Andrej Bitow
Andrej Bitow ist einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller der Postmoderne mit außergewöhnlich komplexen Themen. Seine Werke reflektieren immer auch über das Thema hinaus, dabei als eine Selbstanalyse, die sich schrittweise verändert, sogar korrigiert. Aufmerksam wurde ich auf ihn durch Viktor Pelewin, der ihn in seinem Roman „Generation P“ erwähnte. Bitow ist am 27. Mai 1937 in Leningrad geboren, hat zeitweise als Geologe gearbeitet. Wegen seiner Mitarbeit an dem Untergrund-Almanach Metropol bekam er für eine lange Zeit Publikationsverbot in Russland. Sein bisheriges Hauptwerk, „Das Puschkinhaus“ war jahrelang ein Geheimtipp, kursierte im Samisdat und erschien im Original zuerst in Amerika. Veröffentlicht wurde es in Russland nur mit Streichungen und Änderungen, so z. B. kehrt im Original Ljowas Großvater aus dem Lager wieder, in der russischen Version kommt er von einer längeren Geschäftsreise zurück, wobei dann der Sinn jener menschlichen Veränderung, die Ljowa an ihm erlebt, verloren geht. Die deutsche Version ist natürlich die komplette und richtige.
DAS PUSCHKINHAUS
So leben wir, überbewerten fremde Gefühle für uns und unterschätzen die eigenen, und die Zeit kommt sehr dicht an uns heran.
„Das Puschkinhaus“ ist wahrhaftig ein literarisches Ereignis und prägt sich dem Leser tief ein. Man sieht sich dabei beständig an Oberflächen entlang treiben als auch in Tiefen abtauchen, wobei diese Zustände schneller wechseln, als man voraussehen kann. Bei Bitow bekommt man nach und nach beinahe das Gefühl, als würde ihm sein eigenes Schreiben immer einmal wieder entgleiten (was natürlich von ihm gewollt ist und genau in dieser herrlichen Weise zu seinem Stil gehört) und er sich dabei ironisch oder ernst immer einmal wieder selbst in Frage stellt (dabei auch von allen Seiten betrachtet, nicht nur aus der eigenen Perspektive, sondern aus Augen, die fragen, wie es wirkt, wie es gedeutet werden könnte, was angesagt, was abgesagt ist, usw.). Statt kontinuierlich seiner Figur samt seiner Geschichte zu folgen, gelangt er immer wieder zu sich selbst oder zu anderen Ereignissen, schweift ab, kehrt zurück, dringt tiefer oder erhebt sich gleich dem Wind, der auch den Roman einleitet, über seine agierenden Gestalten. So umkreist er all das und scheut sich nicht, Charaktere mitten in einer Szene auf einmal zu beschreiben, sich in sie hinein zu versetzen oder, ganz anders, sie zu betrachten und sich als Schriftsteller selbst zu hinterfragen, warum die Szene, die Figur so geworden ist. All das ist der Effekt „Bitow“, dem der Leser bald völlig begeistert ergeben ist. Hier trifft er u. a. auf bekannte Titel wie „Väter und Söhne“ oder „Ein Held unserer Zeit“, mit denen die einzelnen Teile und Kapitel überschrieben sind, zu denen sich Bitow als Wir-Stimme äußert, um zu erklären, inwieweit etwas übernommen oder nur als Hommage verwendet wird, was es ausmacht, zu zitieren, oder wie wirklich ein Titel tatsächlich originell ist (da wird Hemingway als interessantes Beispiel angeführt). Auch spricht die bitow’sche Stimme über die russischen Schriftstellerautoritäten, über andere Schriftsteller, wobei die Literatur und Literaturgeschichte dabei fast diametral zur Geschichte beleuchtet wird. Der Protagonist Ljowa (nach Tolstoi benannt – Lew) arbeitet im Leningrader Literaturinstitut "Puschkinhaus". Der Roman beginnt dabei mit seinem Tod, genauer gesagt, wird ein lebloser Körper (vom hereinrauschenden Wind) im Puschkinhaus gefunden, der sich als der Literaturwissenschaftler Ljowa Odojewzew herausstellt. Dieser liegt inmitten zerstörter Andenken an Puschkin, Tolstoi und andere Schriftsteller, bei zerbrochenem Fenster, durch das der Wind pfeift. Nun stellt sich die Frage, was geschehen ist, aber Bitow, ganz wie er ist, denkt überhaupt nicht daran, hier kriminalistisch zu ermitteln, sondern kehrt zurück in Ljowas Kindheit, beleuchtet seine Beziehung zu seinem Vater, seinem Onkel (der Dickens genannt wird, weil er diesen Schriftsteller schätzt) und seinem Großvater (der aus der Gefangenschaft zurückkehrt und nicht mehr derselbe Mensch ist). Das erste Kapitel dreht sich um die Schwierigkeiten zwischen diesen Menschen, zeigt, wer der Protagonist ist, ein doch schwacher, nicht an sich glaubender Mensch, der gefährlich leicht in wissende Hände geraten kann, der kaum einen echten Bezug zur Wirklichkeit, zu den Menschen, zum Sein an sich hat. Das zweite Kapitel beleuchtet das Leben Odojewzews ganz anders, von der Seite seiner Liebschaften aus, derer er drei verschiedene hatte, die bereits im ersten Kapitel angedeutet wurden, wobei er die eine Frau liebte, sie ihn nicht liebte (Faina), die andere nicht liebte, sie ihn vergötterte (Albina), und eine dritte Frau ihm gegenüber genauso gleichgültig war, wie er ihr gegenüber (Ljubascha), was ein harmonisches Miteinander vergönnte. Dabei stellt sich heraus, dass die lieblose Beziehung die ist, die am schnellsten wieder endet. Nichts ist schlimmer, sagt Bitow, als an der Seite einer Frau zu leben, die man nicht liebt. Jeder ihrer Fehler, jeder äußerliche Makel wird überdimensional verteufelt, während sie in anderen Augen eine schöne Frau ist. Die dagegen, in die sich Ljowa unsterblich verliebt hat, die ihn mal zu sich lässt und dann wieder von sich stößt, ist nur in seinen Augen schön und wirkt auf andere eher nichtssagend. Mit den drei Frauen und der Beziehung, die Ljowa zu ihnen unterhält, tritt eine weitere, wichtige Figur in die Geschichte ein: Mitichatjew, ein ehemaliger Schulkamerad, den Ljowa bewundert und eifersüchtig fürchtet, während der andere ihn einfach nur verachtet. Warum er ihn verachtet und sein Spiel mit ihm treibt, das zeigt sich im dritten und letzten Kapitel. Mitichatjew ist ein unangenehmer und fanatischer Mensch, mit wenig Tiefgang, der aber gleichzeitig ein Geheimnis wahrt und bei dem vieles auch nur Schein ist, vielleicht selbst seine Oberflächlichkeit. Trotzdem sprüht aus ihm das Leben, während Ljowa dagegen blass agiert, unfertig, taub für die Welt, die er erst nach und nach für sich entdeckt, und das auch noch in kindisch überheblicher Art. Ljowa wird von Mitichatjew „Fürst“ genannt, da er von adliger Abstammung ist und seine Vorfahren sich einen Namen in der Literatur gemacht haben. Ob sein Großvater nun von der eigenen Familie verraten wurde oder das Verhältnis einfach aufgrund des eigentlichen Ereignisses getrübt wurde, ist nicht so leicht zu sagen. Auch ein Schweigen oder Nicht-Handeln kann bereits Verrat bedeuten. Jener Konflikt zwischen Adel und „Volk“, während sich der Adel bei seinem Niedergang nur an die Umstände anpasste, sich aber nicht von Grund auf änderte (so die Behauptung Mitichatjews und Bitows), tritt auch zwischen die beiden Männer, Mitichatjew und Ljowa. Mitichatjew fordert von seinem Gegenüber später, sich selbst zu erkennen. Hier schließt sich der Kreis wieder, der bei Puschkin begonnen hat. Das Werk gehört tatsächlich zu den Meilensteinen der russischen Postmoderne. Die Abschweifungen, Anspielungen, Betrachtungen des Zeitgeschehens, die Zitate, Gedanken zu den Zitaten und Schriftstellern, die Betrachtung von Gesellschaft und Entwicklung, lassen Russland von seiner prachtvollen, literarischen Seite vor den Augen des Lesers auferstehen. Das Kapitel z, B., in dem das Gespräch der Betrunkenen im Puschkinhaus stattfindet, das vor dem Unglück des Anfangs stattfand und angeblich aus wirklichen Gesprächen betrunkener Schriftsteller besteht, ist köstlich, im Kampf geistiger Größen, die sich an Wissen über Literatur, Puschkin und seine Frau Natalia Nikolajewna Gontscharowa gegenseitig zu überbieten suchen. Nur eine Szene:
- … Sie sind ein Banause, von Gottich! Sie hat ihn ertragen und erduldet – ist Ihnen das zu wenig? Stellen Sie sich nur einmal diesen Irren vor, diesen gallespeienden Mohren, diesen unflätigen Kerl…“
„Gleich kriegst du eins in die Fresse.“ „Halt, halt, beruhigen Sie sich, meine Herren!“ „Ja, ja! Erbärmlich, schmutzig, aber nicht so einer wie ihr, Schurken!“ (…) Ja… genau… und wie sich dann alles ändert! Puschkin, der sich sein Leben lang über das Hörneraufsetzen mokiert hat, wird plötzlich Verfechter weiblicher Ehre und Treue…“ „Haben Sie nicht „Amor und Hymen“ von Chodassewitsch gelesen?! Was haben Sie überhaupt gelesen?…“
(Da lag ich flach.)
Wie der Roman nun endet, werde ich natürlich nicht verraten, denn dazu ist er zu spannend. Es bedarf bei Bitow tatsächlich eines sehr ähnlichen Charakters, um seinen Roman vorhersehen zu können. Die Schwierigkeit, eine eigene Figur wieder loszulassen, bringt Bitow dazu, zu ihr zu stürzen, wenn es gefährlich wird, mit ihr zu verschmelzen und sich wieder von ihr zu lösen. Er beklagt die Grausamkeit gegenüber literarischen Figuren, die in ihre Bücher „eingekerkert“ sind, denn die Figur kann sich, im Gegensatz zu einem Menschen, nicht wehren, warum Bitow sich ganz besonders um seinen Ljowa sorgt. Was auch immer der Autor mit seiner Figur vorhat, sie muss sich ihrem Schicksal ergeben.
- In irgendeinem Land, noch schöner als England, ließe sich durchaus eine Gesellschaft zum Schutz der literarischen Helden vor ihren Autoren denken. Und in der Tat, diese stumme Reihe von Märtyrern, auf ewig in schmale Bände eingekerkert, diese bleichen, bis zur Körperlosigkeit entkräfteten, für immer durch ihre Vergehen an den Idealen und Kategorien zerrütteten, unschuldigen Gefangenen – sie rufen aufrichtiges Mitleid hervor. Um so mehr rufen sie Mitleid hervor, als ihre Qualen nur zum Teil ihre eigenen sind, sondern in beträchtlich größerem Maße die Qualen eines anderen – nämlich des Autors.
Auch wagt Bitow das Experiment, das tatsächliche „Puschkinhaus“ zu betreten und einem Ljowa von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten und den „echten Ljowa“ mit seiner Figur zu vergleichen, wobei wir uns immer noch in der Fiktion befinden, in Version und Variante, in einem neuen Teil des Romans. Wir steigen aus der Realität in die Realität eines Romans, treffen in einer Figur einen Menschen, der immer noch Figur ist. Bitow geht sogar so weit, ein Interview mit diesem „anderen“ Ljowa zu veranstalten, obwohl er, als Autor, die Antworten doch eigentlich längst kennt. Ein Traum inspirierte ihn dazu, so schreibt er, in dem er auf sich selbst als Außenstehender traf, um außerhalb des Spiegelbilds zu sehen, wer er wirklich war. Die Begegnung mit Ljowa, so Bitow, war in dieser Form jedoch gar nicht vorgesehen, so im Wort für Wort und Miteinander, daher zieht er sich bald wieder zurück, nicht ohne dass dieser Ljowa sich genauso offenbart wie der andere und doch gleiche Ljowa. Ja. Ein köstliches Leseerlebnis gefüllt mit Literatur und Puschkin – "Der Volkskünstler d’Anthès goss Puschkin aus einer Kugel. Und wenn nun niemand mehr da ist, auf den man schießen könnte, gießen wir eben die letzte Kugel zu einem Monument. An ihm werden Millionen von Akademikern herumrätseln – und das Rätsel nicht lösen. " - voller Selbsthinterfragung, Schriftstellergesichter, Ansichten und Spannung. Damit gehört auch Bitows Roman zu denen, die ich ein weiteres Mal lesen werde. Unbedingt sogar, denn so vieles kann noch entschlüsselt werden.
- Auch die Wörter haben ihre Bestimmung verloren. Und zu prophezeien lohnt nicht – es trifft ein… Und die letzten Worte werden dadurch verstummen, dass sie sich selber benennen konnten, sich selbst – beschworen. (…)
Aber selbst wenn das Wort genau artikuliert wird und seine Stummheit überleben kann, bis der Sinn phönixgleich aufersteht, heißt das denn, dass man es in dem Papierstaub auffinden, dass man es überhaupt in seiner früheren, wenn auch wahren Bedeutung suchen wird – und es nicht einfach aussprechen wird wie neu?...
(c) Annelie Jagenholz
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