B L O G

oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Artikel in der Kategorie Tag-Gedanken

  • Grauen Transzendental

    Mittwoch, 10. November 2021 - in Tag-Gedanken

    Ich hatte vergessen, wie brutal die Szene in Jerofejews „Reise nach Petuschki“ wirkt, als er den Blick der Engel beschreibt, der an Kinder erinnert, die einem Mann, der von einem Zug überfahren und dem dabei der Unterkörper zerquetscht und zerstückelt wird, eine Zigarette zwischen die toten Lippen schieben und sich über den Anblick kaputtlachen. Diese Szene drückt alles aus, was das Leben an Grausamkeit parat hält, neben Krankheit, Pandemie oder Krieg.

     

  • Sarg im Grab

    Montag, 6. März 2017 - in Tag-Gedanken

    Kaum geschlafen. Um sechs Uhr morgens klingelte der Wecker. Alles war noch dunkel. Das Leben der anderen … mir selbst erschien es wie ein surrealer Film.

    Der Friedhof lag unter Wolken, jedoch ohne Regenschauer. Die Düsternis entsprach unserer Stimmung. Das Grab war bereits zur Hälfte ausgehoben.  Der Sarg war zu sehen, die innere Verkleidung. Eine nackte Grube ohne Beständigkeit.

     

    In Griechenland werden die Toten nicht verbrannt. Die Grabstätte ist für den Lebendigen, nicht für den Toten. Am Ende hat man nicht einmal das. Nach drei Jahren muss das Grab geräumt werden, um für den nächsten Toten Platz zu schaffen. Die Knochen werden in die Familiengruft oder in ein Massengrab geworfen.

     

    Viele Gräber wurden an diesem Tag ausgehoben, teilweise waren sie bereits leer. Wir hatten auf den Priester, dann auf den Gutachter zu warten, der abschätzen sollte, ob die Knochen für eine Umbettung bereits geeignet sind. Die Auflösung und der Zersetzungsprozess des toten Körpers hängen von vielen Faktoren ab. Zuvor wurde die „Schuld“ beglichen. Alles hat seinen Preis.

     

    Das Umbetten von Knochen – ein gleichzeitig träger und grausamer Akt gegen die Totenruhe, gerechtfertigt durch die Worte des Priesters, der das Gebet spricht und den Wein verschüttet. Nicht weit in der Ferne erblickte ich andere Angehörige an einem Grab und einen Menschen im Grab, der schaufelte. Danach Tränen, auch bei den Männern. Der Friedhofangestellte trug im Sack die schwer wiegenden Knochen davon. Er lief gebückt und mir lief ein Schauder über den Rücken.

     

    Auch bei uns kam der Begutachter, schaufelte die Erde und Kleidungsreste in eine Mülltonne. Ich stand mit dem Rücken zum Grab, wollte mir den Anblick ersparen. Dieser schrecklich dumpfe Klang beim Auftreffen der Masse auf dem Boden der Tonne… im Geist sah ich den bildhaften Flug von Leichenresten, zuckte bei jedem Aufprall zusammen. Im Geist sah ich vieles, das mir den Kopf entleerte …

     

    Und dann die traurige Mitteilung … es geht noch nicht. Drei Jahre waren nicht ausreichend. Vielleicht das kalte Wetter, die Medikamente … man weiß es nicht. An ihr war eigentlich kaum noch etwas dran. Abgemagert, so dass selbst die nahe Verwandtschaft sie nicht erkannte, dass sie auf dem Totenbett gesünder und frischer wirkte als im Krankenbett …

     

    Alles wird wieder verscharrt, um ein Jahr verlängert, bis sie ins Familiengrab darf. Wer will schließlich die Knochen abschaben lassen … Ein Angebot, das gemacht wurde und auch Geld kostet. Nein, wirklich nicht. Drei Jahre sind einfach zu wenig. Kein Wunder, das auf allen Gräbern im Sand Menschenknochen, Wirbel, Glieder verteilt liegen. Erinnern an tierisches Gebein … ein zu hastig verzehrtes Hühnchen. Der Kadaver der Abstraktion.

    Ich kann keine Verbindung zum Menschen herstellen, obwohl ich genau weiß, dass es Menschenknochen und Reste sind. Auch ihre Knochen sind nicht SIE. Ich kann auch keine Verbindung zu mir oder den Tod eines Lebenden herstellen. Und will es auch gar nicht…

     

    Ich hielt Ausschau nach dem weißen Schmetterling, den Begleiter der Seele. Es ist zu früh in der Jahreszeit. Dennoch wurde ich schnell beruhigt. Eine Taube setzte sich auf das Grab nebenan. Sie hatte weißes Gefieder.

     

    Der Tod riecht chemisch. Der Zersetzungsgeruch bleibt haften … am Körper, im Haar, in den Kleidern, in der Fantasie. Ist das der Totengeruch, der in Büchern beschrieben wird? Den ich auch am Sarg wahrnahm, nicht sicher, ob er von den stark riechenden Blumen kam?

  • Wenn das Wort zu klein ist ...

    Mittwoch, 25. November 2015 - in Tag-Gedanken

    Es ist häufig so, dass vieles banal wirkt, sobald es in Worte gefasst wird, weil es schon tausendmal gesagt wurde. Aber du hast es selbst erfahren und willst es teilen, weil es dich bewegt und verändert hat. Und dann stellst du fest, dass das Wort einfach nicht genügt, dieses intensive Gefühl zu verdeutlichen, völlig gleichgültig, wie gut du bist und wie scharf- und tiefsinnig du Worte für alles findest, selbst wenn das Ganze wirklich geometrisch genau beschrieben ist und nur das eigene Erlebnis spiegelt. Alles, was dann in Worten ausgeleert werden konnte, ist das, was schon tausendmal gesagt wurde. (Wie auch dieser Gedanke.)