Gedanken zu
Wassili Grossman
"Leben und Schicksal"
Grossman hat ein gehetztes Leben hinter sich, warum auch nur wenige seiner Nachkriegswerke veröffentlicht wurden. Geboren am 12. Dezember 1905, wuchs Grossman zwar als Sohn jüdischer Eltern auf, wurde aber nicht in jüdischer Tradition erzogen. Erst später beschäftigte er sich intensiv mit dem Judentum, als der Antisemitismus in Russland begann und seine Ansichten über den Staat in jeglicher Weise in Frage stellte. Seine Eindrücke über Treblinka dienten später bei den Nürnberger Prozessen als Beweismittel und Dokument der Anklage. Der erste Roman über Stalingrad nannte sich „Stalingrad“, später „Für die gerechte Sache“ (noch sehr teuer und antiquar zu haben unter dem Titel „Wende an der Wolga“), während „Leben und Schicksal“ zwar sein opus magnum ist, jedoch der zweite Teil, was auch die Namen und Ereignisse betrifft. Als er das Manuskript für „Leben und Schicksal“ zur Veröffentlichung vorlegte, durchsuchte der KGB seine Wohnung und beschlagnahmte sämtliches schriftliches Material. „Ich verlange Freiheit für mein Buch…“ schrieb er an Chruschtschow. Eingestuft als „gefährlich“, wurde er zur Unperson. Grossman starb am 14. September 1964 in Moskau, ohne zu wissen, ob sein Roman jemals von einem Publikum gelesen werden würde. In seinem Werk fragt sich ein Glossen-Schreiber, der zum früheren russischen Adel gehörte:
- „Ob ich wohl sterben werde, ohne eines meiner Gedichte gedruckt gesehen zu haben?“
Vielleicht klingt in diesem Satz durch, was Grossman sich im Stillen auch ab und an selbst gefragt hat.
Dann nun also zu diesem Werk:
LEBEN UND SCHICKSAL
- Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen.
Grossman führt uns direkt in ein deutsches Konzentrationslager, wo der alte Bolschewik Mostowskoi zum ersten Mal wieder auf seine Fremdsprachenkenntnisse zurückgreifen muss, die er noch aus den Jahren seiner Emigration kennt. Ein riesiges, schreckliches, kaltes Lager voller Menschen, von denen viele keine Verbrechen begangen haben. Kritik an Hitler, Witze, Gespräche genügten, um hier zu landen, politische Gefangene, Drückeberger, Saboteure, deutsche Emigranten. Tatsächliche Verbrecher, Diebe oder andere Kriminelle gehörten im politischen Lager zu den Privilegierten. Der Nationalsozialismus ist überall anwesend, ohne „Person“ zu sein. Die Gefangenen halten sich selbst in Schach.
- Der Nationalsozialismus lebte ganz selbstverständlich in den Lagern; er setzte sich nicht vom einfachen Volk ab, er machte volkstümliche Witze, über die man lachte, er war Plebejer und gab sich einfach, er kannte eben Sprache, Seele und Geist derer, denen er die Freiheit geraubt hatte.
Mostowskoi trifft dort auf den Latrinenalten, der im Lager mitleidig als zurückgeblieben angesehen wird. Er stellt fest, dass sich unter dem Zerfall ein intelligenter Mensch verbirgt, der viel Leid und Grauen gesehen hat, Dinge, durch die er seinen Glauben verloren hat. Juden, die getötet wurden, eine Bäuerin, die vor Hunger ihre beiden Kinder aufgefressen hat. Er erklärt:
- Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte.
- Denn Hitler würde dieses Lager als etwas Gutes ansehen.
Und:
- Die Welt ist zu keiner höheren Wahrheit gelangt als zu der, die ein syrischer Christ im sechsten Jahrhundert ausgesprochen hat. (…) Verurteile die Sünde und vergib dem Sünder.
Ein wirklich beeindruckender, tiefer Satz. Eine Welt, die sich immer schneller dreht und doch das Barbarentum nie ablegt, während dieses sich nur vertechnisiert, vergrößert, modernisiert, sich durch Kriege zu befreien versucht, Menschen abschlachtet, als wäre das Leben ein Nichts, wird immer nur auf diese Grundgedanken treffen, ohne je fähig zu sein, sich diesen Satz nicht vor Augen führen zu müssen. Ein Trost, eine Möglichkeit, sich durch dieses Leben schlagen zu können, ohne an all dem Leid zu zerbrechen. Egal, wie sehr das Leben und die Welt sich auch verändern wird, es wird immer auf diese Grundgedanken zurückführen. Und dazwischen wird weiter gemordet, gelyncht und ausgerottet, für Macht und Gier, für Ruhm und Anerkennung, ... für ein Schulterzucken. Grossmans Schreibstil ist einfach und erinnert doch in der Eindringlichkeit der Ereignisse auch mal an Dostojewskijs Beschreibungen aus dem Totenhaus . Grundsätzlich aber hat er durchaus seinen ganz eigenen Stil, führt den Leser mitten in die Gespräche seiner Figuren. Darunter gibt es klare, bewegende und einfache Bilder: ein einäugiger Mann, der sich, wenn ihn jemand anspricht, die Augenhöhle zuhält. (Mostowskoi dachte sich, dass die Traurigkeit, die in dem sehenden Auge zu lesen war, noch viel schrecklicher war als das rote Loch, das an der Stelle des ausgeschlagenen Auges klaffte. – Oder an anderer Stelle: Die Einsamkeit des Einäugigen wirkte in diesem Lager wie ein tragisches Symbol.) Ein Geistlicher, der in seinen Gebeten erscheint, als „könne alles Leiden der Lagerstadt in seinen leidenschaftlichen Augen, in ihrer gewölbten, samtenen Schwärze versinken.“ Der Austausch der Gefangenen trotz der Sprachschwierigkeiten aufgrund verschiedener Nationalitäten und das Gegenteil, als ein bösartiger Streit oder Schweigen der sowjetischen Kriegsgefangenen, die sich nicht einmal untereinander einigen können: Je mehr sie redeten und stritten, umso weniger verstanden sie einander.
- In diesem Schweigen von Stummen, in diesem Reden von Blinden, in diesem von Grauen, Hoffnung und Verzweiflung zusammengeschweißten Menschenhaufen – Menschen, die die gleiche Sprache sprachen und doch einander nur mit Unverständnis und Hass begegneten – offenbarte sich auf tragische Weise eine der großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Ein Trost der Gefangenen ist das Bild Gorki, der über den Gefängnishof geht, als ihm ein Georgier zuschreit: Was läufst du da herum wie ein Huhn geh mit dem Kopf oben! – was nichts anderes heißt als: Kopf hoch! Viel schlimmer wäre, wenn die Gefangenen in die Lager der Eigenen kommen, hier haben sie wenigstens einen Feind – die Deutschen. In einem russisches Lager geht es ähnlich zu. Die Not, der Hunger, das Leid. So viele unterschiedliche Menschen und Charaktere, die alle ein gleiches, ihnen aufgezwungenes Schicksal teilen. Grossman gestaltet eine Art Rundumblick. Aus dem Lager geht es direkt an die Front des Stalingrader Ufers, wo die Rotarmisten mit geröteten Augen den deutschen Bombenhagel abwarten. Der Leser erfährt von den Schwierigkeiten des Soldatendaseins, die über die Gefahr des Todes, den Lärm des Fliegeragriffs, auch zu den ganz simplen Dingen zurückführen, wie z. B. die „Erleichterung“ (das Austreten) und die Freude, wenn es denn klappt, oder er erfährt, wann die richtige Stunde ist, sich zu rasieren, Briefe zu schreiben, kleine Wäsche zu machen, während ein normal Sterblicher den Lärm als bedrohliche Gefahr empfinden würde, solche Dinge, die man sich vielleicht nie vor Augen führen würde und die, bedenkt man sie in einer solchen Situation, doch so wichtig sind. Dazwischen fallen große Namen und werden neue Helden geboren.
- In den vorderen Reihen aber begrub man die Gefallenen, und die Toten verbrachten die erste Nacht ihres ewigen Schlafs neben den Unterständen und Deckungen, in denen ihre Kameraden Briefe schreiben, sich rasierten, Brot aßen, Tee tranken und in selbstgebauten Schwitzbädern ein Dampfbad nahmen.
Und bald darauf befindet man sich inmitten des Krieges – die Wolga brennt – der Brand der Öltanks kostet 40 Stabsführer das Leben.
- „Die Welt steht Kopf, Genosse General, das Feuer fließt wie Wasser, und die Wolga brennt wie Feuer.“
Schon bald bemerkt man die Lücken, die dadurch, dass man den ersten Roman nicht gelesen hat, entstehen. Da fallen Namen, deren Hintergrund man nicht kennt, die dem Leser aber bekannt sein müssten. Trotzdem kann man auch nicht sagen, dass man nicht ins Geschehen findet, denn es passiert etwas, in jedem Moment, auf jeder Seite. Die lauernde Gefahr, der Kampf zwischen Russen und Deutschen, ihre Aufgaben, Denkweisen, Gespräche. Ein zu schlichtender Streit, für den z. B. der Berichtserstatter und Parteigenosse Krymow extra kurz nach dem Brand der Wolga an das Stalingrader Ufer beordert wurde, hat sich von alleine gelöst, da beide Streitpartner zuvor durch eine Bombe ums Leben kamen. Szenen über Szenen. Menschen über Menschen. Das Kriegsgetümmel zeigt all seine Gesichter, all die Geschichten gewähren einen Einblick in das Wesen „Krieg“. Um den Eindruck „Krieg“ nachvollziehen zu können, insbesondere in der Situation des Nahkampfes (der Einzelne, sowie sein Eindruck von Dauer und Zeit) schafft Grossman eindruckvoll philosophische Bilder:
- Das kühne, überlegene „Wir“ verwandelt sich in das zaghafte, zerbrechliche „Ich“ und der glücklose Gegner, den man als vereinzeltes Jagdziel wahrgenommen hat, verwandelt sich in das erschreckende, bedrohlich zusammengeballte „Sie“.
- Vorher hatte der – sich erfolgreich vorwärts kämpfende – Angreifer alles Kampfgeschehen im Einzelnen aufgefasst: Eine Geschossexplosion… ein Feuerstoß aus dem Maschinengewehr … da ist er, ja dieser, hinter der Deckung schießt er(…) denn er ist allein, allein, weil er von jenem vereinzelten Geschütz, von diesem vereinzelten Maschinegewehr, von seinen ebenfalls allein schießenden Kampfgefährten abgeschnitten wurde; ich aber – das sind wir, ich – das ist die mich unterstützende Artillerie, ich – das sind die mich unterstützenden Panzer, ich – das ist die Leuchtkugel, die unseren gemeinsamen Gefechtsschauplatz beleuchtet. Und plötzlich steht dieses Ich allein da, und alles, was vereinzelt und deshalb schwach gewesen war, schließt sich zur furchtbaren Einheit des feindlichen Gewehr-, Maschinengewehr-, Artilleriefeuers zusammen, und ich habe schon keine Kraft mehr, die mir helfen könnte, diese Einheit zu überwinden. Die Rettung liegt in meiner Flucht, darin, dass ich meinen Kopf in Deckung bringe, Schulter, Stirn und Kinnbacken bedecke.
- Und so beginnen jene, die im Dunkel der Nacht dem plötzlichen Ansturm zunächst nachgegeben und sich anfangs schwach und allein gefühlt haben, die Einheit des auf sie einstürmenden Gegners aufzuspalten und die eigene Einheit zu spüren, in der die Kraft zum Siegen liegt.
Dauer und Zeit:
- "Komplizierter ist der Veränderungsprozess im Gefühl für die Länge und Kürze der Zeit, den ein Mensch in der Schlacht durchmacht. Hier vollzieht sich etwas anderes, hier verzerren und entstellen sich die einzelnen, ursprünglichen Eindrücke. In der Schlacht ziehen sich Sekunden in die Länge, und Stunden werden zusammengepresst."
- "Die Zeit ist gespenstisches Medium, in welchem Menschen entstehen, sich bewegen und spurlos verschwinden. In der Zeit entstehen und verschwinden ganze Städte. Die Zeit bringt sie und trägt sie dann wieder fort.
(...) Die Zeit rinnt in den Menschen und in ein Zarenreich, nistet sich in ihnen ein, und plötzlich verschwindet sie, doch Mensch und Reich bleiben. (…) Das Schwierigste ist, ein Stiefsohn der Zeit zu sein. Es gibt nichts Schweres als das Los des Stiefsohns, der nicht in seiner Zeit lebt. Stiefsöhne der Zeit erkennt man sofort – in den Kaderabteilungen, den Bezirkskomitees der Partei, in den politischen Abteilungen der Armee, in den Redaktionen, auf der Straße… Die Zeit liebt nur die, die sie geboren hat – ihre eigenen Kinder, Helden, Gestalten. (...) So ist das mit der Zeit – alles vergeht, aber sie bleibt. Alles bleibt, aber die Zeit allein vergeht."
Der Rundumblick bewegt sich weiter, von der Front geht es in die Städte und Außenbezirke, zu der Familie Schaposchnikow, zum Schicksal einer Jüdin in einem Ghetto, die sich in Briefformat von ihrem Sohn verabschiedet, zu Beamten, die unter Stalin dienen und mit seiner Politik übereinstimmen müssen oder wollen, die Schwierigkeiten der Menschen mit den Behörden, vom Menschen zum Antragsteller degradiert. „Tagelang tun wir nichts als Abschied nehmen“, sagt eine alte Deutsche, die Hitler für einen Kannibalen hält und bald darauf von der Miliz abgeholt wird. Erneut Charaktere über Charaktere, z. B. ein Dichter, der nur für seine Kunst lebt:
- Er war ein weicher Mensch, hilflos in den Dingen des praktischen Lebens. Von solchen Menschen sagt man im Allgemeinen, sie seien Menschen mit Kinderseelen und Engelsgüte. Doch er brachte es fertig, seine Lieblingsverse murmelnd, gleichgültig an einem hungrigen Kind vorüberzugehen oder an einer zerlumpten Greisin, die die Hand nach einem Stück Brot ausstreckte.
Nach etwa 150 Seiten erkennt man also, dass sich die Geschichte und auch wohl Vorgeschichte hauptsächlich um die Familie Schaposchnikow samt aller Stammbaum- und Begegnungs-Verzweigungen dreht. Die Charaktere sind, da es sich eben um den zweiten Teil handelt, nicht sehr tief gezeichnet und doch erfährt man nach und nach, was geschehen sein muss, mit wem man es zu tun hat, was der Krieg aus den jeweiligen Menschen gemacht hat. Man erfährt auch von dem Streit der Bolschewiki und Menschewiki, der nicht einmal im Konzentrationslager endet, von der Sehnsucht nach Freiheit, die man unter dem Stalinistischen System nicht einmal mehr wagen darf doch wenigstens im Stillen zu denken, vom heimlichen Traum der Meinungsfreiheit, findet sich inmitten von Streitgesprächen wieder, wo Tschechow und die Dekadenten, Dostojewski und Tolstoi unter die Lupe genommen werden. Überhaupt erfährt man viele Namen russischer Schriftsteller, die außerhalb von Russland vielleicht weniger bekannt sind. Und auch andere echte Figuren treten auf. Man trifft auf Eichmann und weitere SS-Offiziere, auf Gaskammer-Erbauer und Ausführende, auf Opfer und Täter. Hier werden sowohl die Gräuel Stalins wie Hitlers gezeigt, der Umgang der Menschen unter jeweiligen Bedingungen, die Auswirkungen auf die Menschen durch den jeweiligen Staat, was als letzte Konfrontation immer wieder an das Ufer der Wolga bei Stalingrad zurückschnellt. Grossman, der selbst im Krieg war (zwar ausgemustert, sich jedoch freiwillig gemeldet hat), spricht von all dem Erlebten, urteilt aber auch. In einer Szene legt er einer Figur ein Lob über Tolstoi in den Mund, dass dieser seinen Roman nur schreiben konnte, weil er den Krieg erlebt hat, bis jemand darauf hinweist, dass Tolstoi eben nicht im Krieg war. Ein Wink? Eine leise Kritik, trotz dass daraus ein Meisterwerk hervorgegangen ist? Oder lediglich das Deuten durch Grossman auf sich selbst? Im Geschehen sein ist natürlich etwas anderes, als das Geschehen durch Geschichte und Quellen zusammenzufassen, doch hier bleibt der Roman dennoch ein Roman, kein absoluter Tatsachenbericht. Sowohl bei Tolstoi als auch bei all denen, die wie Grossman, Jünger u. a. direkt dabei waren. Es ist ihre Ansicht, ihre Zusammenfassung. Dabei sein ist trotzdem immer nur eine Fläche und ein Moment, nicht das Gesamtgeschehen, höchstens ein Teil des Puzzles, das hinterher aus vielen Ansichten und eigenen Interpretationen zusammengefügt werden muss. Man stellt sich nach all dem natürlich trotzdem die Frage, weil gerade der Russe und der Deutsche in einem totalitären System dargestellt sind, ob es zutrifft, wenn Grossman sagt, dass egal, wohin sich der „Befehl Staat“ entwickelt, beim einzelnen Menschen immer der eigene freie Wille mitwirkt. Kann er denn unter diesen Umständen handeln? Ohne sterben zu müssen? (Oder ist Sterben dann die einzige Alternative, die dem Menschen bleibt? Eine bessere Lösung?) Könnte er etwas bewegen, wenn alles unter Kontrolle und Überwachung ist? So einfach erscheint es mir, gerade im Vergleich zu den heute versteckten und besser arrangierten Manipulationen, eben nicht, denn hinter dem freien Willen wuchert die eben doch ganz individuelle Angst vor Staat, Unvorhersehbarkeit, Abweichen aus der Masse, Verlust an Gewohnheit, Sicherheit und Bequemlichkeit oder ganz einfach vor dem Tod. Die Angst, für seine Überzeugungen sterben zu müssen oder auch nur für eine abweichende Meinung ist schließlich nicht zu unterschätzen. Und trotzdem sind etliche Menschen dafür gestorben, auch heute sterben sie weiter dafür. Den Kampf aufnehmen, um von vorneherein daran zu scheitern, seine eigene Machtlosigkeit gegen die Maschinerie höchstens bestätigt zu bekommen, das erfordert nicht nur Mut, sondern fast schon übermenschlichen Willen. Es ist immer so einfach zu sagen, ich hätte anders gehandelt, oder zu fragen, warum keiner etwas gegen diese Gräueltaten unternommen hat, warum die Menschen zum „Befehl“ mutierten oder ganz einfach nicht gesehen haben wollen, denn auch heute zeigt sich, wie sehr der Mensch immernoch in so vielen Situationen Schaf ist, auch heute herrscht eine andere Hetze, die bereitwillig geglaubt oder gar nicht erst gesehen wird. Heute wird immernoch oder schon wieder gelyncht und gemordet, ohne dass die Menschen handeln, werden Kriege geführt, die als „gerecht“ angesehen werden, weil das Ungetüm „Terror“ immer weiter aufgebläht wird, das allen Tod und Mord rechtfertigt, selbst wenn er sich gegen Zivilisten und Kinder richtet. Henry L. Mencken, ein amerikanischer Schriftsteller und Journalist, der die Illusion "Demokratie" am eigenen Leib erfuhr, sagte dazu:
„Der ganze Zweck praktischer Politik liegt darin, die Volksmasse in Angst zu halten, und sie deswegen nach Sicherheit schreien zu lassen. Das geschieht durch Drohen mit einer endlosen Reihe von Schreckgespenstern, wobei alle frei erfunden sind” Das trifft auf so viele Bereiche zu, wobei das „alle“ hoffentlich gegen ein „viele“ vertauscht werden kann. Aber: wo sind die Empörungen und Schritte, die der „eigene, freie Wille“ lenkt? Wo sind die Taten? Wo ist der Wille, sehen zu wollen? Das vorgekaute Essen selbst zu analysieren? Der Versuch, hinter Bild und Ansichten zu blicken? Eigener Wille ist Verzicht, auch auf das „eigene Leben“. Das fällt mir zu diesem lapidar hingeworfenen, in der Literatur so einfach gesagten Satz ein. Der eigene, freie Wille wirkt nicht in allem mit, sondern muss geübt und neu erlernt werden und ist unter den Menschen immernoch so rar, wie er es zu fast allen Zeiten war, solange die immer gleiche Form "Machtapparat" erbaut wird, in die der Mensch zu passen hat. Klar, würde man selbst nicht töten, vielleicht sich eher selbst töten, bevor man zum Mörder wird, doch Stillschweigen, das übliche Augen-Verschließen herrscht andauernd vor, und es gibt genügend Ausreden, die immer parat und zur Hand sind, Dinge, die sich immer schön (oder wenigstens doch annehmbar) (zer)reden lassen. Zu sagen, die Vergangenheit kann nicht wiederholt werden, ist grundsätzlich falsch, egal, wieviele Berichte, Bücher und Warnungen dazu verfasst werden, weil gerne übersehen wird, dass keine Vergangenheit mit dem gleichen Gesicht auftritt. Die Mechanismen sind gleich, die Manipulation ist gleich, der Krieg, die Gewalt und die Auswirkungen sind gleich, aber der eigentliche Wahnsinn, die Gründe sind vielfältig, der Mord nur im Blut und zu häufig erst im Nachhinein sichtbar. Letztendlich stimmt man aber dann doch wieder mit Grossman überein:
- Kein sündloser, gnädiger himmlischer Richter, kein weiser oberster Richter im Staat, dem das Wohl des Staates und der Gesellschaft am Herzen liegt, kein Heiliger und kein Gerechter, sondern der jämmerliche, vom Faschismus bedrängte, schmutzige, sündige Mensch, der die fürchterliche Macht des totalitären Staates am eigenen Leibe verspürt hat, der selbst gestrauchelt und gefallen ist aus Angst, wird das Urteil sprechen, und es wird lauten: „Es gibt in der schrecklichen Welt Schuldige! Ich bekenne mich schuldig.“
Grossman und einige seiner Figuren glauben nicht an das Gute, jedoch an die Güte, die in jedem Menschen hervortreten kann, in den unmöglichsten Situationen. Alte Frauen, die sich nicht fürchten, den Gefangenen etwas Brot zuzustecken, eine ängstliche Russin, die einen verletzten Deutschen pflegt, während sie auf ihn schimpft, ein Soldat, der sich über einen anderen wirft, ein Rommel, der trotz seiner Befehle, das Leben seiner Soldaten im Niedergang nicht mehr aufs Spiel setzt, wie es so viele taten, auf deutscher und russischer Seite, wo so viele dachten, der Mensch sei Menschenmaterial, das immer aufs Neue nachgeworfen werden kann, nicht erst (wie Waffe und Maschine) erbaut werden muss. Schließlich wird der Leser mit vielen Menschen in die Gaskammer geführt. Aneinandergedrängt steht er mit den nackten, ängstlichen Gestalten, darunter die zänkischen, gierigen, liebevollen, kindlichen, alten, kurz: verschiedensten Menschen, die ahnen und nicht ahnen, was auf sie zukommt. Grossman beschreibt bis ins letzte Detail, bis... in den Tod, wenn die Augen sich weiten und das Leben aus dem, was einmal Mensch war, entweicht.
- Wer sich selbst nackt betrachtet, für den gibt es keine andere Erkenntnis als die: „Das also bin ich.“
Im Sterben wird alles gleich, wird die Vielfalt so verschiedener Menschen mit gleichem Schicksal wieder zu einem Volk. All das ist nicht leicht zu verkraften, nicht leicht zu lesen. Der Roman hat nicht umsonst seinen Platz in der Literatur, und man kann doch froh sein, dass wir die Möglichkeit haben, ihn lesen zu können, obwohl auch er sein eigenes, kleinen Schicksal hat.
(Alle Zitate sind der Ausgabe: Wassili Grossman "Leben und Schiksal", Claassen Verlag entnommen.)
(c) Annelie Jagenholz
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