Literatur im Samisdat



Teil 1



Unter der Herrschaft der Ideen hört der Mensch auf, von Ideen im eigentlichen Sinne zu leben. Er lebt von Ideenkomplexen - von Instinkten, die in einer spezifischen Weise durch den permanenten ideologischen Druck in ihm herangezüchtet werden.

(Dimitrij Nelidow)

 

Nach Valerij Tarsis und seinem Werk „Botschaft aus dem Irrenhaus“ möchte ich gerne weitere Werke benennen und näher betrachten, die im Samisdat verbreitet wurden, im Ausland veröffentlicht, in der Sowjetunion lange verboten waren und den Verfassern der Schriften viele Unannehmlichkeiten und Leid, Bestrafung, Lager oder Verbannung eingebracht haben. Andere (wie z. B. Wassili Grossman) verloren das Leben, bevor ihre Werke das Licht der Öffentlichkeit erblickten.


Während Tschechow sich noch bei seinem Verleger wegen herausgestrichenen Sätzen in einigen seiner Erzählungen beklagte, da sie zu düster seien, die Zensur als unerträglich empfunden wurde, wandelte sich das Blatt schnell.
Die Zensur selbst war noch nicht einmal das eigentliche Problem. Sie wurde 1917 nach der Februarrevolution sogar ganz und gar abgeschafft, erst durch die Bolschewiki wieder eingeführt und das auch nicht nach heutigem Verständnis, was Zensur ist. Tatsächlich war der Begriff „Zensur“ in der Sowjetunion völlig fehl am Platz, denn sie existierte nicht. Es gab nichts, was der Schriftsteller nicht schreiben durfte, sondern nur das, was er schreiben sollte. Dieser Rahmen war explizit vorgegeben, so dass Schriftsteller gar nicht in die Bredouille kamen, dass etwas in ihren Werken gestrichen werden musste. Darum war die öffentlich gestattete Literatur auch dermaßen bewegungsarm und ohne Kreativität, fade und monoton, blieb sozialistischer Realismus mit vorgeschriebener Richtung.
Der Schriftsteller wurde so zum gehorsamen Staatsdiener und Regimebefürworter.

Im Samisdat kursierten viele Werke, die heimlich abgeschrieben, abgetippt, aus dem Gedächtnis zitiert und verbreitet wurden, immer auf die Gefahr hin, selbst verhaftet zu werden. In ihnen war vor allen Dingen die Ablehnung allen Sowjetischen und Banalen herauszuhören. Das Russische rückte wieder neu in den Vordergrund, "Leningrad" wurde wieder durch "Petrograd" ersetzt. Es war eine neue Form des Protestes, der sich durchsetzte, der sich auch in ästhetischer Suche äußerte. Die Manuskripte wurden von Hand zu Hand gereicht, manchmal hatte eine Familie nur eine Nacht Zeit, um es zu lesen und dann weiterzugeben.
Man spricht von russischer Untergrundliteratur, wobei der Wert der Literatur, allgemein betrachtet, eigentlich nicht vom Verbot oder der offiziell gestatteten Veröffentlichung abhängt, Russland allerdings in seiner Qualität an Literatur dennoch eine Ausnahme bildet. Es gibt und gab dort zwei verschiedene antagonistische Kulturen: die offizielle und nichtoffizielle, die erste (erlaubte) und die „zweite Literatur“ (Andrej Sinjawskij prägte diesen Begriff.)

Der eigentliche Samisdat entstand nach Stalins Tod, da von da an der „Personenkult“ abgelehnt wurde. Mit Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“ brach eine Lawine los und bahnte sich einen Weg an nicht offiziellen Werken und Berichten. Hier kann auch noch einmal
in fiktive Werke unterschieden werden, die also Kritik durch die Romanform üben (darunter bekannte  Werke wie die der Brüder Strugazki, die sich dem Science Fiction Genre bedienten, Wenedikt Jerofejews herrliches Poem "Die Reise nach Petuschki", der dem Regime durch den Trunk den Rücken kehrt und dann daran zu Grunde geht, oder die Romane von Maximow, z. B. "Quarantäne" oder "Sieben Tage der Schöpfung"), und in autobiografische Werke, die Erfahrungen, Tagebücher, heimlich geschmuggelte Briefe aus Lagern, Erzählungen über das Erlebte sind.
Letztere machen den Anfang, werden von mir näher betrachtet.

Eine wichtige und schöne Ausgabe vieler solcher Werke findet sich beim Ullstein Verlag: Ullstein – Kontinent. Hier sollen die internationalen Rechte osteuropäischer Schriftsteller wahrgenommen werden. Emigranten, Künstler im Exil und Betroffene kommen zu Wort, darunter z. B. auch (über Russland hinaus) Sandor Kopacsi mit seinem erschütternden Buch „Die ungarische Tragödie. Wie der Aufstand von 1956 liquidiert wurde.“


Folgende Werke sollen näher betrachtet werden:


Wladimir Gussarow „Mein Vater der Bonze“ 


Viktor Nekrassow „Zu beiden Seiten der Mauer“

 

und „Ansichten und etwas mehr“


Michail J. Makarenko „Aus meinem Leben“


Milovan Djilas „Der Wolf in der Falle“


Wladimir Bukowski „Wind vor dem Eisgang“


Anatonj Gladilin „Probe am Freitag“


Wladimir Woinowitsch „Iwankiade“


Michael Nariza „Das ungesungene Lied“


Andrej Amalrik "Unfreiwillige Reise nach Sibirien"


Eduard Kusnezow "Lagertagebuch"


Wladimir Maramsin "Der Natschalnik"


Anatoli Martschenko "Meine Aussagen"


Wladimir Maximow "Eine Arche für die nicht Geladenen"


Weitere werden folgen (so z. B. eingehender die Werke von Sinjawskij (Pseudonym: Abram Terz, der für seine fantastische Erzählung „Ljubimow“ sechs Jahre Lager bekam)).

 


Natürlich umfasste der Samisdat nicht nur inoffizielle russische Literatur, sondern auch ausländische Werke wie die von Koestler (Sonnenfinsternis), Orwell (der sich sicherlich gewundert hätte, wäre ihm bekannt geworden, dass seine Werke in der Sowjetunion sogar noch im Jahr 1984 per Hand abgeschrieben wurden und Bestrafung nach sich zogen), des weiteren Camus, Sartre, Kafka, Büchner und andere. Emigranten wie Platonow, Babel, Boris Pilnjak, Soschtschenko, Mandelstam oder Bulgakow waren Stimmen, deren Lebensschicksale sich tragisch mit dem Schicksal ihrer Werke verband. Sie erlebten die Veröffentlichung ihrer Bücher nicht mehr.

Andere wieder verstummten wie Jurij Olescha oder schrieben für die Schublade.


Nach dem Tod Stalins wurden, neben dem bekannten Werk "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowtisch", auch andere Berichte aus der Verbannung und dem Lageralltag publiziert. Sie sollten das neue Verständnis demonstrieren, eine neue Freiheit gerade auch in dieser Hinsicht verkörpern. Allerdings war in keinem einzigen Werk die Rede von den tatsächlichen Zuständen und Bedingungen enthalten. Dagegen wurde auf die Irrtümer Stalins verwiesen, die Richtigkeit des Marxismus-Leninismus gepredigt, die Weisheit der Partei, dem Kommunismus weiter gehuldigt. Die Verfasser der vereinzelten Werke sprachen davon, keinerlei Groll gegen das Regime zu hegen und sahen die Erfahrungen des Lagers als Reifeprozess (ganz im Sinne Dostojewskis).
Intensive und kritische Berichte über die Lager und Gulags gibt es neben Solschenizyn noch von Schalamow, Jewgenija Ginsburg ("Marschroute des Lebens" und "Gratwanderung"), Grossman (besonders tief bewegend und emotional in „Alles fließt“,), Martschenko, Kusnezow, Lew Kopelew,
darüber hinaus betrachtet Wassili Bykau die Entkulakisierung in seinem Roman „Zeichen des Unheils“. Die andere Seite, die Warteschlangen und falschen Hoffnungen, die Angst in der Bevölkerung und vor allen Dingen die Blindheit gegenüber den Verhaftungen und ihrer Ungerechtigkeit, finden sich großartig in Lydia Tschukowskajas Werken „Ein leeres Haus“ (bzw. Sofia Petrowna) oder „Untertauchen“ wieder. Tschukowskajas Blick auf diese Zeit zeichnet sich auch gerade darum aus, weil sie später davon absah, ihr Werk noch einmal zu überarbeiten. Es ist die Stimme aus der damaligen Zeit, authentisch, nicht rekapitulierend, wie es andere Werke taten. Es sind die getreuen Befürchtungen, Gedanken, Ansichten dieser schweren Jahre. Ein weiteres herausrragendes Werk ist die Biografie von Nadeschda Mandelstam "Das Jahrhundert der Wölfe".




Teil 2

 

 

1.

 

 Werke im Samisdat standen der öffentlich gestatteten Literatur nicht nur in ihrem Verbot und   ihrer Kritik (oder was alles schon als kritisch galt) gegenüber, sondern auch in ihrer  Experimentierfreude (so wie die Gruppe OBERIU, die dreißig Jahre vor Beckett und Ionesco  das absurde Theater erfand, darunter solche Größen wie Daniil Charms oder Andrej Amalrik), der Samisdat diente dem Lösen von erlaubten Stilmustern, setzte Spracherneuerungen, spielte mit surrealen Elementen und ersetzte die Wirklichkeit durch Fantastisches, Monströses, Unglaubliches (wie Mamlejew, der behauptete, im Nichts seien alle gleich, das Fehlen der Harmonie führe zur Krankhaftigkeit, zur Monstrosität, daher sei die Disharmonie und Zwietracht ein Kennzeichen des Lebens. Seine Werke setzen sich mit der Wirklichkeit und dem Menschen auseinander, indem er sich in ihnen transzendenten Ebenen jenseits des Menschenmodells bedient. Einer Welt voller Denunziation, Kontrolle, Leid, Verhaftung und Tod muss die Entfremdung in der Literatur entgegen gesetzt werden.) Auch die Werke von Platonow (der großen Einfluss auf junge Schriftsteller hatte und sich durch seine Umgangssprache und Kenntnis des Arbeiteralltags auszeichnete. Seine Figuren waren niemals individuell, sondern vielmehr eine psychische Grundstimmung, weniger konkreter Charakter als der Typus bestimmter Menschen) oder die des Sprachgenies Andrej Bitow sind wichtige Literaturschöpfungen.

  Die öffentlich gestattete Literatur durfte Themen wie Tod, Rausch, Sexualität oder die    Marktlage und Verteuerung der Produkte nicht erwähnen. Der Tod war ein Akt gegen den  Staat, man entzog sich seiner bürgerlichen sozialistischen Pflicht, wie es überspitzt in so manchen Werken heißt. Platonow schrieb in "Die Baugrube": Der Mensch würde nicht nur in Angst und Schrecken leben, sondern sogar Angst haben zu sterben, "weil er fürchtet, man werde ihm seinen Tod als konterrevolutionären Akt auslegen". Sex war ein Tabuthema, die Auseinandersetzung in der Literatur mit Sex, Drogen, Verfall wurde als westlicher Einfluss ausgelegt und war daher verboten. Ebenso durfte das Problem des Alkoholismus nicht vertieft werden (daher war eben auch Wenedikt Jerofejews Poem ein Werk im Samisdat.)

  Kein Wunder, dass gerade die Satire aus solchen Bedingungen heraushalf und einen gewissen Trost ermöglichte. Sowohl in Witzen über Lenin, Stalin, Chruschtschow, den Kommunismus oder über Marx wurde das sowjetische Leben verarbeitet, als auch in Romanen und Erzählungen.

  • "Jedwede Tyrannei hat noch stets die Satire auf den Plan gerufen - als Antwort der denkenden und ihrer inneren Würde noch nicht beraubten Menschen auf die nackte Gewalt."


(Jurij Malzew)



2.


Wenn die Zensur auch im herkömmlichen Sinne „nicht existierte“, war ein Werk immer bereits zweimal die Zensur durchlaufen, wenn es bereit für die Veröffentlichung war. Zunächst ging es durch die Selbstzensur, dann durch die Vorzensur der Redakteure, um in der endgültigen Herausgabe noch einmal überflogen und gestrichen zu werden. Die Selbstzensur ist ein sehr wichtiges Phänomen, zumal die meisten Schriftsteller im Kreislauf der sowjetischen Entwicklung agierten, von diesem System erzogen wurden und auch fest verwurzelte Gewohnheiten und Denkklischees vertraten, von denen sie nicht wussten, dass sie Klischees waren. Hinzu kam die Furcht, zu wissen, dass bestimmte Aussagen nicht nur die Veröffentlichung verhinderten, sondern auch Bestrafung mit sich brachten.

Selbst bei den Werken im Samisdat war Selbstzensur absichtlich und unabsichtlich unumgänglich.

Schon während des Schreibprozesses und dann beim Weitereichen des „fragwürdigen“ Manuskripts musste sich der Verfasser damit auseinandersetzen, mit welchem Strafmaß er zu rechnen hatte oder was passieren konnte, wenn das Manuskript gefunden wurde. Er konnte dabei auch nicht nur die ihn betreffenden Konsequenzen in Betracht ziehen, sondern musste auch an all die Menschen denken, die sein Manuskript für ihn bewahrten. Dass der Prozess des Schreibens daher für die meisten entweder eine Art Erlösung war, sich von den Ängsten zu befreien und dennoch auszusprechen, was gesagt werden muss, oder ein Akt der Unfreiheit, bei dem ständig abgewogen werden musste, was gesagt oder nicht gesagt werden darf, was vielleicht dann doch besser unausgesprochen blieb oder doch wenigstens abzumildern sei, muss nicht extra betont werden.
Schreiben war ein Kampf, sowohl für die Menschenrechte, für das Gehörtwerden, für das Aufdecken der Probleme, ein Kampf gegen die Lüge und die Propagandamaschine, auch eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Möglichkeiten, samt Überwindung oder Ablehnung. Schreiben erforderte einen unglaublichen Mut, war gleichzusetzen mit dem Kämpfer auf einem Schlachtfeld, der sein Leben setzte, denn auch hier ging es um Existenzen und Leben. Wie viele wagen schon, etwas anzusprechen, wenn sie genau wissen, welche Konsequenzen daraus entstehen, welchen Gefahren sie sich und andere aussetzen. Dass dennoch der Mut nie versackte, immer neue Werke im Samisdat kreisten und ihren künstlerischen und literarischen Wert verbesserten, aus dem einfachen Aufdecken der Umstände und Tatsachen, der Kritik und den wichtigen autobiografischen Berichten auch in Experimente und Wagnisse fanden, verdient meine ganze Bewunderung.


 

(...bald mehr!)

 

 

 

 


(c) Annelie Jagenholz