Gelesen habe ich die Winkler-Ausgabe, die von Wadim Tronin und Ilse Frapan aus dem Russischen übertragen wurde, gedruckt auf (ich zitiere) „Persia-Bibeldruckpapier“. Da es sich um eine Dünndruckausgabe handelt, ist das Buch nicht besonders dick, umfasst aber wohl doch seine 600 Seiten.
Die alltäglichen Manipulationskünste im und um das Gericht, die verschiedenen Tücken und Machtansprüche, die bezahlten oder überehrgeizigen Advokaten (z. B. gut in Kapitel 7 beschrieben: "Er war so ehrgeizig und fest entschlossen, Karriere zu machen; daher hielt er es für notwendig, in allen Prozessen, in denen er die öffentliche Anklage vertrat, eine Verurteilung zu erreichen.“), die innerlichen Probleme und Nöte dieser hier antretenden, einzelnen Menschen, die über Leben und Strafe entscheiden oder doch die Angeklagten verteidigen sollen, sind recht bezeichnend. Darunter der stets zu spät kommende Matwej Nikititsch, der abergläubisch ist und bei all seinen Schritten ein Orakel befragt, indem er sich z. B. vormacht, dass eine richtige Anzahl Schritte zum Lehnstuhl seines Schreibpultes, sollte sie durch drei teilbar sein, dazu dient, sein Leiden zu heilen. Er macht also sechsundzwanzig Schritte und setzt noch einen winzigen siebenundzwanzigsten dazu, um seine Bitte und Vorhersage wahr zu machen. Hier wird das Vormachen eines solchen Aberglaubens schön von Tolstoi umschrieben. Gleichzeitig gibt das Aufschluss über die gesammelte Meute, die da Entscheidungen treffen soll. Ich denke, Tolstoi wirft gleichzeitig einen Blick auf die Zeremonien und weist (später) auch auf die versteinerten Rituale der Kirche hin, die mit dem Glauben und insbesondere mit Jesus nichts mehr zu tun haben. Einerseits gibt es dem Menschen Hoffnung und Liebe, andererseits verführt es zu einem Konflikt, den du so gut erkannt hast: Geist und Körper, deren Einigkeit man nicht einfach abtun kann. Natur und Seele, Geist und Organismus, Trieb und Sehnsucht gehören nun einmal zueinander, sind jene Grenzen, die nur der menschliche und insbesondere kirchliche Verstand zu ordnen versucht. Gleichzeitig wird auf die Sünde beharrt.
Die einen gehen (in den Augen Tolstois) in die Kirche, weil sie sich Rettung erhoffen, die anderen, weil es die anderen machen, und die Gottesdiener und Repräsentanten jener Bauten mit allmächtigem Kreuz, um die „Show“ zu vollführen. Zu Ostern aber herrschen in Russland große Traditionen. Da wird dargebracht und Gebäck und Brot gebacken. Alles wirkt einfach und eindrucksvoller als jede Zeremonie. Die ganze Gemeinschaft macht sich ans Werk und freut sich aneinander und den eigenen Gaben. (Gleiches findet man in Griechenland vor.) Die Liebe untereinander ist in solchen Augenblicken sehr sichtbar. Ein wahres Prachtbild der Beschreibung ist z. B. die „liegende Dame“, Sofja Wassilijewna. Sie ist dünn, lächelt „ein gekünsteltes, falsches Lächeln, das aber einem natürlichen ganz ähnlich sah“ und hat dazu noch lange, gemachte Zähne, ist eine „sich immer noch jugendlich herrichtende Brünette“, die wohl ein Verhältnis mit ihrem Hausarzt Kolossow hat.
Die Fürstin ist die Mutter von Missi, die sich eine Ehe mit Nechljudow erhofft, die nicht "die Seine werden, sondern ihn zu dem Ihrigen machen" will. Ihre Mutter liegt in Gold, Seide und Spitzen gehüllt bereits seit acht Jahren und empfängt in dieser Weise die Leute. Hier wirft Tolstoi einen Blick auf die pure Dekadenz. Missis Vater ist einer jener Generäle, die reich sind (sich also nicht hinaufdienen müssen) und trotzdem zum Militär gehen, um ihre Perversitäten auszuleben. Dieser ließ Soldaten grundlos auspeitschen und sogar aufhängen. Tolstoi beschreibt ihn als fetten, widerlichen Mann, der mit vollem Mund Befehle erteilt, vor dem selbst Nechljudow die Achtung verliert. Als Nechljudow vor der liegenden Dame steht, bemerkt er über sie und Kolossow: (Kap. 27)
(Kap. 28)
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Den Anwesenden, so Tolstoi, kommt es nicht in den Sinn, das, was sie hier erleben, als Lästerung zu empfinden und als „Verhöhnung von Jesus“. Darum treten bei Tolstoi auch solche Gestalten bei einer Gerichtsverhandlung auf, die sich, trotz dass sie Geschworene sind, weigern, ein Urteil zu fällen oder selbst einen Schuldigen zu verurteilen. Der Gottesdienst unterliegt der gleichen Heuchelei, wie Nechljudow sie in den Häusern der gutbürgerlichen Dekadenz vorfindet. Die Priester sind von Kindheit an in diesem Glauben erzogen, dass das, was sie hier vollführen, die „wahre Religion“ sei, die Gefangenen glauben an das Wiedergutmachen ihrer Sünden, solange sie am Gottesdienst teilnehmen und auf eine Bequemlichkeit für das künftige Leben und auch die Maslowa empfindet ein „halb andächtiges, halb gelangweiltes Gefühl“ beim Gottesdienst.
Genau das ist eben, warum diese Welten und vielseitigen Ansichten von Moral und Handlung nebeneinander existieren. Jeder hat seine Überzeugung von dem, was er tut. Und wenn er vielleicht genötigt ist, sich zu bereichern oder ein Verbrechen zu begehen, wird er dieses in seinem Sinne rechtfertigen. „Ich musste so handeln, weil…“ Selbst, wenn jemand gegen seine Überzeugungen handelt, wird er sein Denken erst einmal an seine Handlung anpassen, weil er sonst gar nicht handeln könnte. Das, was für den Außenstehenden dann unverständlich wirkt, ist aber das Gleiche, das auch er auf sein Tun in Form einer Erklärung anwendet. Nur der Ausdruck der Handlung unterscheidet sich und ist darum im jeweils fremden Auge ungerechtfertigt bis schlecht oder sogar bösartig.
Die Auferstehung findet auf vielen Ebenen statt. Veränderungen, Neubesinnungen, Rückfall und Wiederbesinnung. Aber dahinter und vielleicht auch darüber steht eben jene Erhabenheit „Liebe“, zu der der Mensch durch sein Wesen und in so vielen Lagen und Schicksalsschlägen fähig ist. Ob für Nechljudow und die Maslowa wieder eine gemeinsame Liebe möglich ist, scheint mir anhand ihrer verschiedenen Entwicklungen eher unmöglich. Vielleicht ein neues Gefühl füreinander, wer weiß. Man sieht doch deutlich, z. B. im 46. Kapitel, wie der „gereinigte“ und handlungswillige Nechljudow, der seinen Hausstand auflösen, die viel zu große Wohnung verkaufen will, um ganz für Katjuscha da zu sein, sie notfalls auch zu heiraten (auch wenn er es ihr noch nicht mitgeteilt hat), sich sofort bereitwillig den Umständen unterwirft und das, was er so voller Elan vollziehen wollte, wieder hinten an stellt. "Es lohnt sich nicht, meine Lebensweise jetzt zu ändern“, redet er sich ein, „solange die Angelegenheit der Maslowa nicht entschieden ist." Eine Änderung seiner Lebensweise würde aber auch ohne, dass er die Maslowa als Ausrede benutzen müsste,umsetzbar sein, doch Nechljudow ruht sich lieber aus, schiebt zurück, was er doch so voller Pathos zuvor noch in die Tat umsetzen wollte. Die Begegnung mit der Maslowa, so philosophisch er (oder der Erzähler) ihr neues und darum notwendig sich so entwickeltes Dasein auch zusammengefasst hat, hat ihn verletzt und zögerlich gemacht. Nicht umsonst grübelt er über die Unmöglichkeit nach, „die Maslowa“ wieder in Katjuscha zurückverwandeln, die nun einmal nicht mehr existiert, weil eben die Maslowa Katjuscha ist, mit all ihren dem Leben unterliegenden Wandlungsprozessen. Die Frau, die heute so gleichgültig und sowohl den Umständen angepasst als auch durch sie geprägt ist, ist immernoch die gleiche, nur eben verändert. Rückgängig ist daran nichts zu machen, und das ahnt Nechljudow wohl, warum er auch erst einmal wieder sein Leben so aufnimmt, wie es zuvor war. Er selbst ist mitschuldig an dieser Verwandlung, hat mit seiner Leidenschaft und der darauf folgenden, egoistischen Handlung ihren Weg mit gepflastert, aber Entwicklung findet so oder so statt, auch wenn er nicht so gehandelt hätte. Immer deutlicher wird die Wandlung, die Nechljudow durchmacht und die ihn dazu zwingt, sich und sein Handeln näher zu betrachten. Wo er am Anfang noch zögerlich war (ich meine, es ist ja nun auch nicht so einfach, einfach einmal auf seinen Besitz zu verzichten), zeigt sich, dass er trotz allem nicht scheut, auch die Gefangenen aufzusuchen und sogar die Politische, der er einst ebenfalls geholfen hat. Hier offenbart sich sowieso, dass Nechljudow zwar in den Sumpf von Militär und Dekadenz geraten ist und darin einige Jahre stagnierte, dass aber das, was in ihm schon in seiner Jugend wach geworden ist, nicht verloren gegangen ist - jener Sinn für Gerechtigkeit, überhaupt das Erkennen von Unrecht.
Dass ist das Streben der "wahren Religion" (Christentum, Buddhismus...usw.) Nicht hinterfragen und über das Nie-zu-Beantwortende grübeln, nicht (nur) für einen Gott (ode im Sinne Buddhas), sondern in jenen Werten handeln, die die Religion vermittelt. Darum wendet sich Tolstoi gegen die Künstlichkeit der Kirche und predigt den Glauben und das Handeln in diesem Glauben, wo immer der Mensch sich befindet. Am Lachen des Anwalts (Kap. 11), den Nechljudow aufsucht und der ihn, als er Nechljudow über die Ungerechtigkeiten im Gefängnis reden hört, sofort zu einem Gesprächsabend zwischen Künstlern, Literaten und Gelehrten einlädt, ist typisch für die Sorte Mensch, die gerne über Themen diskutiert, jedoch unfähig ist, darüber hinaus zu denken. Er sieht, dass Nechljudow hier eine belustigende Bereicherung für einen netten Abend wäre, wie auch der rotgesichtige, korpulente, als Dummkopf geschimpfte Maslennikow, der der Maslowa eine Stelle im Krankenhaus verschafft, weil es in seiner Macht liegt und er Nechljudow einen Freundschaftsdienst erweisen will, nicht weil er Nechljudows Empörung teilt. Auch er lauscht mit halben Ohr, auf das, was Nechljudow ihm über die Leiden der Gefangenen berichtet und sehnt sich nach dem Gelächter der feierfreudigen Gäste, das vor seiner Tür ohne ihn stattfindet (er könnte ja einen guten Witz verpassen) und so viel aufregender wäre, als die langweiligen Nöte, von denen ihm Nechljudow berichtet. „Das ist Philosophie!“ sagt der Anwalt (wieder zurück zu Kap. 11) zu Nechljudow, der ihn fragt, wozu die Gerichte da seien, wenn der Staatsanwalt alles in der Hand hat und sowieso alleine entscheidet. Das sind dann diejenigen, die nur reden, die sogar gerne über derartige Themen sprechen, jedoch nur um ihren Eitelkeiten zu frönen und sich selbst darzustellen, ähnlich derer, die gerne spenden, solange aber genügend Leute sehen, wie großzügig sie sind. Über diese Ebene hinaus sind sie nicht in der Lage, das Unrecht zu erkennen oder ziehen überhaupt in Erwägung, etwas ändern zu wollen bzw. zu können. Das, was sie Philosophie nennen, ist nur Gedankenschmuck, Gerede, das ins Leere führt. Ich glaube, die Maslowa macht eine Art Läuterung durch. Sie hat ihre Vergangenheit verdrängt und sich durch das viele Brandweintrinken betäubt. Nun, wo sie im Krankenhaus arbeitet, sehnt sie sich ab und an nach dem Trinken, aber lediglich um den Schmerz zu bekämpfen, weil sie es wohl nicht anders gelernt hat. Trotzdem aber hat sie für Nechljudow und die Stelle im Krankenhaus das Trinken aufgegeben. Auch die Erkenntnis, was in ihrem Leben schief gelaufen ist, ist ein Fortschritt und eine Entwicklung. Ich glaube gar nicht so sehr, dass es die Maslowa als Prostituierte viel schwerer hatte als im Elend der Gefangenschaft, auch wenn die eine Zeit nicht besser als die andere ist. Ich denke, die Rückbesinnung an diese Zeit, zeigt ihr, wo sie sich hat gehen lassen, wie einfach sie eine Gelegenheit hat verstreichen lassen, wie häufig sie unglücklich war und trotzdem nicht gehandelt hat. Sie sieht und begreift ihre eigenen Schwächen. Dass sie sich bereits als Zwangsarbeiterin empfindet, ist keine Gelassenheit, sondern das Los, das sie nach all dem Leid als eine weitere Schicksalsfügung des Elends empfindet, ähnlich der Bauern, die ihr Leid nicht sehen, weil sie sich daran gewöhnt haben. Für sie ist es natürlich gut, dass Nechljudow ein Fürst ist und sich ganz anders um die Angelegenheiten kümmern kann, als wäre er nicht vermögend. Er hat Beziehungen und kann verschiedene Leute schneller aufsuchen, auch wenn ihm dieser Gang nicht leicht fällt. (Kap. 15)
Trotzdem ist er durch seine voranschreitende Entwicklung bereit, gegen seine Abneigung und für die Menschen, die seiner Hilfe bedürfen, weiterhin zum Bittsteller zu werden. Bei seiner Tante Katerina Iwanowna in Petersburg („Alle verstehen mich, nur mein Mann nicht.“) bemerkt Nechljudow, wie er die ernste Lage ins Scherzhafte treibt, um sich auf ihr Niveau zu begeben und sie in dieser Art zu erreichen. Diese Menschen sind immerhin alle in ihrer Welt gefangen und haben in dieser Welt ihre Ansichten, die sie bis aufs Blut verteidigen. Die Tante schätzt ihn für seinen Mut („Er ist ein Narr“, sagt sie über ihn, „aber helfen Sie ihm...“), lehnt aber aufgrund ihrer eigenen Überzeugungen die Menschen ab, für die er sich einsetzt. (Zudem gehört sie zu den Herrschaften, die eine Religion nicht aus Überzeugung schätzen, sondern weil es schick und angesagt ist.) Das ist trotzdem ein guter Weg, den Nechljudow da geht, der besonders darum beeindruckt, weil sich Nechljudow nicht einschüchtern oder durch sich selbst von seinem Vorhaben abbringen lässt, weil er nicht die Geduld verliert, obwohl er weiß, auf welch dekadente Menschen er trifft. Er folgt trotzdem weiterhin seinem Herzen. Bei seinem Gang über die höheren Instanzen, wird Nechljudow sich nach und nach bewusst darüber, dass hier nicht nach Gerechtigkeit gesucht, nicht der Aufklärung von Schuld und Unschuld gedient, sondern immer im Interesse der Reichen und Satten gehandelt wird. Tolstoi entwirft etliche Charaktere, die dieses Klischee erfüllen. Die Anwälte, die ihre Arbeit für eine höhere Stellung verrichten und darum blind und taub für die Wirklichkeit sind, die Geschworenen, die kaum Interesse für das bezeugen, was vor ihnen geschieht, die etlichen reich geschmückten, allzu bequemen Büros mit eleganten, feinen Beamten und eleganten, feinen Gesprächen, die in ihrer gläsernen Welt von Luxus und Dekadenz keinen Finger krümmen würden, solange nicht etwas für sie herausspringt. Auch die Urteile für die etlichen falschen Schuldigen, die alle ihre Unschuld beteuern, was ihnen von jenen, Entscheidungen treffenden Besserwissern als Lüge vorgeworfen wird, werden nicht im Sinne der Menschheit und der Gefahrenbegrenzung getroffen, sondern um Eitelkeiten zu befriedigen, Karrieren anzuleiern und weitere Türen solcher Eitelkeiten zu öffnen, und Nechljudow erkennt diese Bedingungen ganz deutlich (Kap. 27):
Eine feine Beschreibung gelingt Tolstoi über die "graue Masse", über den Aufbruch der Gefangenen:
Hier macht es sich Tolstoi wahrhaftig zu einfach. Das sind jene Grenzen, die er im Gegensatz zu Dostojewskij nicht überschreitet. Hier hält er fest, dass die Welt so geordnet ist, wie er sie sieht, nimmt sich selbst als das Vorzeigebeispiel, wie ein Mensch grundsätzlich handeln würde, was absurd ist. Die Menschen sind so verschieden, und darunter sind dann eben auch die, die, auch wenn sie sich für schuldig halten, trotzdem weiter gegen dieses Gefühl handeln. Oder die, die bewusst gegen die Moral handeln und ihr Handeln sofort zu rechtfertigen verstehen. Für Tolstoi und seinen Protagonisten wird die Menschlichkeit gegen Regeln getauscht, das natürliche Empfinden von Gut und Böse durch Vorschriften ersetzt, die den Menschen abstumpfen und in Situationen nicht mehr spontan reagieren lassen. Dadurch verliert er auch den Sinn einer innerlichen Hinterfragung und moralischen Auseinandersetzung mit sich selbst. „Alles kommt davon“, denkt Nechljudow, „dass diese Leute das als Gesetz anerkennen, was kein Gesetz ist, und das, was ein ewiges, unabänderliches, unabdingbares, von Gott selbst in das menschliche Herz geschriebene Gesetz ist, nicht als Gesetz anerkennen.“ (Kap. 40) Seine Ansichten zur Todesstrafe stehen auch im völligen Widerspruch zu dem, was er in Kapitel 40 denkt.
Die Absicht Tolstois bei der Figur Nechljudow würde ich so definieren, dass hier ein oberflächlich gewordener Mensch mit guter Seele, die aber über die Zeit gelitten hat, versucht, seine Sünden wieder gutzumachen, und während er dies versucht, gerät er aus der Eitelkeit (Ich tue das, um mich selbst zu läutern...) in eine allgemeine Hinterfragung der Umstände (die jedoch fragwürdig bleibt). Tolstoi entwirft hier einen mächtigen Widerspruch, da er sagt, dass die Gefangenen unter solchen Bedingungen verrohen, die Obrigkeit die alleinige Schuld daran trägt, jedoch seine Gefangenen alle von unterschiedlicher Gutmütigkeit und Liebenswürdigkeit sind. Sie rücken bei ihm durch die Umstände eher näher aneinander, von Verrohung kann nicht die Rede sein. (Lediglich die Wachhabenden verrohen oder sind schon durch und durch routiniert und unmenschlich.) Dazwischen gibt es ein paar Selbstdarsteller mit revolutionären, anarchistischen, marxistischen Ideen.
Hier kam mir der Verdacht, dass Tolstoi seine Geschichte schreibt, aber sobald er in seine Philosophie und eigenen Ansichten verfällt, stark pauschalisiert und sich über Bedingungen empört, die in seiner eigenen Romandarstellung so gar nicht auftreten. Andererseits spricht er von Unterbringung und unschuldiger Verhaftung und Verbannung, zwei Aspekte, die man vielleicht doch getrennt sehen muss. Der letzte Teil des Romans enthält für mich ein Highlight - der Alte (...jeder Glaube rühmt allein sich selbst...), der frei von allem ist. "Sei dir selbst ein Vorgesetzter, dann wird keine Obrigkeit mehr nötig sein." Besonders stark drückt sich Tolstois Rückständigkeit, das Festhalten an den Evangelien und seine dermaßen kleinkarierte (weil aus sich selbst heraus unzufriedene) Deutung dieser in "Die Kreuzersonate" aus. Tolstoi neigte im Alter stark dazu, sein Sein, Leben und seine Meinung zu verallgemeinern und damit als einzig richtig für die ganze Welt zu empfinden und darauf zu beharren. In "Auferstehung" kam mir das Heranziehen der Schriften und die Rechtfertigung seiner Handlung durch diese auch etwas zu einfach vor. Statt Nechljudow durch sich selbst erkennen zu lassen, immerhin hat er einen weiten Weg dafür zurückgelegt, findet er Bestätigung bei Matthäus, was einiges erklärt, jedoch genau, wie es Tschechow ausgedrückt hat - "Die Erzählung hat keinen Abschluss; denn das, was dasteht, kann man nicht als Abschluß nennen. Schreiben, schreiben, und dann alles nehmen und auf einen Evangelientext abwälzen – das ist schon richtige Theologenart." - genau in diesem Sinne reine Abwälzung ist. Ich meinte mit rückständig, Tolstois Ansichten über die Ehe, wo er z. B. Enthaltsamkeit predigt oder die Abschaffung der Kinder, weil sie nur Last sind, oder seine Empörung, dass die Frau ihr Kind nicht selbst stillt ... und dieser ganze Unsinn, den man während des Lesens der "Kreuzersonate" noch als Wahn des Protagonisten abtut, wäre da nicht das Nachwort Tolstois, worin er genau diese Punkte noch einmal aufgreift und als seine eigene Sicht der Dinge darstellt. Die Menschheit, so erklärt sein Protagonist, redet sich damit heraus, dass sie nicht fortdauert, wenn sie nicht der Liebe frönt, aber wozu, erklärt er weiter, sollte so eine triebhafte und nur triebhafte Gesellschaft überhaupt weiter existieren müssen? Sollen sie doch alle aussterben, so das Plädoyer. Tolstoi erschien mir immer als ein weiser Schriftsteller, der die Dinge behutsam betrachtet, doch mit zunehmendem Alter war er unfähig, seine Erzählungen und Romane (ganz im Gegensatz zu anderen Schriftstellern) von vielen Perspektiven aus zu gestalten. In allem ist er selbst vorhanden, und selbst die geäußerten Dummheiten stellen sich dann als seine eigenen Überzeugungen heraus. Was in „Anna Karenina“ oder „Krieg und Frieden“ noch gerecht geformte Frauengestalten waren, sind in der "Kreuzersonate" Überbleibsel an Blut und Sperma saugenden Gewaltherrschaften, die den Mann unterwerfen und ihm die geistig überlegende Seele zertrümmern, ihn vorher mit unheilvoller Verführung täuschen. Was Menschlich-allzumenschlich ist, ist bei ihm die Klage an die Sittenlosigkeit einer sich weiterentwickelnden und aufgeklärten Zeit, die ihren eigenen Abgrund gestaltet, nicht, weil sie sich bekämpft oder falschen Idealen folgt, sondern weil sie an ein Ideal wie Liebe glaubt, die Ehe eingeht oder dem tierischen (Natur gegebenen) Trieb folgt. Für ihn existierte die sinnliche Liebe nie (es gibt, wenn überhaupt, nur die Reibung), und genau das wird in "Die Auferstehung" auch noch einmal sichtbar. Kein Gefühl, keine Leidenschaft, nur die Erwähnung Tolstois, dass die Maslowa Nechljudow liebt, jedoch nicht nachvollziehbar oder für den Leser erspürbar, sondern lediglich, weil Tolstoi es so schreibt und festgesetzt hat. Auch Nechljudow ist höchstens einmal der Eifersucht verfallen, nicht aber der Frau, die ihn neu in ihren Bann zieht. Für diesen Prozess, den Nechljudow durchmacht, bedurfte es natürlich keiner leidenschaftlichen Gefühle, jedoch hätte Tolstoi die Liebe zwischen diesen beiden Menschen stärker ins Bild setzen können. Die frühen Werke, wie "Krieg und Frieden", "Anna Karenina" sind noch von einem ganz anderen Tolstoi verfasst. Der ältere Tolstoi wurde zunehmend sturer und verbitterter. (Alle Zitate stammen aus Leo N. Tolstoi "Auferstehung", Winkler Verlag)
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