Jurij Olescha


NEID



Das Unbegreifliche ist immer lächerlich oder schrecklich.


Ein kleines Buch mit sympathisch großem Inhalt.

Jurij Olescha schrieb nur dieses eine Buch. Danach zog er es vor, das Schreiben zu Gunsten der äußeren Umstände in der Sowjetunion aufzugeben und das Schweigen vorzuziehen. Das ist sehr schade, betrachtet man sein Werk "Neid", allerdings auch nachvollziehbar.
Olescha wurde am 3. März 1899 in Jelisawetgrad geboren. Seine Eltern stammten aus Polen. Schon in jungen Jahren schrieb er Gedichte, die auch veröffentlicht wurden. Als seine Eltern nach Polen zurückgingen, siedelte Olescha nach Moskau über, arbeitete bei einer Zeitschrift, für die auch Literaturgrößen wie Ilja Ilf und Jewgeni Petrow schrieben. Als sein Werk "Neid" erschien, erntete es aufgrund seines kritischen Inhalts viel Kritik und wurde verboten. Olescha war von den Ereignissen sehr mitgenommen, zog sich zurück und verfiel zunehmend dem Alkohol. Außer einigen Essays und Tagebuchaufzeichnungen schrieb er nie wieder etwas und starb am 10. Mai 1960 an einem Herzinfarkt. 


Der Roman


Nikolai Kavalierow – ein Mann, den „die Dinge nicht mögen“ hat immer davon geträumt, einmal berühmt und beachtet zu werden. Im Moment haust er allerdings bei einem Mann, der ihn betrunken, schluchzend und weggetreten auf einer Straße (auf einem Eisengitter, dabei das Muster noch im Gesicht) gefunden und aus Mitleid mit zu sich nach Hause genommen hat. Er heißt Andrej Babitschew und ist ein wohlhabender Geschäftsmann, er versucht, die Dinge für den Menschen zu vereinfachen und hat damit großen Erfolg. Er ist konservativ, realistisch und hoch geachtet in Moskau. Er bietet Kavalierow ein Dach und eine Arbeit an. Von nun an entwickelt dieser einen unbändigen Hass auf den Mann, weil Babitschew ihm seine Überlegenheit so offenkundig demonstriert.
Der Leser wird mit allerhand Gedankengängen konfrontiert, die oft sehr lustig in ihren Vergleichen sind, andererseits auch sehr bissig und manchmal bösartig. Kavalierow brütet in seinem Inneren etwas Schreckliches aus.
Als sein Wohltäter eine Sorte Wurst auf den Markt bringt, das gut aber günstig ist, wird Kavalierow immer wütender.
„Ein Stück schäbige Wurst lenkt meinen Willen, meine Bewegungen. Ich will nicht!“ denkt er.
Für ihn liegt in solch einem kleinen Erfolg kein Ruhm, durch den ein Mensch glänzen sollte. Er selbst findet keine Achtung, ist der Laufbursche, das fünfte Rad am Wagen, während vor seinen Augen ein ihm verachtungswürdiger Mann geschätzt und durch sein Engagement gefeiert wird.
Wirklich ärgern tut ihn wohl das Desinteresse und das Mitleid, das der Mann mit ihm hat.



  • Mein Anblick interessiert ihn nicht, er hat keine Zeit, keine Lust, mich anzusehen, aber ich weiß, dass er mich durchschaut.


 

Hier werde ich stark an Dostojewski und seinen Erzähler aus dem Kellerloch erinnert, der jede Szene überdeutet oder nach dem eigenen inneren Gram auslegt. Es ist beklemmend, dem Ich-Erzähler bei seinen leichten Wahnvorstellungen und Hasstiraden zuzusehen. Gleichzeitig bleibt das ganze Buch offen, für den Leser zu deuten, wem seine Sympathie gilt. Beide Figuren verkörpern dabei die alte und die neue Gesellschaft der Sowjetunion, der alte Intelligenzler Kavalierow vertritt dabei seine eigenen Vorstellungen und Gedanken.
(Wie ich im Nachwort lese, hat Olescha bewusst auf Dostojewski angespielt, ebenso wie auf Turgenjews Essay "Hamlet und Don Quijote" (welch ein Gegensatz - hat er gehofft, die beiden so wieder zu vereinen?
)


Der Neid wird hier aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Auch herrlich finde ich, wie Olescha auf die Details eingeht, z. B., dass wir umgeben von Aufschriften sind, ohne darauf zu achten, oder welch eine neue Welt ein Straßenspiegel einem Menschen eröffnen kann.



  • Ich mag solche Spiegel sehr. Sie tauchen unvermutet am Weg auf. man glaubt, einen gewöhnlichen Weg zu gehen, einen ruhigen gewöhnlichen Stadtweg, der weder Wunder noch außerordentliche Erlebnisse verheißt. Ahnungslos geht man dahin, hebt die Augen, und plötzlich, in Sekundenschnelle, wird einem klar: mit der Welt, mit den Gesetzen der Welt sind ungeheure Veränderungen vor sich gegangen.
    Zerstört sind Optik und Geometrie, zerstört das Natürliche deines Ganges, deiner Bewegung, deines Wunsches, eben dorthin zu gehen, wohin du wolltest. Du glaubst plötzlich, deine Augen im Nacken zu haben, du lächelst sogar verlegen den Passanten zu, bist verwirrt über deine Sonderstellung.
    (…)
    Ungeahnte Fernen tun sich dir auf. Alle sind überzeugt: da ist Haus, eine Mauer, du aber genießt eine Sonderstellung: das ist kein Haus. Du hast ein Geheimnis entdeckt: Hier ist keine Mauer, hier ist eine geheimnisvolle Welt, in der sich alles eben Gesehene noch einmal wiederholt, und zwar in einer Weiträumigkeit und Plastizität, wie nur ein umgekehrtes Fernglas sie zu zeigen vermag.
    (…) Dein Gesicht hängt reglos im Spiegel, es allein hat seine natürlichen Formen bewahrt, es ist das einzige Überbleibsel aus der normalen Welt, während alles andere zusammengebrochen ist, sich verändert und neue Gesetzmäßigkeiten angenommen hat, mit denen du dich absolut nicht abfinden kannst…
    (…) Du kannst nicht mit Sicherheit sagen (bevor du dich vom Spiegel abwendest), in welche Richtung ein Fußgänger geht, den du im Spiegel beobachtest … Erst wenn du dich umdrehst …



Tatsächlich verdeutlichen gerade diese Details den Menschen und seine Auffassung. Der Spiegel versinnbildlicht den verzerrten Blick von Kavalierow. Seine Welt, sein Denken und Sehen widersetzen sich den äußeren Umständen. Er will etwas Besonderes in dieser Welt sein, ohne die Welt zu akzeptieren. Alle sind seine Feinde, egal, wie hilfreich sie ihm auch gegenübertreten, seine eigene Unzufriedenheit breitet sich auf sein ganzes Umfeld aus. Alle sind dabei immer unter seinem Niveau, und gerade die Masse scheint nicht fähig, genau das zu sehen. Sie ist ebenso versnobt und verblendet, wie der vermeintliche Feind. Dabei ist das Neue gleichermaßen gefährlich und droht, verroht und oberflächlich zu werden. Die lauernde Gefahr, die Kavalierow überall ahnt, ist dabei gar nicht so unbegründet. Wunderbar weiß Olescha dies aber zu verschleiern.



  • Aus einem Seitenweg kommt ein Fußgänger auf den Spiegel zu. Ich hindere ihn, sich im Spiegel zu betrachten. Das Lächeln, das er für sich selbst bereithält, trifft mich.

 


Zwischen den verschiedenen Charakteren tritt ein dritter, der Bruder von Babitschew – Iwan, der das genaue Gegenteil von ihm ist. Ein Erfinder, Prediger und Verrückter. Er strebt nach anderen Dingen:



  • Die Epoche stirbt mit meinen Namen auf den Lippen.


… und entspricht damit eher Kavalierow, allerdings besitzt er eine Art Größe, die dem anderen fehlt. Daneben ist er ein Kämpfer für die Gefühle.



  • Der Sozialismus schafft statt der früheren Empfindungen eine Reihe neuer Seelenzustände.


Genauer sucht er nach all denen, die sich die Gefühle der alten Welt bewahrt haben, denn in der neuen sind diese abgestumpft. Er sucht nach all denen, die vielleicht dämonisch, unberechenbar, leidenschaftlich, eifersüchtig handeln, aber dieses Gefühl ehrlich leben. Er sucht nach denen, die fähig sind, Helden zu sein. Er sucht die Tragik, das Verruchte, das Verräterische, die Träger echter Emotionen. Und einen hat er bereits entdeckt: Kavalierow. Sein Gefühl ist der Neid.
Um all das herum herrscht der Untergang der Welt, eine schäbige Industrialisierung in einer zu modernen und sozialistischen Welt:



  • Die Jahrtausende liegen da wie eine Abfallgrube. In der Grube türmen sich die Maschinen, Eisenteile, Bleche, Schrauben, Sprungfedern … Eine dunkle, finstere Grube. Un darinnen glimmen Moder, phosphoreszierende Pilze – Schimmel. Das sind unsere Gefühle! Das ist alles, was von unseren Gefühlen, von der Hochblüte unserer Seelen geblieben ist.



Und was nun Iwan Babitschew und Nikolai Kavalierow vereint, ist ihr gemeinsamer Hass auf den „Bonzen“, den „Götzen“ und damit „Banausen“ Andrej. Sie sind beide ein „Kondensat des Neides einer untergehenden Epoche“. Was ihnen bleibt ist das „Abtreten mit Pauken und Trompeten“.



  • Damit auf der Fratze der Geschichte eine Narbe zurückbleibt.



Der Schreibstil und der Inhalt sind wunderbar gelungen. Neben herrlich grotesken Bildern wird der Leser zunächst mit Kavalierow als Ich-Erzähler konfrontiert, sicher, um die Emotionen, die ihn aufwühlen und die Beschreibungen aus dessen Sicht besser und intensiver zu verdeutlichen. Dann wechselt die Perspektive geschickt auf den Blick von außen, den Bericht über die verschiedenen Vergangenheiten der einzelnen Menschen, um dadurch die Charaktere besser ins Licht zu rücken. Man erlebt hier die subjektive wie auch die objektive Sicht, wodurch das Werk sich selbst umkreist.
Olescha hat diesen Roman mit 28 Jahren geschrieben. Er hat damit die Darstellung des Kleinbürgers verbildlicht, der seine Unbeholfenheit im Leben, sein Versagen und damit entfachten Neid auf all die, die es besser als ihn getroffen hat, so kompensiert, indem er seine Wut zum Kampf aufbläht, mit der Rechtfertigung, jene vergangene Kultur zu retten, die in einer modernen Entwicklung dem Untergang geweiht sein soll. Und da sein kleiner Hass somit auf die Stärke und den Kampf aller Menschen heranwächst, findet er darin auch seinen immer wieder neu entfachten Hass gestärkt. Dass solch ein Kleinbürger/-denker letztendlich trotzdem scheitert, weil er in dieser zum zerplatzen verurteilten Illusion schließlich straucheln muss, ist absehbar.


  • Die Kleinbürgerlichkeit ist der Fluch der Welt, sie zernagt die Persönlichkeit von innen, gleich dem Wurm, der die Frucht entleert.


(Gorki)



In all diesen Betrachtungswinkeln ist Olescha hier ein schönes Buch geraten, das ich unbedingt empfehlen kann.


Zum Nachklingen:



  • Die Menschen haben keinen Begriff von der Zeit. Das zeugt von einer Unkenntnis der Technik. Die Zeit ist doch auch ein technischer Begriff. Wären alle Menschen Techniker, so stürben Bosheit, Selbstsucht und alle kleinlichen Gefühle aus. (…) Verstehst du: man muss die Zeit begreifen, um sich von kleinlichen Gefühlen zu befreien. Das Beleidigtsein hält, sagen wir, eine Stunde oder ein Jahr lang an. Die Phantasie der Menschen reicht vielleicht für ein Jahr. Auf ein Jahrtausend aber können sie sie nicht ausdehnen. Sie sehen nur drei, vier Teilstriche auf dem Zifferblatt, krabbeln dazwischen herum und rempeln sich gegenseitig… Das ganze Zifferblatt können sie nicht überschauen. Und überhaupt: sag ihnen mal, dass das ein Zifferblatt ist, sie werden es nicht glauben!

 




(Alle Zitate stammen aus Jurij Olescha "Neid", Volk und Welt Spektrum)

 

 
 
(c) Annelie Jagenholz