soziale Beziehung, Wissenschaft, Kunst, Handel und Industrie.
Auch Berdjajew macht in seinen philosophischen Schriften häufiger die Aussage: Die Gesellschaft sollte eigentlich für den Menschen da sein, nicht umgekehrt. Stattdessen aber... na, muss man nicht mehr viel dazu sagen. Tolstoi, der Schöpfer der Figuren mit einem „abgeschlossenen, vollendeten Innenleben“, der bis an die Grenze des Krankhaften geht, um diese niemals zu überschreiten, trifft auf Dostojewskij, der genau an dieser Grenze erst beginnt. Das hat Rosanow gut erkannt. Dostojewskijs Gestalten sind nur flüchtig gefestigte Typen, Unruhige, Suchende, Zerstörende und Schaffende. Sie sind Schatten, immer wieder neu auferstehende Gebilde, umzingelt von ihren eigenen Ängsten und Abgründen, entstehende und auch wieder vergehende geistige Wesen. „Und deshalb regen uns seine Personen nicht zum Sehen, sondern zum Denken an.“ Dostojewskijs erste, mächtige Idee war nach Rosanow die Frage:
Wann wird der Mensch erscheinen, der Mensch als Ziel – dem man so viele Opfer gebracht hat?
(Bald mehr...)
(c) Annelie Jagenholz
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