Leo Tolstoi


Auferstehung


Teil 1



Gelesen habe ich die Winkler-Ausgabe, die von Wadim Tronin und Ilse Frapan aus dem Russischen übertragen wurde, gedruckt auf (ich zitiere) „Persia-Bibeldruckpapier“. Da es sich um eine Dünndruckausgabe handelt, ist das Buch nicht besonders dick, umfasst aber wohl doch seine 600 Seiten.

Fast stichwortartig umreißt Tolstoi die Jahre vor der Gerichtsverhandlung, um zu verdeutlichen, wer vor uns sitzt. Tolstoi schreibt sehr häufig „die Maslowa“ oder nennt sie Katjuscha (ein Name zwischen Verachtung (Katka) und Verniedlichung (Katenka)). Sie ist bereits in jene Kategorie gerutscht, in der sie ihren Charakter eindeutig definiert. Sie ist vom rechten Weg abgekommen.
Sie hat vieles erlebt, musste sich gegen vieles zur Wehr setzen und ist dem Rauchen und Brandweintrinken verfallen. Sie scheint mir ein sehr ernster Typ zu sein, durch die Umstände geprägt. Sieben Jahre Prostitution. Zuvor zu häufig verführt, trotz des leicht schielenden Auges  (dafür gibt Tolstoi ihr einen „vollen Busen“), zu vielen Versprechungen erlegen, um nun in dieser neuen, dann gewohnten Umgebung selbst zu verführen, in jenem "unter dem wohlwollenden Schutz der regierenden Gewalt" stehenden, berüchtigten Milieu, das die Nächte zum Tag werden lässt und die Tage zum sich dahinschleppenden und mühseligen Vorgang der Vorbereitung auf den Abend.

Ganz im Gegensatz dazu wird Dimitrij Iwanowitsch Nechljudow in Glanz und Pomade gepackt und ins Bild gesetzt:


„Als er sich dann mit kaltem Wasser den muskulösen, fetten, weißen Körper gewaschen und sich mit einem rauhen Tuch abgerieben hatte, zog er die saubere, geplättete Wäsche und die spiegelblank geputzten Schuhe an und setzte sich vor die Toilette, um mit zwei Bürsten den kleinen schwarzen krausen Bart und die vorn auf dem Kopf ziemlich dünn gewordenen, lockigen Haare zu bearbeiten. Alle Sachen, deren er sich bediente - das Toilettenzubehör, die Wäsche, die Kleider, die Schuhe, die Halsbinden, die Hemdknöpfe, die Krawatten -, waren von der allerbesten, teuersten Sorte, unauffällig, einfach, dauerhaft und kostbar.“

Schon anhand der Beschreibungen all der Dinge, mit denen er sich umgibt, kann man auf den Charakter schließen. Verwöhnt und leichtlebig. Zu schüchtern, um eine eigene Entscheidung zu treffen (warum er auch in Verhältnissen mit verheirateten Frauen landet, die ihn verführen), aber nicht zu schüchtern, um eine Dienstmagd wie Katjuscha zu verführen, sie zu schwängern und dann mit 100 Rubel abzuspeisen und zu verlassen, um sie dann ganz und gar zu vergessen. Die Maslowa verlor dieses Kind, wie auch ihre Anstellung.
Trotzdem schien Fürst Nechljudow in seiner Jugend noch gewisse Ideale gehabt zu haben, so hat er das vom Vater geerbte Land den Bauern geschenkt. Nun allerdings steht er vor einem größeren Erbe und kann auf das Eigentum nicht verzichten, weil er die Gewohnheiten eines luxuriösen Lebens angenommen hat, was den Verzicht umso schwieriger macht.
Vor uns sitzt also ein schwacher Mensch, der nun auch noch zum Geschworenengericht gerufen wird, in genau jene Gerichtsverhandlung, die Katjuscha betrifft.



Wieder übt Tolstoi (wie er es dann auch in "Krieg und Frieden" tun wird) starke Kritik am Militärdienst. Fürst Nechljudow, der sich also für die "Gedanken der anderen" entscheidet und seine eigenen Vorstellungen von Moral und Ehre der Befriedigung unterwirft, von anderen gelobt und wohlwollend betrachtet zu werden, findet seine endgültige Verwandlung bei eben diesem:



  • Der Militärdienst verdirbt überhaupt die Menschen, da er diejenigen, die sich ihm widmen, den Bedingungen vollständigen Müßiggangs unterstellt, das heißt des Fehlens jeder vernünftigen und nützlichen Arbeit, und da er sie von den allgemein menschlichen Pflichten befreit und als Ersatz dafür nur die konventionelle Ehre des Regiments, der Uniform und der Fahne bietet, dazu einerseits die grenzenlose Macht über andere Menschen verleiht, andererseits aber die sklavische Unterwürfigkeit gegen die Vorgesetzten fordert.


Nützlichkeit wird gegen Gehorsam getauscht. Ansehen und Verdienst gegen die eigene Gedankentiefe und Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Hier erfährt Fürst Nechljudow, worauf es im Leben und in der Gesellschaft ankommt. Nicht mit Güte und Geist, sondern mit Sieg und Bereicherung gelangt man nach vorne. Wo er der Maslowa zuvor noch nahezu "kindlich", also in reiner Jugendliebe begegnet, kehrt er daraufhin verändert zurück. Das geistige Ich wechselt in ein animalisches, das sich zwischen den anderen "Raubtieren" bewähren muss, um dazuzugehören.

(In diesen Selbstzweifeln und Hinterfragungen (also entweder Selbstaufgabe und Anpassung oder ein eigener Weg und somit beständige Konfrontation und Missverständnis zwischen ihm und der Gesellschaft mit ihrer Ansicht davon, wie man zu leben hat), denen Nechljudow in seiner Jugend und auch später immer wieder unterworfen ist, erkenne ich auch viel von Tolstois eigenen Gedanken und häuslichen Problemen wieder. Auch er wurde von seiner Familie nicht verstanden, wie er es denn wagen könnte, seinen Besitz verschenken zu wollen, da er doch Kinder und für diese zu sorgen hätte. Tolstoi wollte ihnen eine Rente durch den Verkauf seiner Bücher ermöglichen, sie also nicht mit Nichts sitzen lassen. Jedoch wollte er alles andere verschenken. Seine Haltung blieb unverstanden, der innerliche Konflikt, ob all das nun richtig oder falsch sei, hielt ihn dann auch zurück, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.)


Dieser Charakterzug, der sich dort in jener Vergangenheit bereits geprägt hat, wird auch während der Gerichtsverhandlung unter den Geschworenen sichtbar.
Fürst Nechljudow definiert sich auch hier (Kapitel 5) stark über die Ansichten anderer, die ihm wiederum nur Achtung aufgrund seines äußerlichen Erscheinungsbildes entgegenbringen. Ein ganz klarer Standpunkt der tolstoi'schen Gesellschaftskritik. Nechljudow ist gut und reich gekleidet. Er verließ die Armee, um sich der Malerei zu widmen, wobei ein Vorankommen hier an seinem eher trägen Talent scheiterte und er die Aufgabe der Kunst unterschätzte. Ihm lag an der Rolle des Künstlers nicht so sehr die Malerei als die erhoffte, erhabene Position, von der herab er die Menschen belächeln wollte, bis er einsehen musste, dass ihm diese Position unerreicht bleiben würde, nicht aufgrund des überhaupt erhöhten (wackligen) Podestes, sondern eben wegen seiner Unfähigkeit, sich weiterzubilden und in der Malerei voranzukommen. Somit wird die einst getroffene Entscheidung, das schön eingerichtete Atelier, ein Akt der Beklemmung und der Peinlichkeit.
Was ihm aus dieser Erfahrung trotz allem geblieben ist, ist die Einsicht, dass all das nichts ausmacht, solange man sich gut verkauft. Es bleibt ihm weiterhin die Anerkennung der anderen, die eben auch anders erreicht werden kann, die stets auf Äußerlichkeiten Wert legt, ohne sich um den inneren Vorgang zu kümmern, der nur für ihn zu erkennen ist. Er selbst kann sich diese Achtbezeugung lange nicht erklären, nimmt sie dann jedoch mit Befriedigung an und ist dann auch, ganz dem Charakterbild entsprechend, beleidigt, wenn sie nicht erfolgt.

 


Die alltäglichen Manipulationskünste im und um das Gericht, die verschiedenen Tücken und Machtansprüche, die bezahlten oder überehrgeizigen Advokaten (z. B. gut in Kapitel 7 beschrieben: "Er war so ehrgeizig und fest entschlossen, Karriere zu machen; daher hielt er es für notwendig, in allen Prozessen, in denen er die öffentliche Anklage vertrat, eine Verurteilung zu erreichen.“), die innerlichen Probleme und Nöte dieser hier antretenden, einzelnen Menschen, die über Leben und Strafe entscheiden oder doch die Angeklagten verteidigen sollen, sind recht bezeichnend. Darunter der stets zu spät kommende Matwej Nikititsch, der abergläubisch ist und bei all seinen Schritten ein Orakel befragt, indem er sich z. B. vormacht, dass eine richtige Anzahl Schritte zum Lehnstuhl seines Schreibpultes, sollte sie durch drei teilbar sein, dazu dient, sein Leiden zu heilen. Er macht also sechsundzwanzig Schritte und setzt noch einen winzigen siebenundzwanzigsten dazu, um seine Bitte und Vorhersage wahr zu machen. Hier wird das Vormachen eines solchen Aberglaubens schön von Tolstoi umschrieben. Gleichzeitig gibt das Aufschluss über die gesammelte Meute, die da Entscheidungen treffen soll.


Ich denke, Tolstoi wirft gleichzeitig einen Blick auf die Zeremonien und weist (später) auch auf die versteinerten Rituale der Kirche hin, die mit dem Glauben und insbesondere mit Jesus nichts mehr zu tun haben. Einerseits gibt es dem Menschen Hoffnung und Liebe, andererseits verführt es zu einem Konflikt, den du so gut erkannt hast: Geist und Körper, deren Einigkeit man nicht einfach abtun kann. Natur und Seele, Geist und Organismus, Trieb und Sehnsucht gehören nun einmal zueinander, sind jene Grenzen, die nur der menschliche und insbesondere kirchliche Verstand zu ordnen versucht. Gleichzeitig wird auf die Sünde beharrt.
Die einen gehen (in den Augen Tolstois) in die Kirche, weil sie sich Rettung erhoffen, die anderen, weil es die anderen machen, und die Gottesdiener und Repräsentanten jener Bauten mit allmächtigem Kreuz, um die „Show“ zu vollführen. Zu Ostern aber herrschen in Russland große Traditionen. Da wird dargebracht und Gebäck und Brot gebacken. Alles wirkt einfach und eindrucksvoller als jede Zeremonie. Die ganze Gemeinschaft macht sich ans Werk und freut sich aneinander und den eigenen Gaben. (Gleiches findet man in Griechenland vor.) Die Liebe untereinander ist in solchen Augenblicken sehr sichtbar.

Ein wahres Prachtbild der Beschreibung ist z. B. die „liegende Dame“, Sofja Wassilijewna. Sie ist dünn, lächelt „ein gekünsteltes, falsches Lächeln, das aber einem natürlichen ganz ähnlich sah“ und hat dazu noch lange, gemachte Zähne, ist eine „sich immer noch jugendlich herrichtende Brünette“, die wohl ein Verhältnis mit ihrem Hausarzt Kolossow hat.

  • (Sie) … hatte ihr sehr feines und sehr gutes Mittagessen beendet, das sie immer allein einzunehmen pflegte, damit niemand sie bei dieser unpoetischen Tätigkeit sehe. (Kap. 27)

Die Fürstin ist die Mutter von Missi, die sich eine Ehe mit Nechljudow erhofft, die nicht "die Seine werden, sondern ihn zu dem Ihrigen machen" will. Ihre Mutter liegt in Gold, Seide und Spitzen gehüllt bereits seit acht Jahren und empfängt in dieser Weise die Leute. Hier wirft Tolstoi einen Blick auf die pure Dekadenz. Missis Vater ist einer jener Generäle, die reich sind (sich also nicht hinaufdienen müssen) und trotzdem zum Militär gehen, um ihre Perversitäten auszuleben. Dieser ließ Soldaten grundlos auspeitschen und sogar aufhängen. Tolstoi beschreibt ihn als fetten, widerlichen Mann, der mit vollem Mund Befehle erteilt, vor dem selbst Nechljudow die Achtung verliert.

Als Nechljudow vor der liegenden Dame steht, bemerkt er über sie und Kolossow: (Kap. 27)

  • Während er bald Sofja Wassiljewna, bald Kolossow zuhörte, sah er erstens, dass sowohl Sofja Wassiljewna wie auch Kolossow sich weder für das Drama noch füreinander interessierten; wenn sie sprachen, so taten sie es nur zur Befriedigung des physiologischen Bedürfnisses.



Die liegende Dame ergibt sich ganz dem Geplauder, faselt von Mystizismus, Poesie und Aberglaube, dirigiert dabei in voller Anstrengung den (von Tolstoi extra betont) schönen Diener, der die Vorhänge zuziehen soll, damit kein Sonnenstrahl auf die Fürstin fällt, die sich durch ungünstiges Licht vielleicht in ihrem wahren Alter verraten würde. Zumindest geht die liegende Fürstin davon aus, dass keiner weiß, wie alt sie ist und dass sie da, hingeräkelt, wohl jung und schön erscheinen muss. Ihr gieriger Blick, ihre Art, Menschen zu empfangen, die sie ebenso als Untergebene, als Spielball ihrer Launen betrachtet (sie unterhalten sich ja nicht einmal ernsthaft, sondern reden nur das, was gerade so angesagt ist), zeigen Nechljudow, in welchen Kreisen er (zuvor gerne, nun, durch die Begegnung mit Katjuscha, mit starkem Widerwillen) verkehrt. Auch hier ist seine Umgebung Spiegel seiner selbst (Und plötzlich begriff er, dass jener Abscheu, den er in der letzten Zeit vor den Menschen empfunden hatte (…), dass dieser Abscheu der Abscheu vor sich selbst war.), sein animalisches und verformtes Ich tritt deutlich hervor und deutet an, wohin er sich hätte entwickeln können. Das Lob der Fürstin für seine Malerei (ein Vergleich mit dem angesagten Maler Repin, der übrigens Tolstoi gezwungen hat, barfuss zu posieren, in seinem berüchtigten Tolstoi-Hemd, damit er wie ein einfacher Prediger erschien, was Tolstoi nicht behagte, er sich jedoch trotzdem gefallen ließ) zwingt ihn, diese Umgebung ganz und gar als Trug und Heuchelei zu erkennen.




Repin "Tolstoi", hängt im russischen Museum in St. Petersburg



Als Nechljudow über seine tote Mutter nachdenkt, die ein Künstler so offenherzig porträtiert hat, während ihm nur die abgezerrte und kranke Frau vor Augen ist, gleiten seine Gedanken auch zurück zur Familie von Missi, die er nicht mehr heiraten will. (Auch hier vielleicht ein langer, schmerzvoller Tolstoi’scher Wirklichkeitsausruf, wenn Nechljudow schimpft):



Schändlich und abscheulich. Abscheulich und schändlich.
Nein, nein, dachte er, man muss sich freimachen, muss sich lösen von all diesen verlogenen Beziehungen…

(Kap. 28)

Und ein weiterer Aufschrei: (e.d.)



  • Damals war er ein frischer, freier Mensch gewesen, vor dem sich unendliche Möglichkeiten eröffneten; jetzt fühlte er sich von allen Seiten im Netz des dummen, leeren, ziellosen, nichtigen Lebens gefangen, aus dem er keinen Ausweg sah, ja, aus dem er gewöhnlich gar nicht einmal heraus wollte. Er erinnerte sich, wie er ehemals auf seine Geradheit stolz gewesen war, wie er es sich damals zur Regel gemacht hatte, immer die Wahrheit zu sagen und wirklich wahrhaftig gewesen war, und jetzt war er ganz in die Lüge verstrickt, in die allerschrecklichste Lüge, die seine ganze Umgebung für die Wahrheit hielt. Und es gab kein Entrinnen, wenigstens sah er keine Möglichkeit dazu. Und er versank in diese Lüge, gewöhnte sich an sie und hätschelte sie.



Vielleicht hat Tolstoi durch seine Werke versucht, mit seiner Familie neu zu kommunizieren, weil er sie im normalen Gespräch nicht mehr erreichte? Oder wollte er wenigstens festhalten, was ihn so sehr belastete? In solchen Ausbrüchen verwandelt sich Nechljudow vor meinen Augen in Tolstoi und zurück, Figur und Schriftsteller verschmelzen:



  • Wie konnte er sein Verhältnis zu Marja Wassiljewna und ihrem Mann so lösen, dass er sich nicht schämen müsste, ihm und seinen Kindern ins Gesicht zu sehen?(…) Wie sich aus dem Widerspruch herausarbeiten, dass er einerseits anerkannte, Eigentum an Grund und Boden sei ungerecht, und andererseits sein mütterliches Erbe in Besitz genommen hatte, das er zum Leben brauchte?


und




  • Wie ungeheuer groß die Kluft zwischen dem, was er war, und dem, was er sein wollte, auch sein mochte, dem erwachten geistigen Wesen schien alles möglich.



Und genau, wie Tolstoi, so führt auch Nechljudow Tagebuch, um sich zu reinigen und wieder neu zu ordnen.





Teil 2




Ich finde, diese Stellen der Kirchenkritik im Kap. 40 kann man ruhig mal ausführlich zitieren:



  • Und niemandem unter den Anwesenden – von dem Priester und dem Inspektor bis zur Maslowa – kam es in den Sinn, dass derselbe Jesus, dessen Namen der Priester so unzählige Male mit wohltönender Stimme wiederholte, indem er ihn mit allen möglichen seltsamen Worten pries – dass gerade dieser >Jesus all das verboten hatte, was hier verrichtet wurde: nicht nur einen solchen sinnlosen Wortschwall und die gotteslästerliche Hexerei der Priester mit dem Brot und dem Wein, sondern auch dass die einen Menschen die andern Meister nennen; dass er die Gebete in den Tempeln verboten und jedem befohlen hatte, in der Einsamkeit zu beten. Dass er die Tempel selbst verboten und gesagt hatte, dass er gekommen sei, sie zu zerstören, und dass man nicht in den Tempeln, sondern im Geist und in der Wahrheit beten solle. Und vor allem, dass er nicht nur verboten hatte, über andere zu richten und sie in Kerkern festzuhalten – sie zu quälen, zu beschimpfen, hinzurichten, wie es hier geschah -, sondern dass er jegliche Vergewaltigung der Menschen verboten hatte, indem er sprach, dass er gekommen sei, die Gefangenen in Freiheit zu setzen.

 

Den Anwesenden, so Tolstoi, kommt es nicht in den Sinn, das, was sie hier erleben, als Lästerung zu empfinden und als „Verhöhnung von Jesus“. Darum treten bei Tolstoi auch solche Gestalten bei einer Gerichtsverhandlung auf, die sich, trotz dass sie Geschworene sind, weigern, ein Urteil zu fällen oder selbst einen Schuldigen zu verurteilen. Der Gottesdienst unterliegt der gleichen Heuchelei, wie Nechljudow sie in den Häusern der gutbürgerlichen Dekadenz vorfindet. Die Priester sind von Kindheit an in diesem Glauben erzogen, dass das, was sie hier vollführen, die „wahre Religion“ sei, die Gefangenen glauben an das Wiedergutmachen ihrer Sünden, solange sie am Gottesdienst teilnehmen und auf eine Bequemlichkeit für das künftige Leben und auch die Maslowa empfindet ein „halb andächtiges, halb gelangweiltes Gefühl“ beim Gottesdienst.

Sie ist Gefangene ihres Schicksals, fühlt bereits die Zwangsarbeiterin in sich, hinter der ihre Unschuld nach und nach verblasst. Tolstoi hat für die Überzeugungen, die im guten wie im schlechten Sinne die Handlungen bestimmen, eine wunderbar philosophische Erklärung (klar, für uns heute nichts Neues, aber dennoch so schön ins Wort gefasst):
In Kap. 45 sagt er:



  • Jeder Mensch muss, um handeln zu können, seine Tätigkeit für wichtig und gut halten. Seine Lage mag daher sein, wie immer sie wolle – stets wird er sich solch einer Ansicht über das menschliche Leben überhaupt bilden, die ihm seine Tätigkeit als wichtig und gut erscheinen lässt.
  • Man glaubt gewöhnlich, dass der Dieb, der Mörder, der Spion, die Prostituierte ihre Tätigkeit für schlecht halten und sich ihrer schämen müssen. Aber gerade das Gegenteil trifft zu. Diese Leute, die durch das Schicksal und durch ihre Sünden und Verirrungen in eine bestimmte Situation geraten sind, sei sie auch noch so schief, bilden sich eine solche Ansicht vom leben überhaupt, dass ihre Situation ihnen gut und ehrbar erscheint. Um aber eine solche Ansicht aufrecht zu erhalten, bewegen sich die Leute instinktiv in einem menschlichen Kreis, der jenen Begriff vom Leben und von ihrem Platz darin, den sie sich gebildet haben, anerkennt. Wir wundern uns, wenn Diebe mit ihrer Gewandtheit, Prostituierte mit ihrer Liederlichkeit und Mörder mit ihrer Grausamkeit prahlen. Aber es wundert uns nur deshalb, weil wir außerhalb ihres Kreises, ihres Lebensbereiches, der ohnehin beschränkt ist, stehen. Aber tritt nicht dieselbe Erscheinung auf unter den Reichen, die mit ihrem Reichtum, das heißt mit ihrem Raub prahlen? (…)


Genau das ist eben, warum diese Welten und vielseitigen Ansichten von Moral und Handlung nebeneinander existieren. Jeder hat seine Überzeugung von dem, was er tut. Und wenn er vielleicht genötigt ist, sich zu bereichern oder ein Verbrechen zu begehen, wird er dieses in seinem Sinne rechtfertigen. „Ich musste so handeln, weil…“ Selbst, wenn jemand gegen seine Überzeugungen handelt, wird er sein Denken erst einmal an seine Handlung anpassen, weil er sonst gar nicht handeln könnte. Das, was für den Außenstehenden dann unverständlich wirkt, ist aber das Gleiche, das auch er auf sein Tun in Form einer Erklärung anwendet. Nur der Ausdruck der Handlung unterscheidet sich und ist darum im jeweils fremden Auge ungerechtfertigt bis schlecht oder sogar bösartig.

 

 

Die Auferstehung findet auf vielen Ebenen statt. Veränderungen, Neubesinnungen, Rückfall und Wiederbesinnung. Aber dahinter und vielleicht auch darüber steht eben jene Erhabenheit „Liebe“, zu der der Mensch durch sein Wesen und in so vielen Lagen und Schicksalsschlägen fähig ist.

Ob für Nechljudow und die Maslowa wieder eine gemeinsame Liebe möglich ist, scheint mir anhand ihrer verschiedenen Entwicklungen eher unmöglich. Vielleicht ein neues Gefühl füreinander, wer weiß.

Man sieht doch deutlich, z. B. im 46. Kapitel, wie der „gereinigte“ und handlungswillige Nechljudow, der seinen Hausstand auflösen, die viel zu große Wohnung verkaufen will, um ganz für Katjuscha da zu sein, sie notfalls auch zu heiraten (auch wenn er es ihr noch nicht mitgeteilt hat), sich sofort bereitwillig den Umständen unterwirft und das, was er so voller Elan vollziehen wollte, wieder hinten an stellt.
"Es lohnt sich nicht, meine Lebensweise jetzt zu ändern“, redet er sich ein, „solange die Angelegenheit der Maslowa nicht entschieden ist."

Eine Änderung seiner Lebensweise würde aber auch ohne, dass er die Maslowa als Ausrede benutzen müsste,umsetzbar sein, doch Nechljudow ruht sich lieber aus, schiebt zurück, was er doch so voller Pathos zuvor noch in die Tat umsetzen wollte. Die Begegnung mit der Maslowa, so philosophisch er (oder der Erzähler) ihr neues und darum notwendig sich so entwickeltes Dasein auch zusammengefasst hat, hat ihn verletzt und zögerlich gemacht. Nicht umsonst grübelt er über die Unmöglichkeit nach, „die Maslowa“ wieder in Katjuscha zurückverwandeln, die nun einmal nicht mehr existiert, weil eben die Maslowa Katjuscha ist, mit all ihren dem Leben unterliegenden Wandlungsprozessen. Die Frau, die heute so gleichgültig und sowohl den Umständen angepasst als auch durch sie geprägt ist, ist immernoch die gleiche, nur eben verändert. Rückgängig ist daran nichts zu machen, und das ahnt Nechljudow wohl, warum er auch erst einmal wieder sein Leben so aufnimmt, wie es zuvor war. Er selbst ist mitschuldig an dieser Verwandlung, hat mit seiner Leidenschaft und der darauf folgenden, egoistischen Handlung ihren Weg mit gepflastert, aber Entwicklung findet so oder so statt, auch wenn er nicht so gehandelt hätte.

Immer deutlicher wird die Wandlung, die Nechljudow durchmacht und die ihn dazu zwingt, sich und sein Handeln näher zu betrachten. Wo er am Anfang noch zögerlich war (ich meine, es ist ja nun auch nicht so einfach, einfach einmal auf seinen Besitz zu verzichten), zeigt sich, dass er trotz allem nicht scheut, auch die Gefangenen aufzusuchen und sogar die Politische, der er einst ebenfalls geholfen hat. Hier offenbart sich sowieso, dass Nechljudow zwar in den Sumpf von Militär und Dekadenz geraten ist und darin einige Jahre stagnierte, dass aber das, was in ihm schon in seiner Jugend wach geworden ist, nicht verloren gegangen ist - jener Sinn für Gerechtigkeit, überhaupt das Erkennen von Unrecht.
Dass er für die Maslowa da sein möchte, ist eine Art der Sühne, die jedoch nach seiner Handlung noch nichts darüber ausgesagt hätte, ob er tatsächlich einen Wandlungsprozess durchmacht. Er hätte hier genauso gut für sich selbst handeln können, um sich durch Wiedergutmachung endgültig von der einstigen Schuld zu reinigen. Darum geht es ihm aber nicht nur (und auch Tolstoi nicht, der seine Figur hier beeindruckend in ihrem Prozess gestaltet). Es geht um dieses Wachwerden, sowohl gegenüber der Ungerechtigkeiten als auch gegenüber der Menschen. Das Leid der Gefangenen, Bauern, die Armut selbst sind das, was Nechljudow bewusst wird. Und er blickt nicht nur, sondern handelt. Dass die Bauern ihm natürlich skeptisch gegenüber stehen, da er der Herr ist und sie voraussetzen, dass er sie hintergehen will, war vorauszusehen. Auch sie haben eben aus ihren Erfahrungen gelernt. Nechljudow hilft es zu der Erkenntnis, dass allgemein etwas im Land schief läuft: (Teil 2/Kap. 6)



  • Und er begriff jetzt, warum er sich geschämt hatte, daran zu denken, wie er die Angelegenheit in Kusminskoje geregelt hatte. Er hatte sich selber betrogen. Obwohl er wusste, dass der Mensch kein Recht auf den Boden haben konnte, hatte er dieses Recht für sich in Anspruch genommen und den Bauern einen Teil dessen geschenkt, auf das er, wie er in der Tiefe seiner Seele wusste, kein Recht hatte.


Seit jeher ist es erschreckend, dass der Mensch in eine Welt hineingeboren wird, in der alles bereits Besitz ist, vergeben und aufgeteilt, und die, die in Armut aufwachsen, konnten nie aus dieser entkommen. Nechljudow erkennt die Tragik darin (Kap. 6):



  • Das Volk stirbt aus und hat sich mit seinem Aussterben abgefunden; es haben sich bei ihm die dem Aussterben eigentümlichen Lebenserscheinungen herausgebildet: die hohe Sterblichkeit der Kinder, Arbeit der Frauen über ihre Kräfte, der Mangel an Nahrung für alle, besonders für die Alten. Und so allmählich ist das Volk in diese Lage geraten, dass es selber ihr ganzes Grauen nicht wahrnimmt und nicht darüber klagt. Daher glauben wir, dass das natürlich und notwendig sei.



Aber nicht mehr für Nechljudow, der seine Seele neu läutert und wieder für seine Ideale öffnet. Er weiß nicht, was mit ihm geschieht, er weiß nur, dass es richtig ist (Kap. 8 ):



  • Alles das zu begreifen, das ganze Werk des Herrn zu begreifen, liegt nicht in meiner Macht. Aber seinen Willen zu erfüllen, der in meinem Gewissen offenbar wird, liegt in meiner Macht; das weiß ich unbezweifelbar. Und wenn ich ihn erfülle, bin ich ruhig.


Dass ist das Streben der "wahren Religion" (Christentum, Buddhismus...usw.) Nicht hinterfragen und über das Nie-zu-Beantwortende grübeln, nicht (nur) für einen Gott (ode im Sinne Buddhas), sondern in jenen Werten handeln, die die Religion vermittelt. Darum wendet sich Tolstoi gegen die Künstlichkeit der Kirche und predigt den Glauben und das Handeln in diesem Glauben, wo immer der Mensch sich befindet.

Am Lachen des Anwalts (Kap. 11), den Nechljudow aufsucht und der ihn, als er Nechljudow über die Ungerechtigkeiten im Gefängnis reden hört, sofort zu einem Gesprächsabend zwischen Künstlern, Literaten und Gelehrten einlädt, ist typisch für die Sorte Mensch, die gerne über Themen diskutiert, jedoch unfähig ist, darüber hinaus zu denken. Er sieht, dass Nechljudow hier eine belustigende Bereicherung für einen netten Abend wäre, wie auch der rotgesichtige, korpulente, als Dummkopf geschimpfte Maslennikow, der der Maslowa eine Stelle im Krankenhaus verschafft, weil es in seiner Macht liegt und er Nechljudow einen Freundschaftsdienst erweisen will, nicht weil er Nechljudows Empörung teilt. Auch er lauscht mit halben Ohr, auf das, was Nechljudow ihm über die Leiden der Gefangenen berichtet und sehnt sich nach dem Gelächter der feierfreudigen Gäste, das vor seiner Tür ohne ihn stattfindet (er könnte ja einen guten Witz verpassen) und so viel aufregender wäre, als die langweiligen Nöte, von denen ihm Nechljudow berichtet. „Das ist Philosophie!“ sagt der Anwalt (wieder zurück zu Kap. 11) zu Nechljudow, der ihn fragt, wozu die Gerichte da seien, wenn der Staatsanwalt alles in der Hand hat und sowieso alleine entscheidet. Das sind dann diejenigen, die nur reden, die sogar gerne über derartige Themen sprechen, jedoch nur um ihren Eitelkeiten zu frönen und sich selbst darzustellen, ähnlich derer, die gerne spenden, solange aber genügend Leute sehen, wie großzügig sie sind. Über diese Ebene hinaus sind sie nicht in der Lage, das Unrecht zu erkennen oder ziehen überhaupt in Erwägung, etwas ändern zu wollen bzw. zu können. Das, was sie Philosophie nennen, ist nur Gedankenschmuck, Gerede, das ins Leere führt.


Ich glaube, die Maslowa macht eine Art Läuterung durch. Sie hat ihre Vergangenheit verdrängt und sich durch das viele Brandweintrinken betäubt. Nun, wo sie im Krankenhaus arbeitet, sehnt sie sich ab und an nach dem Trinken, aber lediglich um den Schmerz zu bekämpfen, weil sie es wohl nicht anders gelernt hat. Trotzdem aber hat sie für Nechljudow und die Stelle im Krankenhaus das Trinken aufgegeben. Auch die Erkenntnis, was in ihrem Leben schief gelaufen ist, ist ein Fortschritt und eine Entwicklung. Ich glaube gar nicht so sehr, dass es die Maslowa als Prostituierte viel schwerer hatte als im Elend der Gefangenschaft, auch wenn die eine Zeit nicht besser als die andere ist. Ich denke, die Rückbesinnung an diese Zeit, zeigt ihr, wo sie sich hat gehen lassen, wie einfach sie eine Gelegenheit hat verstreichen lassen, wie häufig sie unglücklich war und trotzdem nicht gehandelt hat. Sie sieht und begreift ihre eigenen Schwächen. Dass sie sich bereits als Zwangsarbeiterin empfindet, ist keine Gelassenheit, sondern das Los, das sie nach all dem Leid als eine weitere Schicksalsfügung des Elends empfindet, ähnlich der Bauern, die ihr Leid nicht sehen, weil sie sich daran gewöhnt haben.

Für sie ist es natürlich gut, dass Nechljudow ein Fürst ist und sich ganz anders um die Angelegenheiten kümmern kann, als wäre er nicht vermögend. Er hat Beziehungen und kann verschiedene Leute schneller aufsuchen, auch wenn ihm dieser Gang nicht leicht fällt. (Kap. 15)


  • ... und wie immer fiel es Nechljudow schwer, sich mit einer Bitte an einen Menschen zu wenden, den er nicht achtete.


Trotzdem ist er durch seine voranschreitende Entwicklung bereit, gegen seine Abneigung und für die Menschen, die seiner Hilfe bedürfen, weiterhin zum Bittsteller zu werden.
Bei seiner Tante Katerina Iwanowna in Petersburg („Alle verstehen mich, nur mein Mann nicht.“) bemerkt Nechljudow, wie er die ernste Lage ins Scherzhafte treibt, um sich auf ihr Niveau zu begeben und sie in dieser Art zu erreichen. Diese Menschen sind immerhin alle in ihrer Welt gefangen und haben in dieser Welt ihre Ansichten, die sie bis aufs Blut verteidigen. Die Tante schätzt ihn für seinen Mut („Er ist ein Narr“, sagt sie über ihn, „aber helfen Sie ihm...“), lehnt aber aufgrund ihrer eigenen Überzeugungen die Menschen ab, für die er sich einsetzt. (Zudem gehört sie zu den Herrschaften, die eine Religion nicht aus Überzeugung schätzen, sondern weil es schick und angesagt ist.)
Das ist trotzdem ein guter Weg, den Nechljudow da geht, der besonders darum beeindruckt, weil sich Nechljudow nicht einschüchtern oder durch sich selbst von seinem Vorhaben abbringen lässt, weil er nicht die Geduld verliert, obwohl er weiß, auf welch dekadente Menschen er trifft. Er folgt trotzdem weiterhin seinem Herzen.


Bei seinem Gang über die höheren Instanzen, wird Nechljudow sich nach und nach bewusst darüber, dass hier nicht nach Gerechtigkeit gesucht, nicht der Aufklärung von Schuld und Unschuld gedient, sondern immer im Interesse der Reichen und Satten gehandelt wird. Tolstoi entwirft etliche Charaktere, die dieses Klischee erfüllen. Die Anwälte, die ihre Arbeit für eine höhere Stellung verrichten und darum blind und taub für die Wirklichkeit sind, die Geschworenen, die kaum Interesse für das bezeugen, was vor ihnen geschieht, die etlichen reich geschmückten, allzu bequemen Büros mit eleganten, feinen Beamten und eleganten, feinen Gesprächen, die in ihrer gläsernen Welt von Luxus und Dekadenz keinen Finger krümmen würden, solange nicht etwas für sie herausspringt. Auch die Urteile für die etlichen falschen Schuldigen, die alle ihre Unschuld beteuern, was ihnen von jenen, Entscheidungen treffenden Besserwissern als Lüge vorgeworfen wird, werden nicht im Sinne der Menschheit und der Gefahrenbegrenzung getroffen, sondern um Eitelkeiten zu befriedigen, Karrieren anzuleiern und weitere Türen solcher Eitelkeiten zu öffnen, und Nechljudow erkennt diese Bedingungen ganz deutlich (Kap. 27):


  • … da kam ihm mit ungewöhnlicher Klarheit der Gedanke, dass man sie alle keineswegs deshalb ergriffen, eingesperrt und deportiert habe, weil sie sich gegen die Gerechtigkeit vergangen und die Gesetze verletzt hatten, sondern nur, weil sie die Beamten und die Reichen daran hinderten, den Reichtum zu genießen, den sie dem Volke weggenommen hatten.



Ob er nun auf einen alten Freund trifft, der, ähnlich wie er selbst, einen Lebensweg eingeschlagen hat, der, bei allem, was er macht, nicht „das Rechte“ ist, und an dem er so gut erkennt, was ein Handeln gegen die eigenen Überzeugungen aus dem Menschen macht, insofern er nur höflich sein will, was sogar bis in einen vorgetäuschten Glauben führt, oder auf große Verantwortliche wie Toporow (Kap. 27), der an nichts glaubt, aber die Befürchtung hegt, das Volke könne in den gleichen Sumpf geraten (und damit gefährlich werden), und darum dafür sorgt, dass es weiterhin im Aberglauben verhaftet bleibt (wie auch die ganzen Sekten und künstlichen Religionen, denen die Dekadenz sich anschließt, nur weil es schick und angesagt ist und weil der Priester oder Vorsteher der Sekte verkündet, Jesus hätte bereits für sie alle gelitten, darum dürfen sie auf Erlösung hoffen, ohne etwas dafür tun zu müssen), an allem bestätigt sich Nechljudow der Wahn dieser alles regierenden Welt, die nicht im Sinne der Menschheit handelt. Gerade solche Leute wie Toporow zeigen das überdeutlich, der seine fehlgerichteten Überzeugungen sogar dafür benutzt, etliche Unschuldige einzusperren und getrennt voneinander (Familien auseinander reißend) deportieren zu wollen, nur um sich Ruhe zu verschaffen und das Volk in Abhängigkeit zu halten, womit er zu den zerstörerischen Menschen gehört, die zwar selbst aufgeklärt sind, jedoch „ihr Licht nicht dazu gebrauchen wozu sie es gebrauchen sollten, nämlich um dem sich aus der Finsternis der Unwissenheit mühsam herausringenden Volk zu helfen, sondern im Gegenteil, um es darin festzuhalten.“

Auch Mariette, die er durch seine Tante geleitet, fragt, ob sie etwas für eine der politischen Gefangenen tun kann, die „gegen ihre Prinzipien handelt“, indem sie ihren Mann darum bittet und auch Erfolg damit hat, spielt ihr eigenes, eitles Spiel, in das Nechljudow kurz hineingezogen wird. Sie ist schön und weiß sich genau in ihn hineinzuversetzen (sagt ihm, was er hören will), doch in ihr schlägt auch nur ein kaltes Herz, das nach Aufmerksamkeit giert. Sie unterscheidet sich nicht von jenen großen Damen, die ihre Dekadenz und Herrschsucht frei ausleben, sie verdeckt diesen hässlichen Charakterzug nur durch Schauspiel und Verschleierung. (Kap. 28)



  • Widerwärtig ist das Tier im Menschen, dachte er; aber wo es sich unverhüllt zeigt, da siehst du von der Höhe deines geistigen Lebens auf es herab und verachtest es, und ob du gefallen bist oder ob du widerstehen konntest – du bleibst derselbe, der du gewesen bist. Wenn sich jedoch dieses Tier unter einer vermeintlich ästhetischen, poetischen Hülle verbirgt und Verehrung für sich verlangt, dann versinkst du ganz darin, und indem du das Tier anbetest, unterscheidest du nicht das Gute vom Bösen.



Zu diesen Menschen zählen auch die Künstler, Gelehrten und Literaten, die nur schönreden, nicht handeln, die ihre verkümmerte Seele in polierten Fassaden zur Schau tragen und von sich denken, sie hätten irgendwelche „höchsten, verfeinerten Gefühle“, die jeder bemerken muss, warum sie sie auch erst zur Schau stellen.
Tolstoi betrachtete die Kunst immer als eine Beschäftigung der Satten. Er meinte damit genau diese Situation, in denen sich Menschen maßlos den schönen Künsten und Plaudereien ergeben, dabei Champagner schlürfen und über Gott und die Welt „philosophieren“, während direkt neben ihnen etliche Menschen verhungern oder ganz langsam zugrunde gehen. Und die Menschen sind einerseits blind, aber mehr noch genau darüber im Bilde, was neben ihnen geschieht, gefallen sich aber in ihrer Position so gut, dass sie Erklärungen und Rechtfertigungen für ihre Beschäftigungen mit einem aufgeblähten Nichts finden und vorbringen, bis ihnen das Leid wie eine unangenehme Belästigung erscheint. Das ist ihre Art der Empörung, während ein anderer Mensch von tiefer Traurigkeit ergriffen wird. Nechljudow denkt:
… es kann nicht sein, dass alle jene Worte von der Gerechtigkeit, dem Guten, von Gesetz, Glauben, Gott und dergleichen bloße Worte sind, die den gröbsten Eigennutz und die roheste Grausamkeit verbergen.

Hintergründe, die sich bis heute nicht aufgelöst haben. Auch darf man dabei getrost hinterfragen, wie vernunftbegabte Menschen allgemein und in jetziger Zeit annehmen können, dass z. B. satte Politiker sich jemals für den Mann der Mittelschicht einsetzen würden oder überhaupt interessieren, statt auf ihren eigenen fetten Arsch bedacht zu sein. Das hat sich durch all die Jahrhunderte kaum verändert. Nur ist, wo alles demokratisch geregelt ist, der Mensch dem Trug einer Freiheit erlegen, in der er glaubt, eine Wahl zu haben, während die "Verbrechen" weiterhin wegdiskutiert werden, bis sie im Informationsüberfluss langsam vergluckern.

Oder im Sinne Tolstois: (Kap. 28)



  • Alles war klar. Es war klar, dass das, was für wertvoll und gut gehalten wird, nichtig und abscheulich ist und dass all dieser Glanz, all diese Pracht nur alte Verbrechen verdeckt, an die sich jedermann gewöhnt hat.



Eine feine Beschreibung gelingt Tolstoi über die "graue Masse", über den Aufbruch der Gefangenen:

  • Reihe auf Reihe zogen die unbekannten Wesen von seltsamem und schrecklichem Aussehen an ihm vorüber, die sich mit tausend gleichbeschuhten Füßen und gleichbekleideten Beinen bewegten und im Takt zu den Schritten, gleichsam um sich aufzumuntern, die freien Arme schwenkten. Sie waren so viele, sie glichen einander so sehr, und sie befanden sich in einer so eigentümlichen und seltsamen Lage, dass es Nechljudow so vorkam, als seien sie keine Menschen, sondern irgendwelche fremden, fürchterlichen Geschöpfe.



Nechljudow erlebt diesen Gefangenentransport als Unmenschlichkeit. Bürokratismus siegt erneut über die Umstände, dass die Hitze darum auch mehrere Menschenleben kostet. Das Ereignis dieser Beschreibung hat wirklich stattgefunden, warum die Empörung Tolstois auch besonders laut durch seine Zeilen dringt.



  • Niemand ist schuldig, und doch sind diese Menschen getötet worden, und zwar durch dieselben Leute, die an diesen Todesfällen unschuldig sind.



Besonders gut nachvollziehbar ist die Luft, die Nechljudow aus dem glühend heißen Zugwagon "wie aus einem Badestubenofen" entgegenschlägt, als er die Maslowa kurz durch das Fenster spricht.

Die Diskussion zwischen ihm und seinem Schwager war wirklich aufschlussreich, besonders durch die eigenartige Lösung, die Nechljudow anbietet. Er ist für Todesstrafe und Bestrafung durch körperliche Züchtigung, da diese einen Zweck erfüllen (… das wäre grausam, aber zweckmäßig..., körperliche Züchtigung merkt sich der Mensch, und sollte er wirklich eines Verbrechens schuldig sein, muss man ihm den Kopf abschlagen), das Einsperren und Verbannen jedoch würde keinen Zweck erfüllen, sondern nur die Ungerechtigkeit vermehren und zum reinen Bürokratismus verkommen, der den Menschen nicht mehr als Menschen betrachtet, sondern als ein Fall, der aus der Welt/Gesellschaft geschafft werden muss (insbesondere in Bezug auf die politischen Gefangenen). Das Thema Gefangenschaft und Verbannung hat ja selbst Tschechow mit seiner Insel Sachalin aufgegriffen, so haben sich etliche Schriftsteller ganz unterschiedlich damit auseinandergesetzt. Auch finde ich, muss man unterscheiden, ob die Schuld politisch ist oder aus einem Verbrechen resultiert.
Andererseits hat Nechljudow Recht, wenn er behauptet, dass das Laster erst im Gefängnis vermehrt wird, und auch, wenn er ausruft: „Man sagt ihm: Stiehl nicht! Er sieht und weiß aber, dass die Regierung mit all ihren Beamten ihn in Form von Steuern unaufhörlich bestiehlt.“


Das sind eben die Schwierigkeiten der Moral, wenn der normale Mensch sich Gesetzen unterwerfen soll, aber tagtäglich erlebt, wie die, die die Gesetze machen, sie brechen oder durch ihr bloßes Vorhandensein handeln, wie der kleine Mann nie handeln darf. Da werden über die Köpfe des Volkes ganz selbstverständlich Gelder verschoben und geliehen, und dann vom Volk wieder in mittlerweile unverfrorener Höhe zurückverlangt.
Nechljudow prangert aber nicht nur das Strafsystem oder die Unfähigkeit solcher Leute wie sein Schwager an, die über das Gelernte und Verinnerlichte hinaus nicht mehr eigenständig oder vernünftig denken, sondern auch den Umgang der Wachdienste, die das „einfachste Gefühl des Mitleids“ verloren haben. Der Dienst scheint in seinen Augen das zu sein, was die Menschen zu Robotern, statt Menschen macht. Solange sie nach Vorschriften und Pflichten handeln, schalten sie den Verstand und insbesondere das Herz aus und handeln lediglich auf Befehl. (Wir wissen nur zu gut, wohin das führen kann.) Das wird dann wohl auch die gleiche Abneigung sein, die Tolstoi für das Militär empfindet.
Irgendwie musste ich allerdings auch an Ärzte denken, die sich ebenfalls nicht leisten können, auf jeden Patienten individuell einzugehen, Routine gerät grundsätzlich in die Abläufe, so auch hier bei den Wachen und Polizisten, die die Gefangenen in die Züge treiben.
Nechljudow aber sagt:



  • Wenn es möglich wäre anzunehmen, dass irgend etwas – was es auch sein möge – wichtiger ist als das Gefühl der Menschenliebe, sei es auch nur für eine Stunde und nur in irgendeinem einzigen Ausnahmefall, so gäbe es kein einziges Verbrechen, das man nicht, ohne sich für schuldig zu halten, an den Menschen begehen könnte.


Hier macht es sich Tolstoi wahrhaftig zu einfach. Das sind jene Grenzen, die er im Gegensatz zu Dostojewskij nicht überschreitet. Hier hält er fest, dass die Welt so geordnet ist, wie er sie sieht, nimmt sich selbst als das Vorzeigebeispiel, wie ein Mensch grundsätzlich handeln würde, was absurd ist. Die Menschen sind so verschieden, und darunter sind dann eben auch die, die, auch wenn sie sich für schuldig halten, trotzdem weiter gegen dieses Gefühl handeln. Oder die, die bewusst gegen die Moral handeln und ihr Handeln sofort zu rechtfertigen verstehen.

Für Tolstoi und seinen Protagonisten wird die Menschlichkeit gegen Regeln getauscht, das natürliche Empfinden von Gut und Böse durch Vorschriften ersetzt, die den Menschen abstumpfen und in Situationen nicht mehr spontan reagieren lassen. Dadurch verliert er auch den Sinn einer innerlichen Hinterfragung und moralischen Auseinandersetzung mit sich selbst.

„Alles kommt davon“, denkt Nechljudow, „dass diese Leute das als Gesetz anerkennen, was kein Gesetz ist, und das, was ein ewiges, unabänderliches, unabdingbares, von Gott selbst in das menschliche Herz geschriebene Gesetz ist, nicht als Gesetz anerkennen.“ (Kap. 40)

Seine Ansichten zur Todesstrafe stehen auch im völligen Widerspruch zu dem, was er in Kapitel 40 denkt.
 



  • Die ganze Sache ist die, dass die Menschen glauben, es gebe Situationen, in denen man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe; solche Situationen gibt es aber nicht. (...)
  • Und es kann auch gar nicht anders sein, weil die Liebe der Menschen zueinander das fundamentale Gesetz menschlichen Lebens ist. Es ist wahr, dass der Mensch sich nicht ebenso zwingen kann zu lieben, wie er sich zwingen kann zu arbeiten, aber daraus folgt nicht, dass man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe, besonders wenn man etwas von ihnen verlangt.



Wieviel Liebe liegt denn in Prügel- und Todesstrafen? Und was soll der Mensch aus ihnen mehr lernen, als wenn man ihn in die Verbannung schickt? Ein geprügelter Hund denkt beim nächsten Mal nach? Wenn ihn aber eine Situation begegnet, in der er nicht nachdenken kann? Und der Tod als Lösung... Als ob hier zwei Welten nebeneinander gelegt und unterschiedlich bewertet werden. Vergebung ist Liebe. Tod als Lösung ist keine Vergebung. Ist eine Maßnahme, wie all die anderen, die Nechljudow den Gesetzgebern, Anwälten und Staatsdienern ankreidet...

Die Absicht Tolstois bei der Figur Nechljudow würde ich so definieren, dass hier ein oberflächlich gewordener Mensch mit guter Seele, die aber über die Zeit gelitten hat, versucht, seine Sünden wieder gutzumachen, und während er dies versucht, gerät er aus der Eitelkeit (Ich tue das, um mich selbst zu läutern...) in eine allgemeine Hinterfragung der Umstände (die jedoch fragwürdig bleibt). Tolstoi entwirft hier einen mächtigen Widerspruch, da er sagt, dass die Gefangenen unter solchen Bedingungen verrohen, die Obrigkeit die alleinige Schuld daran trägt, jedoch seine Gefangenen alle von unterschiedlicher Gutmütigkeit und Liebenswürdigkeit sind. Sie rücken bei ihm durch die Umstände eher näher aneinander, von Verrohung kann nicht die Rede sein. (Lediglich die Wachhabenden verrohen oder sind schon durch und durch routiniert und unmenschlich.) Dazwischen gibt es ein paar Selbstdarsteller mit revolutionären, anarchistischen, marxistischen Ideen.
Nechljudows Antwort und neu gewonnene Sichtweise auf all das Erlebte wird am Schluss sehr deutlich. Auch ist die Müdigkeit irgendwo verständlich, denn man kann hier die Figur lebendig werden lassen und sehen, welche Mühe man selbst unter diesen Umständen hätte, wenn man, wie Nechljudow, nicht daran gewöhnt ist. Der Geist ist willig, der Körper ist schwach..., das ist ja in diesem speziellen, leicht abweichenden Sinne durchaus nachvollziehbar. Daraus kann ich allerdings wiederum nicht deuten, dass Nechljudow sich nicht gewandelt hätte oder dass er immernoch verkrampft und pflichterfüllend ist. Da schlägt schon ein gutes Herz in seiner Brust, das versucht zu helfen, jedoch auch scheitern muss. Er hat ja daraus auch eine ganz bestimmte Erkenntnis gewonnen. (Dazu später.) Letztendlich bleibt er ein Charakter, der sich selbst eingesteht, dass er auf Teufel komm raus einen Weg eingeschlagen hat, den er auf Dauer nicht durchhält, was Verrat an seiner eigenen Person wäre. Dass er aber an all dem, was er bereits getan hat, nicht gewachsen wäre, finde ich nicht. Nechljudow ist kein perfekter Mensch, keiner, der aus dem Nichts auf einmal zum erhabenen Engel wird. Er ist einfach ein Mensch, mit all seinen guten und eben auch nicht so guten Seiten, auch wenn er durchaus weiter geht, als andere Menschen seiner Kreise (wobei diese extrem auf das Podest gestellte Position Nechljudow als einziger Ausbrecher seiner Klasse (z. B. bei der Reaktion der Arbeiter, die ganz verwundert sind, dass er ihnen im Zug einen Platz anbietet) wiederum stark übertrieben, zu überspitzt und darum realitätsfremd wirkt.

Auch fand ich interessant, wie Tolstoi einerseits die politischen Gefangenen in bessere Umstände setzt, was damals, laut Solschenizyn ja noch der Fall war, bevor sich die Staatsgewalt umkehrte und die politischen Gefangenen schlimmer als die gefährlichsten Schwerverbrecher behandelt wurden, dann aber behauptet, wie schwer sie es haben.
Einmal sagt er z. B. in Kap. 1/Teil 3:



  • Die Versetzung in die Abteilung der politischen Gefangenen verbesserte die Lage der Maslowa in jeder Beziehung, und zwar nicht allein deshalb, weil die Politischen besser untergebracht und verpflegt und nicht so grob behandelt wurden, sondern auch insofern, als die Verfolgungen von seiten der Männer aufhörten ...



Dann aber in seinen philosophischen Auseinandersetzungen wieder (Kap. 5):



  • Wie furchtbar und sinnlos die Qualen auch waren, denen die sogenannten Kriminellen ausgesetzt waren, so wurden immerhin bei ihnen vor und nach der Verurteilung Mittel angewandt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Gesetzmäßigkeit hatten; in den Prozessen gegen die Politischen gab es nicht einmal diesen Schein von Gesetzmäßigkeit (...). Diese Menschen behandelte man so wie die Fische beim Fang mit dem Zugnetz: man schleppt alles, was hineingerät, ans Ufer, und dann liest man die großen Fische aus, die man braucht, ohne sich um die kleinen zu kümmern, die verderben und am Ufer ersticken. Auf ähnliche Weise wurden Hunderte von Menschen, die offenkundig nicht nur unschuldig waren, sondern der Regierung noch nicht einmal gefährlich sein konnten, verhaftet und manchmal jahrelang in den Gefängnissen festgehalten, wo sie schwindsüchtig oder irrsinnig wurden oder Selbstmord begingen, und man hielt sie deshalb fest, weil man keinen Anlass hatte, sie freizugeben.



Hier kam mir der Verdacht, dass Tolstoi seine Geschichte schreibt, aber sobald er in seine Philosophie und eigenen Ansichten verfällt, stark pauschalisiert und sich über Bedingungen empört, die in seiner eigenen Romandarstellung so gar nicht auftreten. Andererseits spricht er von Unterbringung und unschuldiger Verhaftung und Verbannung, zwei Aspekte, die man vielleicht doch getrennt sehen muss.

Der letzte Teil des Romans enthält für mich ein Highlight - der Alte (...jeder Glaube rühmt allein sich selbst...), der frei von allem ist. "Sei dir selbst ein Vorgesetzter, dann wird keine Obrigkeit mehr nötig sein."

Besonders stark drückt sich Tolstois Rückständigkeit, das Festhalten an den Evangelien und seine dermaßen kleinkarierte (weil aus sich selbst heraus unzufriedene) Deutung dieser in "Die Kreuzersonate" aus. Tolstoi neigte im Alter stark dazu, sein Sein, Leben und seine Meinung zu verallgemeinern und damit als einzig richtig für die ganze Welt zu empfinden und darauf zu beharren. In "Auferstehung" kam mir das Heranziehen der Schriften und die Rechtfertigung seiner Handlung durch diese auch etwas zu einfach vor. Statt Nechljudow durch sich selbst erkennen zu lassen, immerhin hat er einen weiten Weg dafür zurückgelegt, findet er Bestätigung bei Matthäus, was einiges erklärt, jedoch genau, wie es Tschechow ausgedrückt hat - "Die Erzählung hat keinen Abschluss; denn das, was dasteht, kann man nicht als Abschluß nennen. Schreiben, schreiben, und dann alles nehmen und auf einen Evangelientext abwälzen – das ist schon richtige Theologenart." - genau in diesem Sinne reine Abwälzung ist.

Ich meinte mit rückständig, Tolstois Ansichten über die Ehe, wo er z. B. Enthaltsamkeit predigt oder die Abschaffung der Kinder, weil sie nur Last sind, oder seine Empörung, dass die Frau ihr Kind nicht selbst stillt ... und dieser ganze Unsinn, den man während des Lesens der "Kreuzersonate" noch als Wahn des Protagonisten abtut, wäre da nicht das Nachwort Tolstois, worin er genau diese Punkte noch einmal aufgreift und als seine eigene Sicht der Dinge darstellt. Die Menschheit, so erklärt sein Protagonist, redet sich damit heraus, dass sie nicht fortdauert, wenn sie nicht der Liebe frönt, aber wozu, erklärt er weiter, sollte so eine triebhafte und nur triebhafte Gesellschaft überhaupt weiter existieren müssen? Sollen sie doch alle aussterben, so das Plädoyer.

Tolstoi erschien mir immer als ein weiser Schriftsteller, der die Dinge behutsam betrachtet, doch mit zunehmendem Alter war er unfähig, seine Erzählungen und Romane (ganz im Gegensatz zu anderen Schriftstellern) von vielen Perspektiven aus zu gestalten. In allem ist er selbst vorhanden, und selbst die geäußerten Dummheiten stellen sich dann als seine eigenen Überzeugungen heraus. Was in „Anna Karenina“ oder „Krieg und Frieden“ noch gerecht geformte Frauengestalten waren, sind in der "Kreuzersonate" Überbleibsel an Blut und Sperma saugenden Gewaltherrschaften, die den Mann unterwerfen und ihm die geistig überlegende Seele zertrümmern, ihn vorher mit unheilvoller Verführung täuschen. Was Menschlich-allzumenschlich ist, ist bei ihm die Klage an die Sittenlosigkeit einer sich weiterentwickelnden und aufgeklärten Zeit, die ihren eigenen Abgrund gestaltet, nicht, weil sie sich bekämpft oder falschen Idealen folgt, sondern weil sie an ein Ideal wie Liebe glaubt, die Ehe eingeht oder dem tierischen (Natur gegebenen) Trieb folgt.

Für ihn existierte die sinnliche Liebe nie (es gibt, wenn überhaupt, nur die Reibung), und genau das wird in "Die Auferstehung" auch noch einmal sichtbar. Kein Gefühl, keine Leidenschaft, nur die Erwähnung Tolstois, dass die Maslowa Nechljudow liebt, jedoch nicht nachvollziehbar oder für den Leser erspürbar, sondern lediglich, weil Tolstoi es so schreibt und festgesetzt hat. Auch Nechljudow ist höchstens einmal der Eifersucht verfallen, nicht aber der Frau, die ihn neu in ihren Bann zieht.
Für diesen Prozess, den Nechljudow durchmacht, bedurfte es natürlich keiner leidenschaftlichen Gefühle, jedoch hätte Tolstoi die Liebe zwischen diesen beiden Menschen stärker ins Bild setzen können.

Die frühen Werke, wie "Krieg und Frieden", "Anna Karenina" sind noch von einem ganz anderen Tolstoi verfasst. Der ältere Tolstoi wurde zunehmend sturer und verbitterter.


(Alle Zitate stammen aus Leo N. Tolstoi "Auferstehung", Winkler Verlag)

 







(c) Annelie Jagenholz