Andrej Platonow Tschewengur
Die Wanderung mit offenem Herzen
"Ganz Russland war bevölkert mit zugrunde gehenden und sich rettenden Menschen – das hatte Serbinow schon lange gemerkt. Viele russische Menschen waren in eifriger Lust damit befasst, in sich die Fähigkeiten und Gaben des Lebens zu vernichten: die einen tranken Wodka, andere saßen mit halbtotem Verstand inmitten ihrer zwölf Kinder, wieder andere gingen hinaus aufs Feld und malten sich dort vergebens etwas in ihrer Phantasie aus. Aber diese Frau hier hatte sich nicht zugrunde gerichtet, sondern sich selbst gemacht."
Eine ungewöhnliche Geschichte, die erst sechzig Jahre nach ihrer Entstehung, nämlich 1988, veröffentlicht werden konnte, findet der interessierte Leser in "Tschewengur". Als Platonow sie zum ersten Mal einem Verleger vorlegte, erklärte man ihm, „die Revolution sei im Roman falsch dargestellt und das ganze Werk könne sogar als konterrevolutionär verstanden werden“.
Auch setzt Platonow seine Utopie nicht in eine ferne Zukunft oder befasst sich mit einer fremdartigen Welt, sondern bleibt in einer ihm vertrauten Gegenwart. Er beschreibt ein Provinznest, das tatsächlich existiert haben könnte, wobei der Raum und Ort der Geschichte durch seine mächtige Weite dennoch an eine Art Trümmerlandschaft erinnert, ein verödetes Land, das jedoch durchaus nicht utopisch zu nennen ist. Utopisch bleibt lediglich die Entwicklung auf diesem begrenzten Raum des fiktiven Tschewengur, das inmitten der Welt abgegrenzt und durch die äußere Welt beeinflusst, ein eigenständig voranschreitendes Revolutionsmodell verwirklicht. Wir geraten in eine Gegend, in der furchtbarer Hunger und schreckliche Not herrschen, in eine Ödnis ohne Gleichen. Die Menschen sind nur noch verstreut angesiedelt, verschiedene Personen werden dann nach und nach näher beleuchtet.
Der Anfang erinnert ein bisschen an Grimmelhausens Simplicissimus. Auch bei Platonow lebt dort einer, der sich gemeinsam mit einem Einsiedler in den Wald zurückzieht, bis dieser stirbt. Nur gräbt die platonow’sche Figur nicht ein Grab für den sterbenden Einsiedler, sondern liegt tot im Regen und bläht dabei langsam auf. Bereits hier zeigt sich, wie exakt Platonow seine Sätze gestaltet, was mitunter die Faszination für diesen Roman bewirkt. Es fällt auf, dass er bewusst intensive Bilder nutzt, um den Leser bildlich vorzuführen, was ihn selbst bewegt. Diese Bilder wirken häufig wie plötzlich aufleuchtende Reflexe, sind bewegend, fast düster, aber grundsätzlich überdeutlich und gut geschrieben.
Da kommt z. B. eine Frau mit einem Kind nieder, während sie das bereits siebzehn Mal erlebt hat. Diesser Hintergrund bildet wohl die Ahnung heraus, weshalb mit der jetzigen Geburt irgendetwas nicht stimmt. Es wird eine Wehmutter geholt, die dan wenige Minuten später, und einfach ins Bild gesetzt, mit einer Schüssel über den Hof läuft und etwas gegen den Zaun schwappt. Es wird nur angedeutet, und doch ist es sofort klar, wovon die Rede ist:
- Der Hund lief hin und fraß alles bis auf das Flüssige.
Solche Szenen haben eine eigenartige Wirkung. Mir persönlich läuft es eiskalt über den Rücken, wenn ich mir das Bild aufgrund solcher Beschreibungen zusammenbaue. Eine ähnlich intensive Beschreibung betrifft einen Friedhof, auf dem sich einer der Protagonisten, Sascha Dwanow, in ein selbst geschaufeltes Grab legt, um auf diese Weise seinem toten Vater näher zu sein, der wiederum für sich den Tod entschlüsseln wollte und sich dafür umbrachte. Er war besessen von dem Gedanken, wieder zurückkehren und berichten zu können, was dann, wie man es sich schon denken kann, natürlich nicht funktioniert.
(Viele Charaktere erinnern entfernt an die Schildbürger, durch ihre Einfalt, wie auch durch ihre Bauernschläue oder ihrer Art, gutgläubig der Welt zu begegnen. – "In jungen Jahren hatte Sachar Pawlowtisch gedacht, dass er, erst einmal erwachsen, auch klüger werden würde. Aber das Leben war ohne Selbstbesinnung und ohne Zwischenstation dahingegangen, als unaufhörliche Begeisterung; kein einziges Mal hatte er die Zeit als gegenläufiges festes Ding empfunden, sie existierte für ihn nur als Rätsel im Weckermechanismus.")
Auf dem Friedhof ereignen sich dann auch andere Gegebenheiten, darunter erscheinen in der Nacht Männer, die die Kreuze auf den Gräbern abbrechen. Der Grund dafür ist, wie sich später herausstellt, dass sie Brennholz benötigen. Das ist eine schreckliche Vorstellung, und diese Notwendigkeit dahinter macht sie noch bewegender.
Platonow schafft es oft, das Bild vor den Augen des Lesers lebendig werden zu lassen. Das führt manchmal bis auf eine Art Haiku zurück, wo auf einem Grab zu lesen ist:
- Ich lebe und weine,
- sie ist gestorben und schweigt.
Doch zurück zum eigentlichen Geschehen.
Der oben bereits erwähnte Protagonist Sachar Pawlowitsch (Sachar = russisch Zucker, und wirklich ist diese Figur eine der liebenswertesten) liebt die Maschinen und die Technik mehr als die Menschen und die Natur. Durch die Maschinen erfährt er, was Leben ist. Eine Lokomotive flößt ihm Vertrauen ein, während der Mensch ihn nicht interessiert. Alles, was er benötigt, ist die Arbeit.
- Sachar Pawlowtischs Schwermut war stärker als das Wissen um die Nutzlosigkeit seiner Arbeit, und er haute weiterhin Pflöcke zurecht bis zur völligen nächtlichen Erschöpfung. Wenn er nicht arbeitete, strömte ihm das Blut aus den Armen zum Kopf, und er begann so tief über alles gleichzeitig nachzudenken, dass nicht als Hirngespinste dabei herauskamen, und in seinem Herzen erhob sich schwermütige Angst.
Durch seine Einstellung zur Technik umgibt ihn eine eigenartige Gelassenheit:
- Gleich in der ersten Nacht übergossen die Söhne des Tischlers – Kinder zwischen zehn und zwanzig – den schlafenden Sachar Pawlowitsch mit ihrem Urin und verrammelten die Kammertür mit der Ofengabel. Aber Sachar Pawlowitsch, der sich nie für Menschen interessiert hatte, war nicht so leicht zu erzürnen. Er wusste, dass es Maschinen und mächtige komplizierte Erzeugnisse gab, und an ihnen maß er den Edelsinn eines Menschen, nicht aber an zufälliger Gemeinheit.
Diese Figur ist überhaupt interessant, durch ihre Auseinandersetzung mit dem Sein und dem Leben:
- Früher hatte er sich sein künftiges Leben als tiefen blauen Raum vorgestellt – so weit, dass er fast nicht existierte. Er wusste im voraus: Je länger er lebte, um so kleiner würde der Raum des ungelebten Lebens werden, und zurückbleiben würde ein immer länger werdender toter zertrampelter Weg. Doch er hatte sich getäuscht: Das Leben wuchs und sammelte sich an, und die noch vor ihm liegende Zukunft wuchs ebenfalls und weitete sich, wurde tiefer und geheimnisvoller als in der Jugend, so als trete Sachar Pawlowitsch vom Ende seines Lebens zurück oder steigere seine Erwartungen und seinen Glauben an das Leben.
In Sachars Interesse für Lokomotiven und Maschinerie wird auch der Schriftsteller etwas sichtbarer, da Platonow mit Unterbrechungen am Woronesher Eisenbahnpolytechnikum studiert hat. Sachar lernt erst durch die Begegnung mit dem Kind des toten Fischers den Menschen mehr als die Maschinen zu schätzen. Eine Wandlung, die sich in ihm komplett vollzieht.
Sascha, noch Kind, (im Ganzen dann Alexander Dwanow – „dwa“ in russisch „zwei“, was darauf hinweist, dass Dwanow auch Platonows Doppelgänger ist), wächst schließlich bei ihm auf. Sachar heiratet und lässt sich von dem Jungen die Welt vorlesen. Sie kommen unter anderem auf den Zaren und den Krieg zu sprechen, wobei Sachar erklärt, dass der Mensch dem Menschen nicht gefährlich scheint, sondern erst durch die Macht Krieg entsteht, ein absichtlich gesteuertes Leid. Sascha erkundigt sich, wie es sein müsste, während ihm Sachar antwortet:
- „Irgendwie anders. Wenn sie mich zum Deutschen geschickt hätten, kaum dass der Streit losgeht, ich wär sofort mit ihm einig geworden, und das wär billiger gekommen als der Krieg. Aber so haben sie die klügsten Leute hingeschickt!“
Sachar Pawlowitsch kann sich keinen Menschen vorstellen, mit dem sich nicht freundschaftlich plaudern ließe. Da er aber bald darauf erkennt, dass der Krieg keine naturgewollte Sache, sondern eine vorsätzliche ist, gerät er in Zweifel:
- Kann man freundschaftlich mit jemandem reden, der vorsätzlich Menschen tötet, oder muss man ihm vorher die schädliche Waffe, den Reichtum und die Würde wegnehmen?
Aus diesem von Leid und Hunger gezeichneten Leben gerät Dwanow schließlich mitten in die Revolution, die sich dann schnell wieder in der Weite der Landschaft verliert und überall ihre Spuren hinterlässt, auf der Suche nach dem heiligen Gral „Kommunismus“. Er ist dabei hin und hergerissen vom Glauben an die Wahrhaftigkeit und Richtigkeit der Ideale der Revolution und seinem Mitleid, seiner Ratlosigkeit angesichts der Armut und tiefen Verbitterung so vieler Menschen. Daraus gestaltet sich letztendlich die „Wanderung mit dem offenen Herzen“.
Unterwegs wird der Leser weiter mit etlichen Begegnungen konfrontiert. Die allgemeine Armut bringt die Leute auf verrückte Ideen. Da ist ein Mann, der sich für Gott hält, der verkündet, dass es nicht notwendig wäre, ein Feld zu bestellen, denn Getreide käme aus dem Erdreich, so könne man dann auch direkt die Erde essen und dadurch satt werden, man müsse den Magen nur daran gewöhnen. Die Menschen nehmen an, dass er bald sterben würde, doch weil er weiter lebt, respektieren sie ihn schließlich und nennen ihn von da an auch namentlich „Gott“. Und all das mitten in der Revolution.
- „… jetzt wird es Zeit, dass du Lenin wirst, Gott warst du lange genug!“
Dann ist da ein anderer Typ namens Kopjonkin, der sich nur durch seine Sehnsucht nach Rosa Luxemburg immer wieder in seinen Ansichten bestärkt, dass die Idee des Kommunismus' richtig ist, wobei sie sich im Leben etwas fragwürdig verwirklicht, gerade hier, in diesem abseitigen Dorf. Dennoch verteidigt er den Kommunismus, gerade auch gegen diejenigen, die Rosa ermordet haben, eine Art Triebfeder, durch die er es schafft, trotz der Zweifel, weiterhin „für die Sache zu kämpfen“.Daneben trägt sein Pferd beispielsweise den Namen „Proletarische Kraft“, so benannt nach einer Losung von Trotzki: „Proletarier aufs Pferd“.
Die Feinheiten, die Platanow in seine einzelnen Szenen setzt, formen ein besonders liebenswertes Bild aller Charaktere. Die Sehnsucht nach dem Sozialismus bringt auch andere neue Namen und ganz neue Möglichkeite hervor. So nennt sich ein weiterer Bürger ganz einfach Dostojewski.
Hinter jeder Gestalt, jeder Bezeichnung und jedem Namen steht eine Idee, die Platanow in humoriger Art verpackt. Natürlich darf auch eine Karikatur Stalins nicht fehlen, die es beeindruckend versteht, die Gutgläubigkeit der Tschewengurer und ihre Sehnsucht nach dem Kommunismus für seine persönliche Bereicherung zu nutzen. – "Wenn sie die Welt nicht wollen, dann nehmen wir sie erst einmal als Basis." Diese Art, praktische Maßnahmen mit theoretischen Rechtfertigungen durchzusetzen, im Sinne des „vollen“ Sozialismus, ist bezeichnend. Der Leser darf hier auch ganz frei entscheiden, welche Figur seine Sympathie verdient. Eine schöne Zwischenszene ist diese hier:
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- Sein Vater, ein Förster, hatte ihm eine Bibliothek billiger Bücher von völlig bedeutungslosen, kaum gelesenen und vergessenen Autoren hinterlassen. Er hatte seinem Sohn gesagt, dass die lebensentscheidenden Wahrheiten verborgen in unbeachteten Büchern existierten.
Der Vater des Forstaufsehers hatte schlechte Bücher mit ungeborenen Kindern verglichen, die im Mutterleib zugrunde gehen an dem Missverhältnis zwischen ihrem zu zarten Körper und der sogar in den mütterlichen Schoß eindringenden Grobheit der Welt. „Wenn zehn solcher Kinder am Leben geblieben wären, hätten sie den Menschen zu einem triumphierenden und erhabenen Wesen gemacht“, hatte der Vater dem Sohn als Vermächtnis mitgegeben. „Aber geboren wird nur, was verworren im Hirn und fühllos im Herzen ist, was die scharfe Luft der Natur und den Kampf um rohe Nahrung verträgt.“ Der Forstaufseher las gerade ein Werk von Nikolai Arsakow, herausgegeben im Jahre 1868. Es hieß „Zweitrangige Menschen“, und der Aufseher fand aus der Langweile der dürren Worte das heraus, was er brauchte. Er meinte, dass es langweilige und sinnlose Bücher nicht gebe, wenn der Leser in ihnen wachsam nach dem Sinn des Lebens suchte. Langweilig würden Bücher durch langweilige Leser, denn in den Büchern wirke die suchende Sehnsucht des Lesers, nicht aber das Können des Autors.
Die Idee ist in ihrer Schönheit gezeichnet, die Verwirklichung gelingt leider nicht. Ganz im Gegenteil sind die Auswirkungen des neuen Sozialismus verheerend. "Alles dem Volke!", dieser Sinnspruch verbleibt als ein guter Vorsatz. Die Umsetzung geschieht durch Menschen, die eine Theorie nicht in die Praxis umdenken können. So verteilen sie beispielsweise das Vieh der besser Gestellten an die Armen, während die keine Vorstellung haben, was sie mit diesem anfangen sollen, geschweige denn, wie sie die Tiere ernähren können. Die erste und einzige Stadt, die dann die theoretischen Ansätze des Kommunismus als in die Realität umgesetzte Idee bis ins letzte Detail beherzigt und lebt, ist Tschewengur. Die Besitzenden werden gnadenlos getötet und vertrieben, den Armen – genannt die „Übrigen“ - die leer stehenden Häuser gegeben. Alle sind gleich, alles gehört allen, ein guter Anfang, doch die Menschen merken schnell, dass der Kommunismus gar nicht so einfach ist, sich weder einfach finden (- Wo suchst du ihn denn, Genosse Kopjonkin, wenn du ihn in dir bewahrst? In Tschewengur behindert nichts den Kommunismus, darum entsteht er von selbst.-) noch ausführen lässt, dass die allgemeine Gerechtigkeit für alles und jeden erstaunlich unnötige Handlungen und Gespräche nach sich zieht. Das muss dann auch notgedrungen ins Chaos führen. Platonow hat mit diesem Roman einen ehrlichen Versuch gestartet, den Anfang einer kommunistischen Gesellschaft nachzuzeichnen. Es geht ihm nicht so sehr darum, zu zeigen, wie gefährlich sich die Revolution in all ihrer Gewalt auswirkte, sondern eher darum, wie die kommunistische Idee auf die Menschen in ihren Hoffnungen, echte Gefühlen wirkt, wie sie sich gestalten könnte, selbst bei denkfaulen oder eher naiven Menschen, die den Kommunismus als ein Konstrukt verwenden, ohne zu verstehen, geschweige denn wissen, was daraus zu machen ist. Gerade die scheint Platanow in Frage zu stellen.
„Da hat ein Mann geschrieben und geschrieben, dachte er mitleidig, aber wir haben alles gemacht und erst hinterher gelesen – da hätte er gar nicht erst zu schreiben brauchen.“
Marx’ Theorien sind kompliziert verfasst und von den wenigsten Menschen komplett gelesen. Die Idee wurde gegriffen und dann von machthungrigen Menschen benutzt, um ein Volk zu spalten und schließlich in das Chaos mörderischer Entwicklungen zu führen. Dennoch bildet Marx' Kapital die Grundlage von allem.
Das Wesentliche aus dem Werk gegriffen, verwandelte sich in den Händen der Revolutionäre in einen Massenkonflikt. Der einzelne Mensch mag verstehen, die Masse folgt und handelt nie selbstständig. Sie reagiert, empört sich, erfasst Ideen als Konstrukt oder nur in einer Art Grundtendenz. Sie lässt sich mitreißen, notfalls auch gewaltsam. Sie durchdenkt nicht, sondern wünscht lediglich eine schnelle Veränderung, die "lichte Zukunft", für die auch gemordet werden darf. Das machten sich einige zu nutzen, andere setzten auf diesen Traum ihre ganze Hoffnung, selbst dann noch, als die Ereignisse sich offensichtlich ins Negative verkehrten. Das ist mit ein Grund, weshalb auch nach der Revolution noch an der Idee festgehalten wurde, die so offensichtlich gescheitert ist.
Ein kompliziertes Werk, auf den bäuerlichen Russen angewendet, spendet bei den Menschen wenig Trost, sondern nur Chaos, Leid, Tod und danach ewige Langweile. Unter all dem liegt das Wesen der Enttäuschung.
„Den Kommunismus will er. Er glaubt das ganze Volk zu sein.“
Da wird „der Übrige“ (ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich nicht um einen Menschen der Zukunft oder einen vorbildlich dem Kommunismus verbundenen Menschen handelt, sondern um eine Art Rest, der irgendwo auf weiter Steppe aus seinem eigenen Unglück zusammengesucht und nach Tschewengur verschleppt wurde) in ein ihm fremdes Haus gesetzt, für das ein anderer (einer dieser „Lumpen“) getötet oder unter Androhung von Tod vertrieben wurde. Es bleibt am Ende nur ein Platz-Schaffen für den Kommunismus als reine Fläche, während der Weg zum Sozialismus nicht mehr notwendig ist, weil man längst – so die Meinung der Tschewengurer – dort angekommen ist. Nun sitzt dieser dort herum, schirmt sich gegen die Realität ab und weiß nichts mit sich anzufangen. Eine ziemlich groteske, von Platonow überspitzt dargestellte Situation.
Die Sonne wird zur kommunistischen Arbeitskraft, ebenso der Wind und die Natur, die sich auf den nicht bestellten Feldern (denn keiner darf eben einfach arbeiten) selbst zum Wachstum entschließt, wenn man ein bisschen Glück hat. Auch darf niemand in dieser Stadt so einfach wegsterben, da der Kommunismus schließlich wirken sollte, keiner gegen seinen Willen zum „Tod gezwungen“ sein dürfte (theoretisch gesehen) und sich damit jeder gleichzeitig dem Kommunismus entzieht, sobald er auf diese Weise die Stadt und das Leben verlässt, und sei es auch tatsächlich nur, um zu sterben Die ganze Stadt wird aus den Wurzeln gerissen, die Häuser verschoben, damit nichts mehr an die Bourgeoisie erinnert und die Menschen im Sinne der Brüderlichkeit näher beieinander sein können, was sie dann freilich nicht so gut zu nutzen verstehen, denn jeder langweilt sich für sich allein, bis sie endlich eine Lösung finden, wieder an verschiedenen Dingen zu arbeiten beginnen (denn Arbeit für sich ist schließlich Unterdrückung), ohne dass diese dann zum Nutzen verkommt, ganz einfach, weil jeder seine Arbeit als ein Geschenk für einen anderen ansieht und somit auch nicht in seine eigene Tasche wirtschaftet. Das kann von „Ich koche Kartoffeln, aber nicht für mich, sondern für den Genossen so und so“ ausarten in „Ich muss die Stadt erobern, damit es dem Genossen so und so gefällt“. Und schon wieder zeigt sich der Teufelskreis. Deutlich wird der Mensch in seiner eigentlichen Individualität sichtbar. Es zeigt sich darunter auch, wie schwierig es ist, keinen Besitz zu haben, alles herzugeben (vor allen Dingen all das, was zuvor anderen Menschen gehört hat). Da will der eine (Kopjonkin) sein Pferd nicht teilen, der nächste die Stadt als seinen Besitz verbuchen, indem er sie – im Sinne des Kommunismus – nicht für sich will, sondern seiner Lebensgefährtin schenken möchte, um dann mit ihr darin zu leben. Andere geben alles und versuchen Lösungen zu finden, um die Gleichheit und Freiheit in aller Konsequenz zu leben und benötigen einige Erklärungen, um sich ihr Tun zurechtzureden, was hin und wieder tatsächlich gelingt. Man erfasst bald, wie geduldig sich der Mensch jeden Schritt theoretisch zurechtlegt – für mich ein platonow’scher Versuch, die Schwierigkeiten darzustellen, die Theorien des „Kapitals“ bis auf das kleinste Detail auf das Leben anzuwenden. Grundsätzlich aber verblendet diese innige Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Menschen, die wahre Hoffnung dahinter artet ins Chaos aus. Auch das Ende wirkt auf mich nicht nur als eine Begegnung zwischen dem kleinen Tschewengur mit der großen, fremden, äußeren Welt (die perfekt organisierte Truppe, die unsichtbar kommandiert wird), sondern wie ein bösartiger Untergang in der Verteidigung einer nicht lebbaren, illusorischen Idee. Was natürlich bewegend ist, ist dieses Fast-Gelingen von mehr oder weniger sympathischen Menschen, die sich miteinander im Sinne der Menschlichkeit verbinden, und der danach, durch äußere Einflüsse blutige Zusammensturz (der auf mich so übertrieben wirkte, dass er mir als eine Metapher für den Untergang der sozialistischen Idee erschien, obwohl dahinter die wirkliche Gewalt des „siegreichen staatlich-bürokratischen repressiven Mechanismus“ steht.) Gleichzeitig „gewinnt“ nicht das Gute und Unschuldige, sondern die Gier.
Zuvor erkannte der „Berichterstatter“ Serbinow (auch ein Alter Ego von Platonow, in dem dessen Depression zu erkennen ist) in Moskau:
- Irgendetwas keimte schon auf den trostlosen Feldern des halbvergessenen Russlands: Die Menschen, die in ihrer eigenen Wirtschaft ungern den Boden für Roggenbrot gepflügt hatten, pflanzten unter geduldigem Leiden den Garten der Geschichte für die Ewigkeit und für ihre Unzertrennlichkeit in der Zukunft. Aber Gärtner haben, ebenso wie Maler und Sänger, keinen beständigen nützlichen Verstand, ihr schwaches Herz wallt plötzlich auf: Aus Zweifel rissen sie die kaum erblühten Pflanzen aus und bestellten den Boden mit den niederen Gräsern des Bürokratismus; ein Garten erfordert Fürsorge und langes Warten auf die Früchte, die Gräser aber reifen im Nu, und für ihr Gedeihen muss man weder arbeiten noch die Seele für Geduld verausgaben. Und nachdem der Garten der Revolution niedergerissen war, wurden seine Wiesen den durchgängigen selbstwachsenden Gräsern überlassen, damit sich alle ohne die Qual der Arbeit ernähren konnten. Tatsächlich, Serbinow hatte gesehen, wie wenig die Menschen arbeiteten, weil die Gräser alle auch so ernährten. Und so wir des lange gehen, bis die Gärtner das ganze Erdreich aufgezehrt haben und die Menschen auf Lehm und Stein sitzen bleiben oder bis die ausgeruhten Gärtner erneut einen kühlen Garten auf der verkümmerten, vom menschenlosen Wind ausgedörrten Erde anlegen.
Nicht nur das Scheitern wird deutlich, die Auswirkung der Idee in einer „menschenfressenden Welt“, sondern gleichzeitig die damalige Krise der Getreidewirtschaft und die Abgrenzung Stalins von den Lenin’schen Idealen. Der Schriftsteller Fasil Iskander sagte:
- "Die Bolschewiki – sowohl jene, die Marx gut kannten, als auch jene, die ihn nur oberflächlich kannten, glaubten an ihn mit gleichem Grimm wie die ersten Christen an Christus. Und wie die ersten Christen hielten sie alle übrigen für so etwas wie Barbaren, für Zurückgebliebene, für Menschen zweiter Sorte.“
Dieser Ausspruch passt tatsächlich ganz hervorragend auf die groteske Welt der Tschewengurer, warum all das von vorne herein letztendlich scheitern musste. Man muss sich dieses ganze Spektakel ganz einfach auf einer mächtigen Fläche vorstellen, das Sinnbild der ewigen russischen Weiten. Das ist auch hin und wieder die Eigenart dieses Buches oder vielleicht auch die meine als Leser (denn, wie in diesem Roman erfahren, gibt es schließlich keine langweiligen und sinnlosen Bücher, sondern nur Leser, die nicht genug nach dem Sinn des Lebens suchen. Platonow zeigt so viele Menschen, die dort verstreut leben, und konnte so gleichzeitig seine eigenen Erfahrungen von langen Märschen durch die einsamen Steppen verarbeiten (vergleichbar mit dem Ritt eines Don Quichottes). Oftmals schichtet er eine Situation über die nächste, manchmal fast übergangslos, das der Leser an einigen Stellen mit der eigenen Trägheit kämpft.
Trotzdem lässt sich kaum sagen, dass es ein langweiliges oder gar schlechtes Buch ist. Die Bilder dazwischen, die Überlegungen, der Versuch, die Idee als eine in eine fiktive Welt versetzt weitergedachte Lösung zu präsentieren, ist sehr gelungen. Wunderschön sind und bleiben auch die Menschen in ihrer Naivität und in ihren Hoffnungen, die letztendlich die große Seele des Romans verkörpern.
- Weißt du, früher, da haben die Menschen gelesen und geschrieben, aber gelebt – kein Stück, sie haben bloß für andere Menschen nach Wegen gesucht.
(c) Annelie Jagenholz
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