Viktor Nekrassow


Zu beiden Seiten der Mauer




Ich wollte von der guten Literatur sprechen, nicht von Leuten, die sich darin gut eingerichtet hatten. Nun, jetzt weiß ich es besser, das nächste Mal erzähle ich auch von diesen Funktionären, die keiner liest …




Nekrassow ist der Schriftsteller von „Stalingrad“, einem hoch gelobten Roman, für den er den Stalinpreis erhielt. Ob man diesen nun gelesen haben muss, spielt hier keine Rolle. Die Literatur, die öffentlich erlaubt war, kann nicht frei berichten, nicht sagen, was Sache ist. Sie kann nur im Rahmen der Möglichkeiten agieren. Das hat der Samisdat gezeigt. Nekrassow war Frontoffizier und nahm 1942 an der Schlacht um Stalingrad teil. Danach arbeitete er nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Regisseur (Film „Soldaten“), Schauspieler, Architekt und Journalist. Bald wurde er schief angesehen, da er Reiseberichte verfasste, die kritisch beurteilt wurden. Er durfte in den Fünfzigern ins Ausland reisen und berichtete nicht im Sinne der Partei. Aus dieser wurde er bald ausgeschlossen, durfte das Land verlassen und emigrierte nach Frankreich.


Nekrassow berichtet in seiner ersten Schrift für "Kontinent" als eine Stimme, die mit sich selbst spricht, die endlich sagen kann, was sie sagen möchte, frei und unabhängig und keinesfalls belehrend, von seinen Reisen außerhalb der Sowjetunion. Er lehnt für sich selbst als Schreibender ab, dass der sowjetische Leser von ihm erwarten darf, dass er den Kapitalismus verurteilt, dass er sagt, dass im Ausland und gefürchteten Westen alles schlechter ist, dass er sich literarisch auf die Suche nach einem Menschen macht, der unter der Brücke schläft (was er letzten Endes dann doch tut), während in der Sowjetunion doch immer alles gut ist, genauso schön wie im Ausland, wie es in einer der vielen Phrasen heißt. „Die haben den Louvre, aber wir haben die Eremitage!“, heißt es in der Propaganda. Ja, sagt Nekrassow. Aber es ist doch etwas anderes, wenn man in Paris sitzt oder durch Berlin streift oder in der Wildnis Spaniens unterwegs ist. Es ist etwas anderes, wenn man das Land verlässt und die Entscheidung treffen kann, zu reisen, wenn es einem beliebt.


In Berlin trifft Nekrassow auf die Trennung, die Mauer, die sich nicht nur über Landschaften, sondern auch über Seen, Wälder und Brücken erstreckt. Eine dieser Brücken heißt unsinniger Weise „Brücke der Einheit“.
Dagegen erinnert er sich an Berlin, als er 1948 dort direkt nach dem Krieg war, dass man damals noch durch die Reichskanzlei streifen konnte, durch die Empfangsräume und Gänge, sogar durch Hitlers Arbeitszimmer. „Jeder Soldat träumte davon, Berlin zu erreichen und auf Hitlers Schreibtisch seine Notdurft zu verrichten.“
Hier war Berlin noch eine Stadt. Man konnte von einem Ende zum anderen fahren, auch wenn alles stark zerstört war. Die Stadt war keine geteilte, an deren Mauer Kreuze prangen – Grabstätten all derer, die durch eine Kugel eines Grenzsoldaten oder einer Salve aus einer automatischen Selbstschussanlage zu Tode kamen, all das in einem Museum dokumentarisch festgehalten. Ebenso Fotografien, auf denen die Menschen die Flucht wagen. Ein Vater, der seinen Sohn mittels eines Flaschenzugs aus dem sechsten Stockwerk eines Wohnhauses über die Mauer schaffen möchte, ein Grenzsoldat, der einen kleinen Jungen durch den Stacheldraht lässt, damit es zu seinen Eltern auf der anderen Seite kann, während die Vorgesetzten auf das Kind schießen, ein zu niedriges Fluchtauto, das unter dem Schlagbaum hindurchpasst und dem die Flucht gelingt, woraufhin die Schlagbäume geändert werden müssen.


  • „In den siebzehn Jahren seit Bestehen der Mauer – seit August 1961 – sind 175287 Menschen unter Lebensgefahr aus Ost-Berlin geflohen“, erzählt Nekrassow. Das waren die sogenannten Anfänge der DDR.
  • „Die Mauer setzt sich unbarmherzig über alles hinweg. Teilt Häuser, Anwesen, Grundstücke. Die westliche Seite eines Hauses ist erhalten, die östliche zerstört.“
  • So ist auch der Titel dieses Buches entstanden. Aber die Mauer reicht natürlich auch weiter… („Früher hieß sie Eiserner Vorhang – in sowjetischer Leseart immer in Anführungsstrichen und mit dem Zusatz „angeblich“. Heute ist sie eine einhundertfünfundsechzig Kilometer lange Realität. Mitten in Europa, direkt in seinem Herzen.“)


Daraufhin kommt Nekrassow auf seine eigenen Schwierigkeiten zurück. Als er von der Reise aus Italien und Amerika zurückkehrte, schrieb er das Buch „Auf beiden Seiten des Ozeans“ und legte sich mit Chruschtschow und seinen Helfershelfern an. Niemand, so Nekrassow, brauchte dort Gegenüberstellungen. „Was man braucht, sind Enthüllungen, Bloßstellungen.“ Hier kann man sich den Berichtserstatter Nekrassow wunderbar vorstellen, der objektiv berichten möchte und dann einsehen muss, dass in der Sowjetunion kein Mensch die Wahrheit braucht. Alles, was benötigt wird, ist die Bestätigung dessen, was propagandiert wird.
Nekrassow versucht sich dennoch klar über die verschiedenen Länder zu werden, ihrer Möglichkeiten und Lebensumstände, lobt die Architektur und Landschaften, vergleicht das Fernsehen, Kneipen, Hochhäuser. Er greift weder den Kapitalismus noch die Politik an, er stellt die Länder einander gegenüber und muss dafür in Kauf nehmen, von den sowjetischen Kritikern als inkompetent bezeichnet zu werden.

Wie also ergeht es ihm nun, in der Freiheit? Im Westen? Das fragt sich Nekrassow selbst. Hier macht er Reisen, kann lesen, was er will, kann essen, wonach ihm ist. In Moskau gab es Wurst, so der Autor, die verweigerten sogar die Katzen, in Frankreich kann man kauen und kauen und sie schmecken nach nichts, in Deutschland und anderen Ländern schmeckt sie großartig oder man kann sie in Delikatessläden kaufen. Auch erinnert er sich, wie er, als er noch sowjetischer Schriftsteller war, versuchte, sein Land zu verteidigen:


 

  • „Mit Schmunzeln denke ich heute daran, wie ich Ende 1962 mit dem druckfrischen „Iwan Denissowitsch“ unterm Arm in Paris eintraf (…)und wie ich von der Bühne des russischen Nachtklubs „Dschar Ptiza“ (Feuervogel) hinab damit prahlte, was für Bücher man bei uns jetzt herausgibt! In der Manege neben dem Kreml in Moskau hingen auf einer Ausstellung sogar abstrakte Bilder, und die Besucher debattierten gleich am Ort, unter diesen Bildern, ruhig und unbefangen über sie. Am nächsten Morgen erfuhr ich allerdings, dass Chruschtschow der Sache schon ein Ende bereitet hatte, aber es war eben am nächsten Morgen; am Vorabend hatte ich von der Bühne hinab heiter und überzeugt gesprochen.“
 



Nekrassow lässt seinen Blick auch auf den Krieg zurückgleiten, auf seine Kameraden, Freundschaften, auf diejenigen, die verschwunden sind, auf die Propaganda unter Breschnew, auf das für ihn auf immer verschwundene Kiew, in dem er aufgewachsen ist, samt seiner Veränderungen und Menschen, die er nie wieder erblicken wird. Weiter blickt er auf Postkarten von der Schweiz. Auf Erinnerungen an Genf und die vielen überteuerten Uhren.

  • … ich habe mich in den drei Jahren weiß Gott einigermaßen, an Schaufenster gewöhnt, aber hier bleibt mir buchstäblich das Maul offenstehen.


Dann wendet er sich den russischen und wirklich russischen Schriftstellern zu. Von solchen wie Valentin Rasputin oder Mark Aldanow hat er erst im Ausland gehört und kann sich nicht genug wundern, wie gut sie schreiben. Auch lobt er das Gefängnistagebuch von Kusnezow (das hier auch bald vorgestellt werden wird). Er sagt so schön, dass er sich in solchen Momenten, wenn er über Ränder nachdenkt, die nicht gut gesetzt sind oder sich ärgert, weil jemand im Flur zu laut telefoniert an die Umstände denkt, unter den Kusnezow geschrieben hat, dessen Humor ihm durch die Zeilen und Lagerzeit geholfen hat. „In solchen Lagen ist es gut, Kusnezows zu gedenken.“

Bei Nekrassows Versuchen, den Kapitalismus zu durchschauen und ihn der sowjetischen Propaganda gegenüberzustellen, fällt dann doch seine Unsicherheit auf. Er räumt hie und da ein, dass es verdummende Massenliteratur gibt, betont aber auch, dass bei seiner Ankunft in Paris oder London von etlichen Menschen „Der Gulag“ gelesen wurde. All das erscheint etwas übertrieben, zumindest für mich. Nekrassow versucht damit, den Kapitalismus zu rechtfertigen, in dem sich die Menschen für alles interessieren und frei entscheiden können, was sie wollen und lesen können. Dabei handelt es sich wohl um genau dieses Schwanken, in das jeder gut erzogene Sowjetbürger gerät, der mit dieser Propagandamaschinerie aufgewachsen ist und sich erst langsam von dieser gelöst hat, weil die tatsächlichen Bedingungen nicht mit den über Jahre eingetrichterten Gefahren übereinstimmen.


Was ihm am Westen nicht behagt, sind die laufenden Streiks der Arbeiter und Gewerkschaften. Für Nekrassow ist ein Streik nur aus Solidarität gerechtfertigt, diese Arbeiter aber streiken für einen volleren Magen. Er vergleicht die Gehälter und stellt sie den sowjetischen gegenüber, sieht nicht ein, dass die Menschen aus solchen Belanglosigkeiten anderen Menschen Probleme bereiten, die auf die Arbeit dieser Streikenden (als der üblich reibungslose Verlauf) angewiesen sind. Hier redet der Kommunist in Nekrassow, den er in anderen belächelt. Besonders schön ist seine Empörung, wenn er sich ausmalt, wofür diese Leute streiken. Für ihre Rechte. „ Für das Recht, einen neuen Wagen zu kaufen (der alte hat schon 70 000 auf dem Tacho), oder eine Jacht (die Kinder sind groß geworden, lassen nicht locker)…“ usw. Er übertreibt also gewaltig in seiner Fantasie. (Vielleicht vergleicht er nur die Gehälter, nicht die hohen Preise und steigenden Mieten. Er sieht also nur, dass in Frankreich die Löhne weitaus höher als in der Sowjetunion sind, allerdings nicht, dass auch das Leben und der Unterhalt mehr kostet. Eine eigenartige Blindheit…)

Auch hat Nekrassow politisch nicht unbedingt immer den Durchblick, äußert sich aber unbefangen über die Ereignisse und gibt seine ironische Meinung dazu kund. Das erscheint mir persönlich, als Leser solcher Schriften, immer etwas unpassend, wenn sich Menschen zu Umständen äußern, die sie nicht richtig durchschauen, bei denen sie einfach die Zeitungen nachplappern und zu ihren Gunsten verfälschen, als würde das schon genügen. Daher wirkt auch seine Ironie hin und wieder verfehlt. Die gefährliche Arbeitslosigkeit in kapitalistischen Ländern belächelt Nekrassow gleichfalls, allerdings anders, als man erwartet. Statt sich diesem Thema ernst zu widmen, lacht er die Arbeitslosen aus, die ja immerhin noch 75 Prozent ihres alten Gehaltes erhalten*, erklärt, dass die Frauen sich feuern lassen, um dieses Geld zu kassieren – man nimmt, was man kriegt – und scheut sich in seiner Fantasie auch nicht davor, über die Hochschulabsolventen herzuziehen, die es wagen, Arbeit in der Nähe oder doch zumindest in Frankreich finden zu wollen. Für ihn wäre es sinnvoll, wenn sie nach Senegal oder Tschad gehen, wo ihre Arbeit gebraucht wird. Er wirft ihnen vor, dass sie dort nicht hinwollen, da es ihnen zu heiß und zu weit weg ist. (Da frage ich mich doch leise: wieso geht er nicht selbst?)
Kurz: was Nekrassow versucht zu kritisieren, ist bei den Haaren herangezogen. Er vergleicht nicht die westlichen Probleme und den Kapitalismus mit den sowjetischen Schreckgespenstern, sondern wagt eine ganz eigene verworrene Ansicht über die Dinge. (* Bei der Arbeitslosigkeit und seinen absurden Beispielen nimmt er sich die Arbeitslosigkeit eines… Achtung: Ingenieurs als Zeugnis für alle Arbeitslosen, um an ihm zu beweisen, dass die Arbeitslosigkeit im Westen gar nicht so tragisch ist, denn dieser ist es eben, der noch ein Jahr lang Zweidrittel seines Gehalts erhält, weshalb Nekrassow von ihm auf alle schließt.) Er verkehrt also die Bedingungen, um die gleichfalls übertriebene These sowjetischer Propaganda bloßzustellen. Doch er versucht es durch schlechte und überzogene Beispiele, was einer Lüge gleichkommt.
Er versucht damit zu zeigen, dass der Sozialismus nicht möglich ist, schon gar nicht in seiner „reifen Form“. Er verurteilt den Westen, dass er immer noch glaubt, sich mit der Sowjetunion arrangieren zu können.

Natürlich wird ein Mensch, der aus einem Land kommt, in dem Willkür und Verbrechen Alltag sind, in dem etliche Menschen erschossen wurden oder ganz einfach wie vom Erdboden verschwanden, in dem Kriegsrückkehrer als Verbrecher angesehen wurden, in dem man in der eigenen, engen Einzimmerwohnung, die man sich noch mit drei anderen Menschen teilt (später auch mehr zu der sogenannten "Kommunalka" - der unter Stalin eingeführten Gemeinschaftswohnung), nicht laut über gewisse Dinge reden kann, die benannten Probleme des Westens etwas empfindungsloser betrachten. Menschen, die gewohnt sind, dass man für nichts ins Gefängnis gesperrt wird, werden sich wohl kaum darüber aufregen, dass man in Frankreich Steuern zahlen muss.
Nekrassow sieht zwar die Rechtsbrüche, aber es überwiegt für ihn das Vorhandensein von Recht. Er erkennt die Freiheit, sagen zu dürfen, was er möchte, ohne Gefahr zu laufen, eingesperrt zu werden oder sich vor Spitzeln zu fürchten. Das wiegt höher als Rassismus, Rauschgiftprobleme und Terrorgefahr. Die Gefahr des Westens, dass man unter der Brücke landet, zeigt sich ebenfalls als die Freiheit, unter einer Brücke sterben zu können. (Für Nekrassow zeigt sich das dann allerdings stark romantisiert, als ein Sitzen auf einer Bank, während man den Louvre im Rücken hat, eine Zigarette raucht und das Herz stehen bleibt…) Allerdings verzeiht man ihm diese Vorstellung auch wieder, als einen Menschen, der ständig in der Sowjetunion gefragt wurde, weshalb er immer wieder erneut ins Ausland wollte, ob ihm Russland nicht genügen würde. Für so einen Mensch eröffnet sich die Welt in aller Freiheit und nur langsam schafft auch ein Nekrassow es, diese künstlich geschaffene „Welt voller Feinde“ Stück für Stück abzuwerfen, und bis er es schafft, dauert es, ist dann aber eine konsequente Entscheidung.

Am besten hat mir Nekrassows Reise nach und durch Spanien und Katalonien gefallen, die in „Ansichten und etwas mehr“ vertieft wird. Dort berichtet er von einem verlassenen Friedhof, auf deren Steinen festgehalten steht, wie die Menschen umkamen, unter anderem durch den Tritt eines Pferdes. Auch durchstreift er die Museen und schwelgt in der Kunst des Prados.
Nekrassow ist ein hervorragender Erzähler. Seine Gedanken, Erinnerungen, Geschichten zeigen einen ernsten Menschen, der es versteht, seine inneren Bilder für den Leser lebendig zu machen. Seine Schlussgedanken sind der intensive Ausdruck seiner Wünsche, denen nichts hinzuzufügen ist und die ich, als Leser, sehr genossen habe.

 



(Alle Zitate stammen aus Viktor Nekrassow "Zu beiden Seiten der Mauer", Ullstein Kontinent)
 

 
 
 
 
(c) Annelie Jagenholz