Leo Tolstoi


Krieg und Frieden

Teil 1



… aber in Wirklichkeit bist du einfältiger und unverständiger als ein kleines Kind, das mit den Teilen einer kunstvoll gearbeiteten Uhr spielt und sich erdreistet zu sagen, dass es die Bestimmung dieser Uhr nicht verstehe…



Wenn ich nun für mich rekapituliere, so kann ich sagen, dass es sich für mich gelohnt hat, „Krieg und Frieden“ zu lesen (bis auf den grauenhaften Epilog, den man sich in jeder Hinsicht sparen kann, den sich auch Tolstoi hätte sparen sollen (dazu später)). Man nimmt mit dieser Fülle an Seiten ja einiges auf sich, wird aber auch ganz und gar in diese Welt hineingesogen. Tolstois Kosmos umgibt einen, lässt einen seine Welt ganz und gar erfassen, weckt Sympathie für diesen gewaltigen Schriftsteller samt seiner Ungereimtheiten und Patzer. Sie weckt in mir so viel Interesse, dass ich mich auch noch einmal der Urfassung zuwenden werde, die viele Unterschiede enthält.

Endlich gehört auch dieses Werk zu denen, die ich kenne, ja, die ich schätze, so man bereits so vieles davon gehört hat oder auf Erwähnungen desselben gestoßen ist. Mir geht es dann doch immer so, irgendetwas grummelt in mir, wenn z. B. in anderer Literatur über Klassiker geredet wird, deren Inhalt mir nicht bekannt ist oder doch nicht in der notwendigen Ausführlichkeit, um sich tatsächlich ein eigenes Bild machen zu können. Keine Kritik, kein Lob, keine Verallgemeinerung kann mir sagen, ob das Buch für mich persönlich gut oder schlecht ist und ob ich es nun gelesen haben muss. So springe ich dann eben in den Brunnen der Lektüre, auf die Gefahr hin, mich zu langweilen oder eben auch nicht.

Erfolgreich habe ich mich bei „Krieg und Frieden“ davon abhalten können, den Film zu sehen, bevor ich das Werk gelesen habe und mir damit die Spannung erhalten. Das Buch besteht aus starken und schwachen Szenen, die ineinander vermengt einander irgendwie ausgleichen. Man watet sozusagen durch etliche Seiten, Szenen, Ereignisse und damit durch Höhen und Tiefen und geht dennoch befriedigt daraus hervor.
Besonders schön sind die Charaktere. Sie wachsen einem ans Herz, wie es bei Tolstoi eigentlich immer ist, und machen im Buch eine nie enden wollende Entwicklung durch, an der der Leser teilhat. So schließt er mit jeder Figur seine Freundschaft oder Feindschaft, ganz automatisch, fühlt sich zu einem Charakter hingezogen und von einem anderen abgestoßen. Hin und wieder lässt der Leser sich auch von Tolstoi täuschen und gewinnt ein falsches Bild oder ändert seine Ansicht mit der Entwicklung der Figur. Das fand ich besonders interessant.
Die Figuren sind unverwechselbar, die Namen, Häuser und ihre Zusammenhänge ebenfalls. Keinen einzigen Menschen verliert man aus den Augen. Sie kehren immer wieder zurück.

Trotzdem muss ich sagen, dass „Krieg und Frieden“ hinter Werken wie „Anna Karenina“ und auch dem Spätwerk Tolstois zurücksteht, alleine weil es mir häufig noch sehr unausgereift erscheint, stilistisch nicht ganz einwandfrei (mit vielen Wiederholungen und Vergleichen, unnötigen Ausschmückungen und ähnliches) und auch von der Handlung her hin und wieder aus klarer Prosa in etwas „weibisch“ oder rührselig Verklärtes kippt, besonders wenn Tolstoi sich der Liebe zuwendet, die in den wechselhaften Gefühlen der Protagonisten manchmal gar nicht so richtig nachvollziehbar sind und wenn, dann sogar kitschig oder vorhersehbar herüberkommen. Anders ist es eben mit jenen Momenten, wenn sich Tolstoi dem Krieg, dem Sein, seinen Figuren auf anderer Ebene zuwendet.
Man verzeiht Tolstoi die weniger gelungenen Stellen vielleicht auch gerade darum, weil er an anderer Stelle durch seine Genauigkeit die Figuren und Szenen wunderbar lebendig zu machen versteht oder sich Thematiken wie Kriegsdefinitionen, Sinnsuche, dem Tod, dem Hass und der Liebe zuwendet, die auch zur Hassliebe verschmelzen können (hier besonders beeindruckend der Rummel um den alten Fürsten Bolkonski und sein sehr genau festgehaltener Tod oder der Tod des Fürsten Andreis, der dadurch, was er fühlt, erkennt, dass er bereits im Sterben liegt: „Alles und alle lieben, stets sich selbst um der Liebe willen zum Opfer bringen, das hieß niemanden lieben, das hieß an diesem irdischen Leben nicht teilhaben.“),. Dann strahlt etwas sehr Großes und Wertvolles aus seinen Zeilen, das tief ins eigene Denken eindringt.

Auch die Vielfalt der Orte, Handlungen und Menschen ist berauschend und abwechslungsreich, geeignet dazu, die Spannung immer wieder neu zu entfachen und stellen- … ja, seitenweise aufrechtzuhalten. Die Szenen, die den Krieg näher beschreiben, halten den Leser bei Laune, insbesondere nach einer Schlacht, wenn die Soldaten sich zusammensammeln und die Verluste begreifen. Solche Szenen hätte ich mir z. B. bei Stendhal gewünscht, der es vorzog, vom Kriegsschauplatz (die Hoffnung des Anfangs) in der „Kartause von Parma“ direkt ins kitschige Liebesspektakel zu wechseln und dort kleben zu bleiben, bis er den Leser mit stümperhaft kreierten Szenen durch Langweile erschlägt. Wie bildhaft dagegen Tolstoi, wenn er von den inmitten von Kälte, Schnee und Hunger am Feuer sitzenden, nackt schwitzenden Husaren berichtet, die Pfeife rauchen und sich Geschichten erzählen. Oder wie er ein Landgut vor und nach der Übernachtung eines Heeres darzustellen weiß, herzerwärmend die Verwüstung und Desillusionierung der Dorf- und Landbevölkerung, die zurückgeblieben ist, zusammenfasst. Auch versteht Tolstoi es, die verschiedenen Klassen und Schichten im Krieg selbst zu umreißen, so vom einfachen Soldaten über die Offiziere zu den Anhängern und Höflingen der beiden Kaiser. Eine für mich in dieser Hinsicht bereichernde Szene ist der Einblick in ein Lazarett, in dem Rostow einfache Soldaten auf Stroh inmitten eines beißenden Gestanks auf dem Boden dahinsiechen sieht, zusammengepfercht, kaum gepflegt, unter den Kranken der eine oder andere Tote, während daneben drei offene, helle Räume mit Betten für die Offiziere liegen. Je nachdem, aus welcher Perspektive Tolstoi berichtet, ist der Krieg höflich, ruhmreich, armselig oder dreckig.

Tolstoi weiß dabei sowohl die eine Seite (Krieg und Geschichte) als auch alle anderen (Liebe, Leben, Gesellschaft, Traditionen, Glaube, Denken, Sein) bis hin zu den philosophischen Gedanken und Nebenhandlungen lebendig zu beleuchten, den Leser innerhalb der Historie als auch in seinem erdachten Zivilleben herumzuführen, den Glanz und die Umstände dieser Zeit erneut heraufzubeschwören. Besonders interessant finde ich auch die jeweilige Entwicklung der Menschen, die sich entweder vom Hof abwenden oder hoffen, innerhalb dieser Kreise aufsteigen zu wollen und dafür ihren gesamten Charakter ändern (wie der junge Boris).
Auch wenn ihm immer einmal wieder stilistische oder inhaltliche Patzer unterlaufen, manchmal auch absurde Szenen geraten, so sieht man doch ob des Gesamtkunstwerkes oder auch nur aufgrund der vorangegangenen Seiten und Ereignisse gerne darüber hinweg. Wenn Tolstoi sich z. B. besonders bemüht, seine Anschauungen zu verdeutlichen und diese dann zunächst in einer doch eher naiven Weise philosophisch einleitet (um daraufhin aber dann doch auf den Punkt zu kommen oder mit einem einzelnen funkelnden Satz zu glänzen, wie u. a. dem, mit dem meine Rezension eingeleitet ist), dann treibt mich das lediglich in ein Lächeln, nicht in das Verdrehen der Augen. Tolstoi ist und bleibt eben doch… Tolstoi, samt seiner Stärken und eben auch zahlreichen Schwächen.

Der Russe ist für seine Detailliebe bekannt und diese führt er meisterhaft vor. Keine Bewegung, kein Naserümpfen, keine noch so kleine Reaktion bleibt unerwähnt, so dass der Leser genau sehen kann, was geschieht. Kein Film, obwohl doch Bilder zur Verfügung stehen, könnte die Menschen und Handlungen, die Orte und Begebenheiten besser veranschaulichen und lebendiger machen.
Von „Krieg und Frieden“ gibt es, wie bereits gesagt, eine Urfassung und eine von Tolstoi noch einmal revidierte und ausführlichere Ausgabe, die das Standardwerk geworden ist. Unterschiede liegen z. B. darin, dass…
 


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* …in den späteren Fassungen Tolstoi seine geschichtsphilosophischen Exkurse ebenso wie einige historische Ausführungen und Schlachtenbeschreibungen deutlich ausbaute.
* Einige "Exkurse" der Urfassung übernahm er dagegen nicht.
* Im Gegensatz zu den späteren Fassungen überlebt Andreij Bolkonski, eine der Hauptfiguren des Romans, in der Urfassung.
* Der Schluss des Werkes wurde gegenüber der Urfassung - das mit einer Doppelhochzeit schließt - deutlich verändert und ausgeweitet, ein Epilog kam neu hinzu.
* Etliche Stellen nahmen in der Urfassung deutlich weniger Rücksichten auf die moralischen Normen und "politisch korrekten" Ansichten seiner Zeit. So gibt es in der Urfassung etwa eine mehrseitige Beschreibung der Initiation Nikolaij Rostovs in die Männerwelt der Armee durch einen Bordellbesuch, die in den späteren Fassungen fehlt. Der Tod Hélèn Besuchovs wird noch schnörkellos auf eine Fehlgeburt nach einer Schwangerschaft durch einen ihrer Liebhaber zurückgeführt und es tauchen Plünderungen durch russische Soldaten auf, die in späteren Fassungen gestrichen sind.
* Tolstois Pazifismus ist in der Urfassung erheblich deutlicher benannt, etwa wenn er die Toten einer Schlacht als die "in der Schlacht ermordeten" russischen wie französischen Soldaten bezeichnet.
* Tolstois Auffassung, dass im Krieg niemand die Ereignisse wirklich kontrolliert und die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen wie Napoleons, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen, äußerst begrenzt sind, wird in der Urfassung klar ausgedrückt, in späteren Fassungen nur noch angedeutet.
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(... zitiert aus Wikipedia)



Dass Tolstoi ein Szenenentwerfer ist, seine Figuren lebendig und im Licht ihrer Kristallleuchter auftreten lässt und somit einführt, ist unbestritten. Auch versteht er, bestimmte Eigenarten seiner Charaktere festzuhalten, durch die ein Leser in Gelächter ausbricht.
So z. B. die Beschreibung des Italieners, der im Kreis Anna Pawlownas verkehrt, dessen Mimik zwischen männlicher und weiblicher Begegnung blitzartig wechselt:

Das Gesicht des Italieners veränderte sich mit einem Schlag und nahm den geradezu beleidigend heuchlerischen, süßlichen Ausdruck an, der ihm anscheinend im Gespräch mit Frauen zur Gewohnheit geworden war.

… oder Lisas, als sie ihrem Angetrauten, Fürst Bolkonski, vorwirft, dass er in den Krieg zieht, was aber nicht so sehr aus Furcht um sein Leben zu sein scheint, als vielmehr darum, weil sie aufs Land muss und darum nicht mehr mit ihren Petersburgern Bekannten verkehren kann.

Ihr Ton war jetzt mürrisch und zänkisch; die Oberlippe zog sich in die Höhe, was dem Gesicht in diesem Fall keinen fröhlichen Ausdruck verlieh, sondern den eines erregten Eichhörnchens.

Lisa ist ein Paradebeispiel, das im Grunde für alle Damen gilt, die die hohen Kreise gewöhnt sind. Ein Wetteifern um das schönste Kleid, die schönste Erscheinung, das beste Benehmen findet als ein indirekter Machtkampf zwischen der holden Weiblichkeit statt, während die Herren der Schöpfung sich eher kriecherisch, einschmeichelnd, träge, mürrisch, politisch entweder interessiert oder unbedarft verhalten. Den Durchblick scheinen wenige zu haben. Die meisten vertreten allgemeine Ansichten, weshalb störrische Köpfe wie der junge Pierre Besuchow, der eben aus Frankreich zurückkehrt ist, auch sofort auffallen.


Fürst Andrei Bolkonski zieht in erster Linie darum in den Krieg, weil er ein Leben führt, dass nicht nach seinem Geschmack ist. Er möchte den häuslichen Verhältnissen entkommen, scheut sich nicht, seine Frau Lisa, die schwanger ist, aufs Land zu schicken, während er sich ins Schlachtgetümmel stürzt. Er empfiehlt seinem Freund Pierre:
„Heirate niemals, mein Freund, niemals. Oder ich will meinen Rat so formulieren: Heirate nicht eher, als bis du alles geleistet hast, wozu deine Kräfte dich befähigen, und nicht eher, als bis du die Frau, die du dir ausgewählt hast, aufgehört hast zu lieben, nicht eher, als bis du ein völlig klares Urteil über sie hast; andernfalls begehst du einen Fehler, der sich grausam rächt und sich nicht wiedergutmachen lässt. Heirate, wenn du ein Greis bist, der zu nichts mehr taugt. Sonst wird alles, was in dir Gutes und Hohes wohnt, zugrunde gehen. Alles wird für nichtigen Kram verausgabt werden.“
Fürst Andrei empfindet sein Leben als trostlos und unvollkommen. Er möchte sich selbst beweisen, dass er dazu taugt, ein Held zu sein, sich für sein Land zu opfern, seine Tapferkeit zu erproben. Erst dann wird er sich wieder als ganzer Mensch fühlen. Er versteht noch nicht, dass eine Familie haben, bereits ein hohes Glück ist.

Monsieur Pierre dagegen ist ein Anhänger Napoleons, hält ihn, naiver Weise an dessen Freiheit und Gleichheit glaubend, für den größten Herrscher der Welt, übersieht die Selbstkrönung, die Hinrichtungen, die Napoleon ohne Gericht verfügte, und verehrt ihn und den Weg der Revolution. Seine Meinung wird sich mitsamt der Entwicklung und dem ausbrechenden Krieg schnell wandeln. Insbesondere dann, als er das ganze Leid des Krieges am eigenen Leib spürt und sichtbar vor Augen hat. Noch ist er unerfahren und störrisch, soll sich nach einem geeigneten Beruf umsehen, woraufhin Fürst Andrei ihm die Gardekavallerie vorschlägt. Doch Pierre fühlt sich nicht in der Lage, gegen Napoleon auf Seiten der Engländer und Österreicher zu kämpfen.
Fürst Bolkonski sagt daraufhin: „Wenn alle Menschen nur nach Maßgabe ihrer Überzeugungen Krieg führten, so würde es keinen Krieg geben.“
Pierre: „Das wäre ja aber wunderschön.“

Hier drückt sich Pierres Charakter schon andeutungsweise aus, der nicht weiß, sich in den adligen und angesehenen Kreisen Petersburg zu benehmen, da er offen seine Ansichten vertritt und sich nicht an die Höflichkeitsregeln und Etikette hält, jedoch trotzdem Aufmerksamkeit zu erregen versteht. Er wirkt noch sehr jugendlich und idealistisch, lehnt Krieg ab, bejubelt Napoleon, glaubt an die Freiheit und Gleichheit der Menschen. Er weiß noch nicht, wer er ist und wo er steht, was für ihn im Leben wichtig sein wird. Auch ist er der Ausschweifung zugeneigt und trifft auf eine abenteuerliche Wette. Auf einem Fenstersims erklärt sich Dolochow bereit, eine Flasche Rum auszutrinken, ohne sich am Fensterrahmen festzuhalten. Die Wettenden gehen davon aus, dass er hinab in den Hof stürzt, sobald er die Flasche ausgeleert hat.
Pierre Besuchow (wie später dann noch intensiver Nikolai Rostow) ist der Lewin unter den Figuren, d. h., er verkörpert Tolstois Ideal-Wesen. Später wird er zum Glauben finden, den Ausschweifungen durch den Eintritt in den Freimaurerorden abschwören und sich den Bauern auf dem Land widmen, dies dann aber auch nur in kurzer Ausführung, da er sich unsterblich in Natascha verliebt und auf den Krieg trifft, um sich ganz und gar zu verändern. Seine Suche wird Entwicklung sein und etliche Irrtümer enthalten. Noch aber ist davon nichts zu spüren.

Nach einem Skandal, wird Pierre nach Moskau verbannt. Dort trifft der Leser auf die Familie Rostow und die übereifrige Anna Michaelowna Drubezkoi, die für ihren Sohn Boris eine Stellung bei der Garde erbitten will und dieses bei dem von ihr gelangweilten Fürst Wasili auch erreicht. Dieser, nebst drei weiteren Schwestern, ist der Sohn eines im Sterben liegenden Fürsten Besúchow, dessen unehelicher Sohn gleichfalls Pierre ist. Ein Wettstreit um das Testament beginnt, die Befürchtung, dass der alte Fürst Pierre in einem Anfall geistiger Umnachtung das ganze Vermögen überschrieben hat und ihn als Sohn legitimiert, bewahrheitet sich. Pierre wird zu einem vermögenden Mann und wirkt damit wie ein unreifes, tollpatschiges Kind, das sich nun jeden Wunsch erfüllen kann, ohne dabei zu wissen, was es wirklich will.

Im Haus Rostow lernten wir die dreizehnjährige Natalia Rostow kennen, die in Boris verliebt ist, der ihre Liebe in deren gemeinsamer Jugend noch erwidert, bis er in der Gesellschaft aufsteigt und die Familie Rostow als peinlich empfindet. Dennoch kann er sich Nataschas Charme nicht entziehen. Wie immer kreiert Tolstoi in seiner weiblichen Hauptfigur ein quirlig nerviges, selbstverliebtes Geschöpf von außergewöhnlicher Schönheit. Tolstois Frauen werden im Grunde hässlich, wenn sie schön sind und sich anders benehmen, als sonst, oder schön, wenn sie hässlich sind, wie die Schwester Andreis, die Prinzessin Marja, die in ihrer Hässlichkeit oder später auch Traurigkeit schöne Augen bekommt. Auch ist die Einstellung zu Frauen, die Tolstoi häufig oberflächlich und naiv darstellt, deutlich herauszulesen. So sagt er zum Beispiel über Sonja, die in Nataschas Bruder Nikolai verliebt ist, dass man von ihr keine Entwicklung an Schönheit mehr erwarten darf, da sie bereits das neunzehnte Jahr erreicht hat. Dagegen reift Natascha weiter zur Schönheit heran. Noch aber tobt die junge Generation durch die leicht angestaubten Gespräche der Älteren.

Was auffallend gut bei Tolstoi ist, ist der Übergang von Kapitel zu Kapitel. Sobald er auf eine andere Szene schwenkt, wird das, was zuvor geschehen ist, kurz in seinem Ausgang erläutert. Dies geschieht entweder im Gespräch der neuen Atmosphäre oder in der Mitteilung eines Briefes oder auf andere Art und Weise. Damit gestaltet Tolstoi einen stark zusammenhängenden, roten Faden, damit der Leser, trotz der vielen Figuren, seinerseits den Faden nicht verliert. Natürlich umkreist Tolstoi einen ganz bestimmten Kreis an Figuren, die unverwechselbar bleiben und dem Leser schnell im Gedächtnis bleiben. Je tiefer Tolstoi dann in die Materie eindringt, desto weniger bedarf er dann dieses Mittels. Geführt und dann ganz im Buch versunken ist der Leser fast selbst Teil der Ereignisse.

Neben den einzelnen Ereignissen in Moskau und Petersburg, in denen der Krieg noch gut im Vergessen eingebettet liegt, was sich bald ändert, je mehr Napoleons Truppen sich Moskau nähern, wendet sich Tolstoi dem Schlachtfeld zu und beschreibt den Vorgang lebendig und ausdrucksstark. Die Einzelheiten der Aufstellungen, das Voranrücken gegen den Feind, die Zwischenphasen des Marschierens, gepaart mit einzelnen Szenen, die näher auf eine Figur eingehen, kommen hervorragend zur Geltung. Eindrucksvoll schildert Tolstoi einen in den Anfangsphasen fast schon höflich zu nennenden Krieg, in dem Offiziere parfümierte Tücher schwenken und auf ihr Aussehen und die saubere Uniform achten. Bald wechselt das Bild, wenn die Gegner aufeinander treffen oder die einfachen Husaren den Kanonenkugeln zum Opfer fallen. Zwischen Taktiken und Leid schafft es Tolstoi immer wieder, auch das Menschliche durchschimmern zu lassen, häufig in ganz simplen Szenen, wie z. B. dieser, als ein Wagen fortziehender Einwohner an den Soldaten vorbei fährt:



„Die Augen aller Soldaten richteten sich auf die Frauen, und solange der Wagen, der nur Schritt vor Schritt vorwärtskam, über die Brücke fuhr, bezogen sich alle Bemerkungen der Soldaten nur auf die beiden jüngeren weiblichen Wesen. Auf allen Gesichtern lag fast das gleiche Lächeln, welchem unanständige Gedanken mit Bezug auf diese Frauen zugrunde lagen.“



Fürst Andrei versucht sich währenddessen als Kurier, muss er bei den Österreichern, an deren Seite die Russen kämpfen, feststellen, dass die überbrachte Nachricht vom ersten Sieg durch russische Truppen beim Kaiser und Kriegsminister kaum Beachtung findet, da es eben keine österreichischen Erfolgsnachrichten sind und Wien durch Napoleon und die Franzosen längst eingenommen ist. Die Begegnung mit dem Kaiser ist auch recht ernüchternd, trotzdem findet sich Andrei danach in der Hofgesellschaft wieder und erhält verschiedene Orden.
Der Unterschied zwischen dem Schlachtfeld und diesem Luxus ist extrem, als Fürst Bolkonski allerdings schon wieder los muss, um schlechte Nachrichten vom Erfolg der französischen Truppen zu überbringen. Mit Tricks wird gearbeitet, mit gelogenen Waffenstillständen und anderen Mitteln, um einander zu täuschen.
Auch fehlt es ab und an nicht an Humor. Lustig ist die Szene, als sich bei einem vorübergehenden und trügerischen Waffenstillstand die Russen und Franzosen gegenseitig beschimpfen, wer wen fertig machen wird. Da sitzen sie fast Nase an Nase und drohen einander mit der Faust. Und dabei dann auch die typische Verwunderung, dass Krieg überhaupt ist, wo man so wartend, Mensch auf Mensch, beieinander sitzt und über die eigenen Drohungen herzlich lachen muss:



„Auf ein solches Gelächter konnte, wie es schien, nichts anderes folgen, als dass man aus den Gewehren die Ladungen herausnahm und alle Soldaten sofort auseinandergingen und in ihre Heimat zurückkehrten.
Aber die Gewehre blieben geladen…“



In diesem Krieg ist noch nichts von dem bestialischen Hass aufeinander zu spüren, der später aufkommt (mit dem auch Soldaten des Zweiten Weltkriegs oder in heutigen Kriegen aufeinander losgehetzt wurden und werden). Noch herrscht eine andere Achtung voreinander, Würde und Ehrenhaftigkeit, besonders das Zugeständnis der Russen, dass Napoleon ein außerordentlich guter Feldherr ist. Als die Schlacht um Austerlitz verloren ist und zahlreiche Russen in Gefangenschaft geraten, ist das Lob aus dem Munde Napoleons, der anerkennend von der ehrenhaft getanen Schuldigkeit des russischen Heers spricht, eine Wohltat für die Kriegsgefangenen und Offiziere… „ein Lohn für den Soldaten“.

Die Begeisterung Nikolai Rostows für den zarten und ruhmreichen Zaren Alexander ist dagegen mehr als übertrieben (stellenweise sogar peinlich), während der Zar mit Lorgnette vor den Augen der Schlacht beiwohnt und Tränen in die Augen bekommt, wenn er auf Verwundete trifft (dreckig schlammig blutige Verwundete, für die sich Nikolai vor dem Kaiser schämt, der seinerseits mit der Übelkeit kämpft) und behauptet, der Krieg sei etwas ganz Furchtbares. Dagegen sind die Zweifel des Fürsten Bolkonski an diesem Krieg eine regelrechte Wohltat, der immer wieder auf die Scheinheiligkeit, Eitelkeit und den Trug solcher Schlachten stößt, während darüber ein großer, weiter und gerechter Himmel zieht. Nicht einmal der Held Napoleon ruft noch Ehrfurcht in ihm wach, als er dem Tod ins Auge geblickt hat.
 



„Und überhaupt erschien ihm alles, alles so wertlos und nichtig gegenüber jener ernsten, erhabenen Gedankenreihe, welche die Abnahme seiner Kräfte infolge des Blutverlustes, der Schmerz und der Hinblick auf den nahen Tod in seiner Seele hervorgerufen hatten. Während Fürst Andrei dem Kaiser Napoleon in die Augen sah, dachte er an die Nichtigkeit menschlicher Größe und an die Nichtigkeit des Lebens, dessen Sinn und Bedeutung niemand begreifen kann, und an die noch größere Nichtigkeit des Todes, dessen wahres Wesen kein Lebender zu verstehen und einem andern zu erklären vermag.“



Was mir bei Tolstoi auffällt, sind die häufig eigenartigen Beschreibungen seiner Figuren, die den Charakter vielfältig erscheinen lassen, statt exakt zu treffen, als würde der Autor in seiner Beschreibung alle Gerechtigkeit hineinlegen wollen, die möglich ist. Sowohl als auch sind seine Leute gutmütig und mit falschem Lächeln, haben warme Augen, etwas einigermaßen Komisches aber auch sehr Anziehendes… usw. Das wiederum macht es dem Leser schwer, zu erkennen, auf welche Art Mensch er trifft. Kleine oder verschwitzte Händchen, trübe Augen oder rote Nasen… alles ist noch kein Hinweis darauf, wer sich als Charakter hinter diesen Eigenschaften verbirgt. Auch ist es schön für den Tolstoi-Fan, zu sehen, dass auch in „Krieg und Frieden“, wie in „Anna Karenina“, etliche Leute erröten oder rote Flecken im Gesicht bekommen.

Das Verschollen-Sein des Fürsten Bolkonski war für mich sehr spannend. Einige kehren aus dem Krieg zurück, um sich zu entspannen und ihren Urlaub nach der verlorenen Schlacht zu nehmen. Darunter auch der junge und arrogante Rostow, der in einer herrlichen Szene von seiner heranspringenden Familie willkommen geheißen wird, oder der Rüpel Dolochow, der am Anfang des Buches die Wette mit der Rumflasche gewann und von dem nun gesagt wird, er hätte ein Verhältnis mit der schönen Helene, die der nun reich gewordene Pierre, mehr unter dem Druck der allgemeinen Erwartung als aus Liebe, zur Frau genommen hat. Pierre wiederum ist von tiefer Schuld ergriffen, ihr gegenüber falsch gehandelt zu haben, trotzdem ist er eifersüchtig, während sie wiederum ihm hochmütig und eiskalt begegnet. Nach einem eher unglücklichen Duell mit Dolochow, das beide überleben, erschlägt er sie fast vor Wut.

Als Fürst Bolkonskis Frau Lisa endlich ihr Kind bekommt, seine gläubige Schwester an ihrer Seite ist, ohne ihr mitzuteilen, dass Andrei womöglich längst auf dem Schlachtfeld gefallen ist, kehrt dieser kurz vor der Geburt zurück, gerade noch rechtzeitig. So schön diese überraschende Rückkehr auch ist, so lieblos hat Tolstoi den Tod Lisas bei der Geburt dargestellt. Andrei hört den Schrei des Kindes, tritt ins Zimmer und sie ist tot. (Das geht doch nicht… das kann man doch nicht so lieblos schreiben, Tolstoi!!! Der wollte die Figur wohl so schnell wie möglich loswerden. Dabei war sie doch in ihrer Art und Weise trotzdem sehr gelungen, samt ihrer bockigen und beharrten Oberlippe. Naja… schade.)

Stil verschlechternd wirkt auf mich auch Tolstois Angewohnheit, Vergleiche anzustellen. Er schrie, wie es junge Menschen zu tun pflegen. Oder (wiederholt innerhalb einer Seite): sie blickte in sich hinein, wie es nur Schwangeren eigen ist, oder ganz beliebt: wie das bei jungen (ggf. alten) Leuten nicht selten vorkommt. Ausgeglichen wird so etwas aber durch die wunderbare Fähigkeit Tolstois, seine Szenen durch Details unglaublich lebendig zu machen.


 




(c) Annelie Jagenholz