Ken Wilber - Eros, Kosmos, Logos

© Annelie Jagenholz


Teil 1


 

Zunächst: Was mir an Ken Wilber und seiner Schrift – der erste Teil einer noch folgenden Trilogie – gefällt, ist seine klare Darstellung, das Öffnen des Denkens auch für Gebiete und „Räume“, die sich gar nicht so einfach erklären lassen.
Ihm gelingt das Hinweisen auf die verschiedenen Sackgassen vieler Denker und ihrer Theorien, die er aber darum noch lange nicht alle verwirft, sondern sie als Ansätze befürwortet, ihnen lediglich den Wert einer einzigen Lösung abspricht.

Er zeigt anhand von Fakten und Beispielen, dass die Welt, das Sein, alles, um uns herum, sich nicht lediglich auf materielle Weise oder als ausschließlich innerliche Vorgänge erklären lassen. All das ist komplexer, der Blick gehört in viele Richtungen geworfen, warum wir, als Mensch, auch die Fähigkeit haben, begreifen zu können, wenn auch nie das Gesamte, das Alles-Umfassende, das Absolute oder wie auch immer man es ins Wort, in einen Begriff fassen möchte. Es wird immer nur Teil von etwas sein, und das Gesamte ist schon darum nicht möglich zu begreifen, weil es kein Ende gibt, kein „das Alles“, kein Ganzes als letzte Instanz.

Um Wilber zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass alles Hierarchie, nichts ohne Hierarchie möglich ist. Jene, die von Heterarchien träumen und diese in ihren „Systemen“ und notwendigen Veränderungen sehen wollen, weil Hierarchie in ihren Augen immer „pathologisch“, mit Gewalt und Macht zu tun hat, wollen nicht verstehen, dass eine Entwicklung, egal auf welchem Gebiet, in welcher Beziehung, unter welchen Bedingung, immer eine Hierarchie ist.
Heterarchie ist nur auf einer Oberfläche, einer einzigen Ebene möglich, aber nichts besteht nur aus einer Ebene. Sobald Wachstum und Veränderung vorherrscht, herrscht eine positive (natürliche) Hierarchie. Nur deshalb kann man von einer höheren Entwicklung sprechen. Heterarchie ist dagegen ein „eindimensionales Flachland ohne Entwicklung“, es bedarf aber Hierarchien, die die Ebenen aufeinander abstimmen, auf das sie selbst höher steigen.


Unter beiden sich vor Augen geführten Bedingungen droht pathologisches Verhalten. Die Hierarchie kann zur Machtausnutzung und Unterdrückung führen, die Heterarchie zu einer so gleich getrimmten Einordnung, in der sich nichts mehr hervorhebt, sondern in dieser Gleichheit untergeht, sich angreifbar und lenkbar macht. In letzterer, pathologischer Situation findet einer seine Identität nur noch durch andere.
In einer pathologischen Hierarchie wiederum sieht sich der/das nicht mehr als Teil eines Ganzen, sondern nur noch als das Ganze, lehnt damit auch etwas über ihn hinausgehendes (das notwendig folgende größere Ganze) ab.
Grundsätzlich also muss natürliche Hierarchie (= Höherentwicklung, Wachstum) vorherrschen.

Deutlicher wird es am Beispiel des Wertens: Jeder Mensch wertet. Hier gibt es keinerlei heterarchischen Ansatz. Es gibt immer Dinge, die höher oder niedriger eingeschätzt werden. Der eine Mensch erhebt Egoismus zum einzigen Trieb, der andere stellt die Liebe zum Menschen z. B. über das Leben eines einfachen Miteinanders. Letzteres ist ein guter und menschlicher Ansatz (betrachtet man den Inhalt des Gewerteten), jedoch wird aufgrund des Inhalts oft nicht erkannt, dass auch hier gewertet wurde. Er hält sein Werturteil der Liebe für höher. Selbst im Gedanken, nicht urteilen zu wollen, liegt ein Wert. Eine getroffene Entscheidung ist Erhebung über andere Möglichkeiten.

Darum ist es z. B. auch völlig unsinnig, mit dem Moralisieren alles Bestehende als schlecht abzutun oder ausschließen zu wollen, denn eine Ebene vergrößert sich nur, wenn sie die gewesene absorbiert und in sich aufnimmt, um darüber hinaus weiter heranwachsen zu können, sich weiterzuentwickeln. (Bei einer Heterarchie z. B. würden die einzelnen Faktoren nur Haufen bilden, könnte sich nicht vergrößern, nicht wachsen.) Wilber warnt davor, den Blick auf die Dinge zu begrenzen oder Thesen aufzustellen, ohne die eigene Wertung dabei erkennen zu wollen, die dadurch trotzdem elitär sind, sich selbst aus der geforderten Heterarchie zur Hierarchie gestalten. Aussagen werden immer nur in einer Ebene gemacht und als „wahr“ anerkannt. In der nächsten Ebene sind sie schon wieder zu hinterfragen.

Ebenen sind damit Holons, Teil/Ganze, verbundene Ebenen.

Für Wilber besteht alles aus Holons. Holons sind Ganze, die Teil eines nächsten, übergeordneten Ganzen sind. Sie sind damit Teil/Ganze, da ein für sich stehendes Ganzes nie tatsächlich ganz sein kann, da es immernoch Teil eines weiteren Ganzen ist. Dieses wird nun als Holon bezeichnet, um das auch Relativierte mit einzubeziehen.

Betrachtet man das Holon als eine Ebene, so zeigt sich, dass je tiefer mehrere Ebenen übereinanderlagern, ihre Oberflächenstruktur abnimmt.

Ein Holon kann sich

  • 1) (Agenz) selbst erhalten (Bsp. Wasserstoffatom, das ein Wasserstoffatom bleibt)
  • 2) (Kommunion) sich anpassen (Bsp. ein Elektron reagiert auf die Anzahl aller Elektronen im Raum, wird Teil des Ganzen)
  • 3) (Transzendenz) transformieren, damit verändern (Bsp. zwei Wasserstoffatome und ein Sauerstoffatom verschmelzen und ergeben etwas Neues – Wasser, Ganze kommen zusammen und bilden ein neues Ganzes.)
  • 4) auflösen (damit rückfällig werden, Schritt für Schritt (in der Selbsttranszendenz) zurückschreiten, solange keine äußeren Einflüsse dazwischenkommen.



Das Kreuz des Holon: Selbsterhaltung und Anpassung horizontal gegenübergestellt, Transzendenz oder Auflösung vertikal gegenübergestellt.

Wichtig ist, dass Holons immer Holons von anderen sind, damit ein Kontext, der immer ein Kontext von einem Kontext von einem Kontext ist. Das bedeutet in unendlicher (Vor-)Nachfolge.
Dieses Holon nun ist sowohl ein Atom, sowohl ein Gedanke, sowohl ein Mensch, sowohl eine Kultur, sowohl ein Staat, sowohl die Natur, sowohl die Sterne… usw., begreift man es als Teil/Ganzes.
Dabei unterscheidet Wilber in höhere und niedrigere Holons. Aus den jeweils niedrigeren Ebenen entsteht eine komplexere, die mit der niedrigeren immernoch verbunden ist. Sie weist allerdings neue Merkmale auf, die zwar mit der niedrigeren übereinstimmen, umgekehrt aber nicht, was heißt: nicht jedes Merkmal der höheren ist auch in der niedrigen Ebene vorhanden (weil diese sich ja auch aus der niedrigeren entwickelt hat). So kann man sich die Form vielleicht auch besser klarmachen, dass je mehr Ebenen übereinander liegen, desto kleiner die Spanne, je mehr Tiefenstruktur, desto kleiner die Oberflächenstruktur ist. Gleichzeitig sind alle Ebenen miteinander verbunden.

Hier also sieht man die Physiosphäre (Materie) als niedrigeres Holon als die Biosphäre (Leben) als niedrigeres Holon als die Noosphäre (Geist). Gleichzeitig wird deutlich, dass sobald man die höhere Ebene vernichten würde, damit auch alle anderen höheren mit verschwinden würden, jedoch die niedrigere erhalten bleibt. Nicht umgekehrt.
Darum ist auch die Biosphäre ein niedrigeres Holon als der Mensch, damit grundlegender für den Kosmos, während der Mensch, als höheres Holon, weil komplexer, für den Kosmos bedeutender ist. Je niedriger ein Holon, desto grundlegender, weil es alle ihm höheren Holons mit vernichtet.
Hier spricht sich Wilber deutlich gegen die aus, die die Natur als absolut und bedeutungsvoller gegenüber dem Menschen sehen wollen, da sie immernoch ein niedrigeres Holon als der Mensch ist, jedoch nicht weniger grundlegend und wichtig für den Kosmos. Vernichtet man (sich) der Mensch, ist die Natur immernoch da. Aus ihr ist aber der Mensch als sich aus der Natur transzendierendes Holon (wesentlich komplexer) entstanden, warum seine Bedeutung für den Kosmos auch wichtiger ist. Er ist z. B. die Höherentwicklung des Primaten… usw. Höheres Säugetier entstand aus niedrigerem Säugertier, entstand aus Reptil, entstand aus Vielzeller, Einzeller und so weiter.



Für Wilber besteht auch das Gehirn aus drei Gehirnen – Reptilienhirn – niederes Säugetier – höheres Säugetier. Das darf man nicht so auffassen, als ob wir im Kopf drei Gehirne mit uns herumtragen, sondern erschließt sich aus dem Aufbau der Holons, der Ebenen, dass wir als höheres Säugertier automatisch auch die zwei anderen Ebenen (Gehirne) besitzen, da wir uns aus diesen entwickelt haben und darum immernoch mit den jeweilig unter uns liegenden Holons verbunden sind.

Wilber teilt das Sein, die Welt, damit jedes Holon in vier Quadrate. Rechts oben und unten sind die äußerlichen Merkmale und Beobachtungen (Strukturalismus), wo all das an Handlung, Verhalten und ähnlichem gewertet und gemessen wird, und Links oben und unten sind die innerlichen Reaktionen (Hermeneutik), wie Empfindung, Denken, Erfahrungen, Innenraum. Die oberen (rechten und linken) Quadrate sind jeweils die Individuellen (Ich und Es), die unteren (rechten und linken) die Sozialen (Wir und kulturelles Es).
Wilber macht gut deutlich, dass man nicht nur im Strukturalismus oder nur im Hermeneutischen das Sein erklären kann, denn für ihn vermischen sie sich nicht nur, sondern, wie schon erwähnt, birgt jedes Holon (bis ins kleinste Teil) alle vier quadratischen Ebenen, die auch alle mit einbezogen werden müssen. Man kann z. B. eine Gesellschaft nicht nur an ihren äußeren Merkmalen erklären, einen Menschen, nur anhand seines Verhaltens. Für das „innerliche Erfassen“ bedarf es Ehrlichkeit, Vertrauen, Aufmerksamkeit… usw. des Betrachters, ebenso Aufrichtigkeit des Menschen, der betrachtet wird. Alleine, was er sagt oder wie er reagiert, macht ihn noch nicht in seinem Gesamten aus.

Auch sieht Wilber das Bewusstsein nicht als inneren Raum, sondern als Tiefe, aus der sich alles ableitet.

  • „Weil das Bewusstsein Tiefe ist, kann man ihm keine Eigenschaften zuschreiben. Es ist Tiefe und nicht eine bestimmte, mit Eigenschaften ausgestattete Ebene der Tiefe wie Empfindung, Impuls, Wahrnehmung oder Intention: das sind Formen des Bewussteins, nicht Bewusstsein an sich.“



Daraus erschließt sich, dass es gleichgültig ist, wo man das Bewusstsein in der Zeit ansetzt oder in welchen Lebewesen es vorhanden ist oder ob es in Pflanzen vorhanden sein kann, da es sich hierbei nur um Formen des Bewusstseins handelt, aus Bewusstsein aber erst alles hervorgeht. Es reicht bis in die Tiefe, ist ohne Eigenschaften, ohne Qualitäten. Bewusstsein ist kein Ding oder Prozess, sondern eher, wie im Mahāyāna-Buddhismus, „reine Leere“, nach Wilbert dann eben reine Tiefe.

  • Da jedoch konkretes individuelles Bewusstsein selbstreflexiv an der Tiefe teilhat, vermag es die Leere zu realisieren.


Damit wird ebenso sichtbar, dass man bestimmte Dinge, wie z.B. das Unbewusste, nicht einfach abtun kann, dass weil ein Holon immer Kontext ist, nie etwas ganz erschlossen ist, sondern immer nur als Teil/Ganzes eines Teil/Ganzen eines Teil/Ganzen. Es ist damit den Menschen nur noch nicht gegenwärtig. Das Holon als Ganzes als Teil eines anderen Ganzes usw. Die erschlossenen Bereiche stoßen nie auf irgendwelche Grenzen, sondern grenzen sich selbst ein, da immer derjenige, der sich wissenschaftlich damit auseinandersetzt, seine Meinung und Ansicht als „höchstes Holon“ setzt, wo schon Foucault mit dem ganz guten Ausspruch: „Jede Wahrheit ist beliebig!“ später dann die Arroganz einer solchen Aussage erkennen musste, denn wenn jede Wahrheit beliebig ist, so auch die Wahrheit, die die Wahrheit als beliebig erkennen will.
Hier ließe sich höchstens im Sinne des Epimenides ein Paradoxon aufstellen:

  • Keine Wahrheit ist besser als die andere, auch diese nicht.


… was dann wiederum aber auch mehr Spielerei wäre.


Man kann das Gehirn nicht nur an seinen äußeren Merkmalen erklären, ebenso wenig die Welt und das Sein lediglich auf die Atome zurückführen, den Menschen nicht nur auf seine Libido. Jedes der bereits erschlossenen Gebiete trägt seinen Wahrheitsgehalt, seine wichtige Erkenntnis. Der Mensch ist auch (wie Freud sagt) durch die „Verdrängung“ seiner Libido bestimmt, das Gehirn auch anhand seiner Aktivität, Neurotransmitter, Synapsen, die Welt auch anhand seiner Atome zu erfassen (Reduktionismus), jedoch nicht ausschließlich. Daran lassen sich lediglich die äußerlichen Prozesse überschauen, doch wissen wir z. B. über die Struktur und Eigenschaft eines Gehirns noch lange nicht, warum sich ein bestimmter Gedanke oder ein bestimmtes Gefühl entwickelt (auch wenn reduktionistische Ansätze dieses gerne als einfache Gehirnaktivität erklären wollen, das sagt z. B. noch nichts über die Wirkung des Gedankens aus). Darum kann sich die rein wissenschaftliche Analyse äußerlicher Bedingungen auch immer nur in die völlige Ablehnung bzw. das Abtun mit Illusionen flüchten, da hier die Erklärung eben aufhört, sich nicht mehr materiell erfassen lässt. Die kognitiven Vorgänge bleiben unbeachtet.
Noch einmal zusammengefasst: Kein Holon existiert in einem der Quadrate, sondern alle vier Quadrate in jedem Holon, und alle Quadranten sind miteinander verflochten. Jedes Quadrat ist vom anderen abhängig, aber nicht auf jeweiliges reduzierbar.
Grob, die Welt (wie auch alles andere) lässt sich nicht nur anhand ihrer Bestandteile (Elemente) erklären und auch nicht nur anhand ihrer innerlichen Vorgänge. Wir haben keine eindimensionale Oberfläche vor uns, sondern eine drei- und mehrdimensionale. Ansonsten wird (die Pyramide des Lebendigen zum Gewebe des Lebendigen: Tiefe wird zu Spanne eingeebnet.)
(Und selbst wenn ein Holon also ist, die Welt ist, damit nicht in Gegensätze einteilbar ist, so ist z. B. Mitleid trotzdem immernoch besser als Mord, während man nicht sagen kann, dass Quarks besser als Photonen sind. An diesem Beispiel zeigt sich, was alles mitbeachtet werden muss. Auch darum ist alles miteinander verbunden.)

Wer also versuchen will, den Kósmos anhand von äußerer Spanne und empirischen Formen zu erklären, wird nur einen völlig wertentleerten Kosmos finden.

Oder mit den Worten Charles Taylor:
 


  •  Finale Ursachen und die damit zusammenhängende Sicht des Universums als einer sinnhaltigen Ordnung qualitativ differenzierter Ebenen wichen zuerst dem Bild einer Welt von mathematischer Ordnung und schließlich dem modernen Bild einer Welt [quantitativer] Beziehungen, die durch empirische Beobachtung aufzuschlüsseln und dazustellen waren. (Hegel, S. 4)



Was ganz einfach betrachtet folgende wilber’sche Schlussfolgerung nach sich zieht, betrachtet man die Seiten der Quadrate linker und rechter Hand:

  • … da jedes Ereignis auf der linken Seite stets irgendeine Entsprechung auf der rechten hat, kann es in der Tat so aussehen, als könnte mit einer erschöpfenden Beschreibung der rechten Seite alles gesagt sein, was zu sagen ist. Aber der Rechte Weg kann den Kósmos nicht ausschöpfen, er registriert und vermisst nur die Spuren dessen, was wirklich vorgeht.


Einseitigkeit kann eben nie ganz erfassen, so sehr auch versucht wird, das so darzustellen.