Herman Melville

Moby Dick



Vielleicht verträgt es sich aber gar nicht mit wahrer Lebensweisheit, bewusst danach zu streben.

…denn der tragische Mensch wird immer nur durch eine gewisse innere Zerrüttung groß. Verlasst euch drauf, die ihr nach Ruhm trachtet: alle Größe hienieden ist letzten Endes Krankheit.




Seinem Werk voran schickt Melville etliche Zitate, in denen der Wal erwähnt oder näher betrachtet wird. Auch zeigt er auf, was „Wal“ in den verschiedenen Sprachen heißt. Schließlich folgt das erste Kapitel mit den bezeichnenden, einleitenden Worten: „Man nenne mich Ismael.“

Der Erzähler Ismael spricht davon, sich von seiner verwitterten Seele zu befreien und, sobald er den Hass auf die Menschen in sich verspürt, auf einem Schiff anzuheuern, um auf See seine Seele wieder im Gleichklang zu wiegen. Nach der biblischen Geschichte ist Ismael der Sohn einer Ägypterin, die als Sklavin von ihrer Herrin gezwungen wird, ein Kind mit deren Mann Abraham zu zeugen und zur Welt zu bringen, das ihr dann weggenommen wird, während sie selbst aus Eifersucht verjagt wird. Ismael ist also mit ihr ein Verstoßener und Leidender. Melville bedient sich in all seinen Romanen am biblischen Stoff. Gleichzeitig ist alles auch Metapher. Das Meer ist nach ihm die wahre Behausung des Menschen, während die Erde nur voller sklavischer Spuren ist.

 

Zitat von Melville, S. 192
  • Die Wahrheit, dass alles tiefe, ernsthafte Denken nur das unerschrockene Streben der Menschenseele ist, sich die hohe Freiheit ihrer Meere zu bewahren; dieweil die wildesten Winde zwischen Himmel und Erde sich verschworen haben, uns an der elenden Knechtschaft der Küste scheitern zu lassen.



Das Meer ist Gott näher, seinem Zorn unterworfen und in seiner Kraft ausdruckstärker und tödlicher, als andere Geschehen.


Ismael ist an Land von Depressionen geplagt, daher heuert er auch auf einem Walfänger an, der nach seinen Aussagen wesentlich länger auf See unterwegs ist als andere Schiffe. Wenn er spürt, dass er durch sein eigenes Leiden Hass auf die Menschen bekommt, flüchtet er auf eines der Schiffe. Die Entscheidung, sich als Walfänger zu versuchen, deutet darauf hin, dass er auf diese Art und Weise versuchen will, sich durch die anstrengende und langwierige Erfahrung von seinen Selbstquälereien befreien zu wollen. Walfänger sind nicht nur Monate, sondern häufig mehrere Jahre auf See unterwegs. Die Schiffsleute setzen sich großen Strapazen und Gefahren aus.
Wie anders und dennoch gleich steht dem gegenüber Kapitän Ahab, der sein eigenes Leid auf einen Wal projiziert, das er einmal natürlich durch ihn erlitten hat, weniger durch den Verlust des Beines selbst als die quälende Zeit der Genesung. Zum anderen steht der Wal aber auch für seinen Kampf gegen die Natur, die er für ungerecht und grausam hält, die gleichbedeutend mit Gott ist, der ein grausamer, blutrünstiger Herrscher über Leben und Menschen ist. Er schwört bittere Rache, fürchtet weder den Tod noch den Untergang seines Schiffes. Gleichzeitig ist Ahab auch das Abbild Ismaels, wie dieser nach langem Leben in der eigenen Bitterkeit werden könnte, wenn er sein Leben weiter so gestaltet wie bisher. Dieser versucht noch den anderen Weg, die Befreiung vom eigenen Leid durch Abenteuer, Jagd, durch das Nichts und die Weite des Meeres… Er möchte sich dadurch von der Schwermut befreien und gleichzeitig ist sie der Grund, überhaupt auf einem Walfänger anzuheuern. Diese Verdoppelung der Gründe zerstäubt erst, als er der einzige Überlebende dieses Abenteuers wird.
Interessant zu erfahren war in diesem Zusammenhang auch, dass die Schiffe damals mehrere Eigner hatten, verschiedene Menschen in ein Schiff investierten und an der Ladung mitverdienten, daher natürlich Hoffnung trugen, dass das Schiff keinen Schaden erleidet. Ahab ist der einzige Schiffsherr, der auf die Geldgeber keinen Wert legt, also nicht versucht, das Schiff wieder heil in den Hafen zurückzubringen.

Ismael besitzt wenig, daher sucht er, bevor es auf einen Walfänger geht, nach einer billigen Bleibe, wo der Wirt ihm nur noch die Hälfte eines Bettes anbieten kann. Das Bett soll er sich mit einem Harpunier teilen. Zunächst ist Ismael einverstanden, malt sich dann mit aufkommender Müdigkeit aber aus, wie absurd es ist, mit einem Fremden das Bett teilen zu müssen, reflektiert über Sauberkeit und Peinlichkeit. Er ist unsicher, findet aber keinen anderen Schlafplatz, und als er sich schließlich entschließt, das Angebot des Wirtes anzunehmen, ist der Harpunier auch noch ein Wilder, ein Menschenfresser, ein Eingeborener, übersät mit vielen Tätowierungen und ausgerüstet mit einem Beil, das gleichzeitig Pfeife ist. Die erste Nacht bangt Ismael um sein Leben und fühlt sich allgemein bedroht durch das Wilde und Fremde dieses Menschen, am nächsten Tag aber, als er ihn besser kennenlernt, stellt sich heraus, dass sie einander trotz ihrer Unterschiede mögen und sie schließen tiefe Freundschaft. Quiqueg, so der Name des Eingeborenen, der Sohn eines Häuptlings, erzählt von sich und seinem Interesse an der christlichen Welt, bis er feststellt, dass die Welt überall böse Menschen birgt. Seine Enttäuschung über die Entdeckungen kann er nicht verhehlen. Und diese teilt auch Ismael mit ihm.


Schon mit den ersten Zeilen ist man mitten in dieser wahnsinnig schönen Erzählung. Melville versteht es hervorragend, den Leser voranzuführen, ihm diese Welt ganz zu eröffnen. Seine Figuren, Begebenheiten, Ereignisse sind lebendig, durchkreuzt von philosophischen oder gesellschaftskritischen Gedanken. Zum Beispiel denkt Ismael in der Kirche über die teuer erkauften Gedenktafeln der „höheren Toten“ nach (vgl. hier auch Aries „Geschichte des Todes“) und fühlt, wie leer diese Platten sind, die all die Toten verhöhnen, die „ohne ein Grab umgekommen sind“.

  • „Doch der Glaube, wie ein Schakal, findet seine Nahrung unter Grabstätten, und gerade aus dem Leichenacker solcher Zweifel bezieht er seine wesentlichste Hoffnung.“



Quiqueg weiß durch seinen Totem bereits, welches Schiff das Schicksal ihrer beider ist. Er schickt Ismael, damit er die Entscheidung trifft. Dieser wählt aus drei Walfängern die verhängnisvolle „Pequod.“ Als er anheuert, trifft er auf zwei ehemalige Kapitäne, nicht aber auf Ahab, den eigentlichen Kapitän. Der zeigt sich erst, als das Schiff längst abgelegt ist und dann auch deutlich in seinem ganzen Wesen. Man erzählt sich über Ahab viele Geschichten, so soll er unter anderem ein Bein verloren haben und nur noch mit einem Holzbein bestückt sein. Das Bein verlor er durch einen Pottwal, mit dem er kämpfte, durch den er seine Schiffe und die gesamte Mannschaft einbüßte. Gleichzeitig zieht sich eine Narbe über sein Gesicht, die ein Blitz bei ihm verursacht hat, und entstellt ihn, macht seine Züge grausamer und verwirrter.

Ismael wird von einem der Kapitäne aufgefordert, über die Reling zu sehen und zu verkünden, was er sieht. Das, worauf sein Blick fällt, ist „grenzenlos, aber über alle Maßen eintönig und abstoßend; nicht die kleinste Abwechslung – nichts als Wasser“. Hier muss Ismael einsehen, dass die Schiffsfahrt auf einem Walfänger nicht die übliche abenteuerliche Fahrt ist, sondern ein Erleben anderer Art. Dennoch nimmt er die Herausforderung an. Man könnte hier weiterhin deuten, dass Ismael so seinen jugendlichen Drang überwindet, die Schiffsfahrt als reine Ablenkung von sich selbst zu betrachten. Die unendliche Weite, und damit Leere des Meeres sollte ihn ernüchtern und damit reifer machen.

Nun nimmt sich Melville die Zeit, das Seewesen und den Walfänger näher zu beschreiben, samt der Gewohnheiten der Schiffscrew, die hauptsächlich aus Quäkern (die einzige christliche Gruppierung in Amerika, die konsequent jeden Krieg ablehnt) und unterschiedlichen „Wilden“ besteht, wie auch die zu seiner Zeit bekannte Einordnung der Walarten. Während Melville für Toleranz wirbt, dass ein Neger nicht schlechter als ein Weißer ist, weist er auch auf die Schönheit der „Heiden“ hin, unter denen häufig bessere Menschen zu finden sind als unter den sogenannten Christen. Dennoch stellt er auch den fremden Glauben in Frage:

 

Zitat von Melville, S. 160
  • Nun mag meinetwegen jeder nach seiner Art selig werden; solange nicht einer seinen Glauben den andern mit Gewalt aufzunötigen sucht, habe ich, wie gesagt, gegen keinen Glauben etwas einzuwenden. Wenn jedoch der wildgewordene Glaube eines Menschen ihm selber zur Qual wird und diese unsere Erde zu einem ungemütlichen Aufenthalt macht, dann erachte ich die Zeit für gekommen, mir diesen Menschen beiseite zunehmen und ihn womöglich zur Vernunft zu bringen.

    Quiqueg begreiflich zu machen, dass all dieses Fasten, Bußetun und Herumhocken in kalten, trostlosen Kammern barer Unsinn sei; es sei Gesundheit schädlich, nütze dem innern Menschen nichts und widerspreche überhaupt den selbstverständlichen Gesetzen der Körperpflege und des gesunden Menschenverstands.

    … alle aus dem Fasten hervorgegangenen Gedanken taugten daher nicht eben viel. Das sei die Ursache, weshalb die meisten magenkranken Glaubenseiferer so düstere Anschauungen vom Jenseits hegen.



Damals war der Pottwal noch der größte bekannte Wal, daher ist „Moby Dick“ auch von dieser Walart. Heute weiß man natürlich, dass der Blauwal mit einer Länge bis zu 33 Metern der größte Wal der Welt ist. Diesen erwähnt Melville nur als unbedeutend nebenbei. Ansonsten ist sein Wissen sehr fundiert. Er beschreibt die verschiedenen Arten und ihre Gewohnheiten, ihr Aussehen und ihre Angriffslustigkeit, stellt den Mythos des "Untiers" der Wirklichkeit gegenüber.

Bald erscheint Ahab höchstpersönlich als alternder Kapitän mit einer langen Narbe im Gesicht. Er hat die Eigenheit, über Stunden auf Deck entlang zu spazieren und in sich gekehrt seinen Gedanken nachzuhängen. Eines Tages aber ruft er endlich die gesamte Mannschaft zusammen und erklärt ihnen, wozu sie wirklich auf See sind. Sie wollen nicht Wale fangen, um geschäftstüchtig zu sein, sondern Ahab verfolgt die Absicht, den weißen Wal – Moby Dick – zu jagen und zu töten, der ihn das Bein gekostet hat. Seine Rache ist alles, was ihn interessiert und die Mannschaft erklärt sich nur zögerlich mit seinen Befehlen einverstanden. Er setzt eine Goldmünze aus für denjenigen, der den weißen Wal als Erster entdeckt.

„Man glaubt, ich sei von Sinnen; ich aber bin besessen, bin die außer sich geratene Besessenheit selber! Jene Raserei, die nur abflaut, um sich selbst zu begreifen.“

… spricht Ahab zu sich selbst. Seine Besessenheit kam nicht in dem Moment auf, als er mit einem Messer auf den fürchterlichen Wal losging, der ihn drei Schiffe und etliche Leute gekostet hat, einschließlich seines Beines, sie kam erst da auf, als er an Land viele Wochen mit der Verstümmelung leben und den Schmerz ertragen musste, sie darüber bewusst wurde, dass er nun endgültig ein Krüppel war.

„… damals begab es sich, dass sein zerstückelter Leib und die zerrüttete Seele ineinanderbluteten und diese Verquickung seinen Geist zerstörte.“

Hier beginnt Ahabs Kampf gegen das personifizierte Böse – der Wal, der ihn zum Krüppel gemacht hat, das Leiden, das er ertragen musste, wo er ein so stolzer Mann war und nun seine Verstümmelung umso schwerwiegender empfindet. Wenn schon die Götter grausam sind, während so mancher, angeblich schlechter Mensch immerhin Mitleid empfinden kann, wenn schon die Natur so gleichgültig ist, so muss sein Hass auf den Verursacher übertragen werden, den er finden kann und das ist „Moby Dick“, der weiße Wal.

Moby Dick ist ein Pottwal und ein Mythos. Die Seeleute sprechen von einem blutrünstigen Seeungeheuer, dass unsterblich ist. Am Schrecklisten erscheint Ismael seine Farbe, so reflektiert er über das Weiß verschiedenster Tiere und Albinos. Leichenfarbe ist eines der Worte, die Melville benutzt:

 

Zitat von Melville
  • „In mehr als einer Beziehung wird das Unheimliche dieser Farbe auch durch Urerlebnisse der Menschheit bezeugt. Zweifellos ist es beim Anblick eines Toten vor allem dessen marmorne Blässe, vor der uns graut, als ob sie, hienieden ein Zeichen der Todesangst, noch über das Grab hinaus Bestürzung bedeutete. Dieser Totenblässe entlehnen wir auch die sprechende Farbe des Leichentuches.“




Die älteste Darstellung eines Wals oder Seeungeheuers, so Melville, schufen die Brahmanen im Grottentempel von Elefanta. Sie behaupten, „auf den fast unabsehbaren Bildwerken dieser uralten Kultstätte sei alles berufliche Tun und Treiben, jedes nur erdenkliche Handwerk und Gewerbe des Menschen vorweggenommen, lange bevor es Wirklichkeit wurde.“ Daher ist dort auch der Walfänger in seinem Tun verewigt.
Hier wird der Wal als halb Mensch, halb Fisch verkörpert.



(Quelle: BibliOdyssey)


  • … Als Brahma , der Gott der Götter, die wieder einmal aus den Fugen gegangene Welt neu zu erschaffen beschloss, da setzte er Wischnu als Werkmeister ein; doch die Weden, die Bücher des geheimen Wissens, deren Kenntnis offenbar für Wischnu unerlässlich war, ehe er sein Amt antreten konnte, und die daher wohl eine Art Anleitung für künftige Welterbauer enthielten; diese Wedalieder lagen auf dem Grund der Wasser; daher nahm Wischnu die Gestalt des Walfischs an, tauchte als solcher bis auf den Grund der Tiefe und rettete die heiligen Bücher.


(Meville "Moby Dick", S. 602)



Melville spricht aber auch von anderen Gemälden, auf denen die Darstellung des Wals mythisiert und verfehlt ist, darunter der Maler Guido Renis Andromeda (siehe Bild „Perseus und Andromeda“)




  • „Jedermann kennt die erbauliche Geschichte von Perseus und Andromeda; wie die schöne Königstochter an einen Uferfelsen gefesselt war und der Leviathan bereits Miene machte, sie zu entführen, als Perseus, der Fürst der Walfänger, unerschrocken nahte, das Ungeheuer mit der Harpune erlegte, die Jungfrau errettete und zum Weibe nahm.“


(Melville „Moby Dick“, S. 598)

… oder Hogarths „Perseus und Andromeda“



(Quelle: zeno.org)


Auch im Buchdruck und auf Bibeln finden sich eigenartige Schöpfungen, wie die Künstler sich den Wal vorstellen. So bei „Jonas und der Wal“:



(Quelle: eardstapa)


Dagegen gelungen findet Melville die Kupferstiche von Ambroise Louis Garneray:



Garneray "Peche de la Baleine"

(Quelle: blueworldwebmuseum.org)



Garneray „Peche du Cachalot“

(Quelle: newbedcoll)



Von den französischen Malern ist Melville an sich begeistert, stellen sie am besten die großen Schlachten dar, „wo jedes Schwert gleichsam vom Abglanz eines Wetterleuchtens schimmert und die Reihe der waffenstarrenden Kaiser und Könige wie eine Kavalkade gekrönter Kentauren vorübersprengt“. Diese Werke hängen zu Melvilles Zeiten hauptsächlich in Versailles und er findet, dass Garneray mit seinen Seeschlachtbildern dort ebenfalls einen Platz verdient hätte. Hier ein Eindruck eines solchen Werkes aus seiner Hand:



(Quelle: culture.gouv.fr)

Schön ist, dass Melville neben den Fundstätten an Walskeletten und Kunst auch erwähnt, dass ein echter Walfänger den Wal überall entdeckt, so auch in den Sternen oder in Felsformationen. Er erkennt die Umrisse und versucht die Stätten wiederzufinden, was nicht so einfach ist, da sich auch Felsen und Gebirge gleichen.

Nicht nur weiß Melville den Wal ganz und gar zu umkreisen, er zeigt auch, wie ein Wal gefangen, getötet und geschlachtet und schließlich enthauptet wird. Die Lebendigkeit dieser Beschreibungen, der treibende Leichnam, die gierigen Haifische, die ihm von unten Löcher in den Wanst hacken und mit ihren Schwänzen gegen den Schiffsrumpf krachen, das blutige Fett usw. sind unglaublich und sollen sicherlich auch in Frage stellen, was dort geschieht. Moby Dick ist damit nicht nur ein Roman mit einer allein fiktiven Geschichte, sondern ein Erfassen dieses mächtigen Tiers, das die Ozeane durchschwimmt und zu so viel Aberglauben und Geschichten anregte. Hier wird deutlich die Begegnung Mensch - (Un)tier betrachtet, die in Tötung und Schlachten ausartet, eine Masse blutiges Fleisch, aus der der Mensch so wenig gewinnt. Sehr auffällig ist das Schwanken des Erzählers zwischen seiner Bewunderung für das Untier und den Ruf des Walfängers, wobei seine Sympathie für Letzteren dem Anschein nach überwiegt, da er das Tun verteidigt, hauptsächlich aber, weil Ismael selbst ein Suchender und Zweifler ist. Dennoch reflektiert er darüber, ob der Wal irgendwann vom Aussterben bedroht sein könnte, wie in Amerika das Bison, was ihm aufgrund seines Alters und seinem ewigen Vorkommen unmöglich erscheint.
Die Darstellung des blutigen Leichnams, das Zucken des sterbenden Wals, die Grausamkeit in all diesen Vorgängen, die die Waljagd ausmachen, steht im extremen Gegensatz zu den trockenen Beschreibungen Ismaels und seiner Bewunderung für dieses mächtige, göttliche Tier und den Walfang. Heute wissen wir, wie schnell diese Entwicklung sich bestätigt hat und der Walfang verboten gehört, da die Tiere tatsächlich aussterben und mit schrecklichen Methoden ausgerottet werden. Ismael aber verteidigt ihre Unsterblichkeit metaphysisch, indem er behauptet, sie wären Millionen Jahre alt, noch vor dem Menschen da gewesen und würden die Ozeane auch noch lange nach ihm durchschwimmen, jene Tiefen, die der Mensch nie ganz erfassen wird. An seiner Darstellungsweise zeigt sich bereits, dass der Wal nicht nur ein Tier oder Untier ist, sondern ein Wesen anderer Art, wie es für Ahab von Bedeutung ist und seinen Untergang mit sich bringt, dass über die schlichten Tatsachen hinaus hier ein Ungeheuerliches verborgen liegt. Das Tier selbst und der Tod, den es erleidet, ist schändlich, gerade bei einem Tier, das so wenig hergibt, zumal man auch weiß oder annimmt, dass Wale sehr intelligent sein sollen.
Nun stelle man sich vor, wie diese riesigen Geschöpfe die Ozeane durchschwimmen und wie klein für sie die Erde sein muss. Und dagegen steht der kleine, gefräßige Mensch, der glaubt, sich sogar solcher Riesen zu bemächtigen, alleine, weil er es kann…

Andererseits lässt sich der Wal als Säugetier auch gleichzeitig metaphysisch erfassen, mit der Aussage, dass der kleine Mensch, sobald er versucht, gegen die Natur anzukämpfen, unterlegen ist und sein Leben einbüßt, während die Natur bleibt und den Sieg davon trägt. Der Wal als das Böse, als Natur bzw. das Göttliche ist beständig, der Mensch vergänglich.

Vieles, was zu Melvilles Zeiten noch nicht bewiesen war, fasst er in seinem Werk ins Auge, so z. B. den Blast, den er in Frage stellt, ob er nun eine Wasserfontäne oder reiner Atem ist, wobei er sich für den Atem entscheidet. Mittlerweile ist bewiesen, dass es sich bei dem fontänenartigen Ausguss um Luft handelt, nicht um Wasser, eine Art Nebel, der aus dem Wal schießt. Melville, wenn auch noch auf Schriften und Selbstdeutungen angewiesen, liegt häufig richtig, wenn er den Wal wissenschaftlich untersucht. Seine Umrundung des Wals dient aber auch dazu, Ismael als Erzähler besser hervorzuheben. Dieser schwankt zwischen der Wirklichkeit und biblischen Darstellung des Levianthans. So glaubt er nicht, dass der Wal ein Säugetier ist, sondern hält ihn für einen Fisch.

Was aber ist dieser Wal eigentlich? Melville war auf der Suche nach Gott, was für ihn gleichbedeutend mit der Natur war. Gott ist die Natur, und die Natur ist grausam und gleichgültig. Sie gibt und nimmt Leben, ohne dass der Mensch etwas dagegen tun kann. In diesem Konflikt steckt Ahab, dem Melville den Hass auf diese Gleichgültigkeit einflößt. In Moby Dick versucht er die Natur, die in seinen Augen das Böse darstellt, zu töten, sich an ihr zu rächen, damit an Gott. Das Meer wiederum, das, so der Erzähler Ismael, der eigentlich menschliche Lebensraum ist, somit das Leben repräsentiert, ist gleichsam grausam. Es nimmt ebenso das Leben etlicher Seefahrer und birgt in seinen Tiefen Tod und Verderben. Natur und Leben stehen einander nicht gegenüber, sondern sind eins, und Ahab, der kleine Mensch, will gegen beide ankämpfen, obwohl er das Leben, also das Meer, als einzig wahren Lebensraum für sich anerkennt, immerhin verlässt er für diese Fahrten Frau und Kind. Es zieht ihn auf das Wasser, wo er sich lebendig fühlt, die einzige Möglichkeit, sich so zu fühlen, und sein Kampf gegen die Natur, den Wal, verleiht ihm eine Aufgabe, gegen sein Schicksal anzugehen, vor dem er sich ängstigt. Es ist also der Kampf gegen seine eigenen unbewussten Ängste, die Verletzbarkeit, das Nicht-Liebenkönnen (insbesondere sich selbst als Mensch und dann als Krüppel), schließlich das Sterben selbst. Und je mehr Ahab versucht, gegen all das anzukämpfen, umso mehr muss er daran scheitern und zugrunde gehen, gefesselt an den Wal, der unsterblich bleibt, die Natur, die über alles siegt.

  • Die tiefsten Erinnerungen bleiben ohne Inschrift …



Ahabs tatsächliche und reale Jagd auf Moby Dick findet gegen Ende des Werkes statt, dann aber mit aller Gewalt. Die Zwischennuancen aber, die Vorbereitung, die Hoffnung, den Wal zu finden, das Schnitzen des Holzbeines und Fertigen der Harpune, die in Blut geschmiedet und gelöscht wird, das Überbord-Gehen und dabei in der Einöde des Meeres den Verstand verlieren am Beispiel des schwarzen Schiffjungen Pip sind von einprägsamer Bildgewalt:
 

Zitat von Melville, S. 678


  • Nun bereitet es bei windstillem Wetter dem geübten Schwimmer keinerlei Mühe, sich auf See über Wasser zu halten; man lässt sich einfach tragen. Nicht auszuhalten aber ist die schauerliche Einsamkeit. Die Zusammenballung des Ichgefühls inmitten der herzlosen Unendlichkeit, du lieber Gott, davon macht man sich gar keinen Begriff.



Pip, der den Verstand und damit sich selbst im Meer verliert, repräsentiert die Schwäche, und Ahab, der durch die Begegnung mit dem Wal und seinem verlorenen Bein auf seine Art seines Verstandes beraubt ist, stellt Kraft und Stärke dar, genährt durch seinen Hass; sie sind einander ergänzende Bezugspunkte. Ahab nimmt sich für einen winzigen Augenblick des kleinen Narren an und wäre durch seine Fürsorge für ihn vielleicht zu einer eigenen Genesung fähig. Doch er zieht die Jagd auf sein verhasstes Objekt vor, als hätte er in seinem Hass auf den Wal endlich Gelegenheit, über alle Zweifel und Menschen hinweg hassen zu dürfen. Er genießt seinen Dämon, dem Wunsch nach Rache, und lässt sich ganz und gar von ihm einnehmen.




("Der dem Wahnsinn verfallene Pip und Ahab in der Spiegelung des Weißen Wals" - (c) Annelie Jagenholz)


Auch die Auseinandersetzung zwischen Crew und Kapitän, die Sinnlosigkeit des Ganzen, die Besessenheit, die lieber dem Wal nachjagt, als einem anderen Schiff bei der Suche nach Überlebenden zu helfen und vieles mehr, sind spannend beschrieben, die Jagd aber, die dann drei Tage dauert, ist wahrhaftig der Höhepunkt des gesamten Werkes, einschließlich des sprühend versinkenden Endes.

 

Zitat von Melville, S. 704
  • So sind wir in diesem Jammertal von Gott umfangen, und über all der Düsternis strahlt immer noch die Sonne der Gerechtigkeit, als Höhenfeuer und Hoffnung. Senken wir den Blick, so zeigt sich uns das dunkle Tal mit seinen verrotteten Erdreich; blicken wir hingegen empor, kommt uns die strahlende Sonne auf halben Wege entgegen und gibt uns Mut. Und doch, die große Sonne ist nichts Festgefügtes, wenn wir um Mitternacht ihres süßen Trostes bedürfen, sehen wir uns umsonst die Augen aus dem Kopf.



Nach all diesen schlimmen Erfahrungen und dem brennenden Gefühl der Rache, der sich Ahab bewusst war, könnte eine Schlussfolgerung wenigstens für Ismael wichtig sein:

Zitat von Melville, S. 682
  • Denn jetzt, da ich nach mannigfachen Erfahrungen innegeworden bin, dass der Mensch durchwegs seine Vorstellung vom erreichbaren Glück herabschrauben oder wenigstens verlagern muss, dass er es nicht in erdachten oder erträumten Dingen findet, sondern in Frau und Kind, im Gemüt, im Bett, Tisch, Sattel, Kaminfeuer; im Vaterland …



Denn alles, was sinnloser Hass, Rache und beharrliches Streben nach Größe ist, bleibt, wie im Eingangszitat bereits dargestellt, nur Krankheit.



("Moby Dick gegen Ahab... Tag 2 und 3 der Jagd" -  (c) Annelie Jagenholz)


Entscheidend beeinflusst war Melville von Shakespeare, den er mochte und ablehnte. Dennoch ist die Suche Ahabs, seine Besessenheit, sein Drang, bis ans Ende zu gehen, auch wenn dafür etliche Leben geopfert werden, gerade in Gestalten Shakespeares zu finden, die von einem ähnlichen Fieber beseelt sind. Deutlich wird das an den im Werk verstreuten Gesprächen und Gedankengängen, die wie ein Theaterdialog oder –Monolog von Melville gestaltet sind. Der, der also in sich gekehrt spricht oder zu anderen, tritt auf eine Art Bühne, seine Bewegung wird wie in einem Stück auch kursiv bekannt gegeben. Er tritt auf…



Kein Wunder also, dass Camus es wohl am besten ins Wort gefasst hat, wenn er über „Moby Dick“ sagt: „Die Bilder, die Gefühle verzehnfachen die Philosophie.“

Ja, zum Schluss kann ich nur sagen, dass mir "Moby Dick" sehr gut gefallen hat und reichlich Stoff zum Nachdenken ermöglichte. Die Gestalten, das Meer, der Wal, die Jagd, die Reflexionen und besonders die Bilder sind beeindruckend gelungen. Melville ist ein großartiger Schriftsteller, von dem ich weitere Werke lesen werde (z. B. "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten", "Mardi", "Maskeraden"...usw.)

Dennoch sollte man sich bei aller Begeisterung gerade diese Worte Melvilles zu Herzen nehmen:

 

Zitat von Melville, S. 705


 

  • Bücher sind ja ganz gut und schön, aber sie geben uns nur Wörter; die Gedanken dazu müssen wir uns schon selbst machen.


Und mit diesen schließe ich.



 

 

(Alle Zitate sind der Ausgabe - Herman Melville "Moby Dick", Manesse Verlag, Übersetzung: Fritz Güttinger - entnommen.)




(c) Annelie Jagenholz