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oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Camus und die Freiheit

Sonntag, 21. Mai 2017 - in Literatur

Gedanken zu:

 

Albert Camus

"Der glückliche Tod"

 

„Zum Leben braucht man Zeit. Wie jedes Kunstwerk fordert es von einem, das man darüber nachdenkt.“

 

 

In seinen Tagebüchern hielt Camus häufiger fest, wie lange und intensiv er über das Leben, den Sinn, die Armut, den Reichtum und das Glück in seiner Jugend nachgedacht hat. Er, der aus armen Verhältnissen stammte, kam zu der Erkenntnis, dass nur durch den Besitz von Geld auch Freiheit möglich ist. Diese Auffassung vertrat er zumindest in jungen Jahren, als er noch weit davon entfernt war, durch Schreiben gut zu verdienen. Diese Auffassung vertritt auch sein Protagonist Mersault in "Der glückliche Tod", eine Art Skizze für den späteren Meursault aus "Der Fremde".

 

Die Meinung mögen manche teilen, an sich ist sie absurd (und natürlich muss dieses letzte Wort in Verbindung mit Camus doch mindestens einmal in einer solchen Rezension auftauchen). Glück und Freiheit hängen nicht von äußerlichen Bedingungen ab, sondern sind eine innere Einstellung zum Leben und natürlich auch an eine Definition gebunden.

Freiheit in einer durchorganisierten Gesellschaft ist dann möglich, wenn man lernt, in den gegebenen Grenzen frei zu sein oder wenn man bereit ist, auf vieles zu verzichten. Sich frei fühlen - das kann ein Mensch für einen Augenblick oder durch das Umsetzen eines ihn erfüllenden Lebens.

 

So sehr im Roman auch betont wird, dass nur durch Reichtum Zeit genug bleibt, das Glück und Leben richtig zu erfassen, so sehr wird auch vermittelt, dass es tatsächlich nur wenig zufriedene reiche Menschen gibt. Armut und Reichtum sind beide gleich fordernd mit unterschiedlichen Lebensbedingungen. Freiheit aber ist dann doch etwas ganz anderes.

 

Camus teilt die Ansicht mit vielen Menschen, dass Geld „die Welt“ öffnet. Er meint aber eher Unabhängigkeit als tatsächlich Freiheit, eine Deutung, die bis heute philosophisch wegdiskutiert wird, ob nun abhängig vom Körper, abhängig vom Staat, von Systemen, Glaube, Job, Familie … usw. Freiheit aber, so wie ich sie verstehe, ist der Schritt, der sich - selbstbewusst ins Leben gesetzt - nach eigenen Regeln als Fußabdruck formt, ein Schritt, der den Weg erst festlegt, der mit jedem weiteren Schritt entsteht. Freiheit ist als Erkenntnis möglich, in den vom Menschen selbst akzeptierten Grenzen, die durch die Akzeptanz dann keine wirklichen Begrenzungen mehr sind.

 

Wieviele Bedingungen im Leben im Grunde nur Illusion sind, haben nicht nur fernöstliche Schriften und die ZEN-Kultur vermittelt. Das Streben an sich schafft schon die eigenen Gitterstäbe, sich in seinen Erwartungen und Hoffnungen auf das "Mehr im Leben" in gleichen Maßen zu verkleinern. Wir selbst formen die Konturen dessen, was wir sehen und sehen wollen. Freiheit beginnt schon mit dem Loslösen von selbst auferlegten Ketten. Was uns wiederum die Natur an Unfreiheit diktiert, ist letztendlich wenig und hindert uns nicht daran, uns frei fühlen zu können. Im Gegenteil ermöglicht die Natur genau diese menschliche Gabe.

Hier trifft das für mich schönste und wahre Zitat aus dem Buch den Kern aller Dinge:

„Wir haben keine Zeit, wir selber zu sein. Wir haben einzig Zeit, glücklich zu sein.“

 

Bei Epiktet im "Handbuch zur Moral" stehen die bedeutenden Worte:

"Wer frei sein will, muss nichts begehren und nichts fürchten, was in eines anderen Macht steht."

Der Weg zur Freiheit führt, laut Epiktet, über die Verachtung der Dinge, die wir nicht in der Hand haben und die uns darum auch nicht tangieren sollten. Der Stoiker nimmt hin, was er nicht lenken kann, ohne zu murren.

Und auf dem Grabstein von Kazantzakis findet man ähnliche Worte:

"Δεν ελπίζω τίποτα. Δε φοβούμαι τίποτα. Είμαι λέφτερος.“

(Zu Deutsch: "Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.“)

 

Das sind die Grundtendenzen einer Ahnung dessen, was Freiheit ist. Und ich glaube nicht, dass so eine Freiheit erst im Tod möglich ist, selbst wenn Furcht und Hoffnung nie ganz verschwinden.

Hört man auf, zu erwarten, regeln sich die Dinge von alleine. Weiß man, dass alles, was uns unglücklich macht auch gleichzeitig zu einer Selbsterkenntnis und einer neuen Stärke verhilft, nähert man sich dem, was Freiheit ist.

 

Freiheit ist daher nicht nur eine Theorie. Sie wird innerlich geboren, vielleicht unter Schmerzen, wie in gleicher Weise Camus' Protagonist Mersault erst durch Fieber das findet, was er vorher vergeblich gesucht hat.

Freiheit, Glück – das sind nicht nur Begriffe, sondern eine Erkenntnis, die Zeit benötigt. Und Geld hat im Grunde wenig damit zu tun.

 

Sicherlich war ein Diogenes trotz dem Leben in der Tonne freier als Alexander der Große, der alles besaß und ihm aus der Sonne gehen sollte. Im Buddhismus gibt es die Geschichte des Königs, der den Bettler in sein Schloss einlädt, um herauszufinden, weshalb er so zufrieden und geachtet ist, dann nicht begreift, was ihn tatsächlich unterscheidet. Der Bettler zeigt ihm, dass er den Luxus genauso wie der König genießt, solange er eingeladen ist, dass aber jederzeit weiterziehen kann, während der König an seinen Reichtum gebunden ist. Auch das ist innere Freiheit, aber noch nicht Glück.

 

Ein Mensch, der um das tägliche Brot ringt, hat wenig Zeit, um über Freiheit, Glück und Leben nachzudenken. Er schuftet oder ringt um die Existenz. Er flucht und krümmt sich im Unglück. Ihm wird nichts geschenkt, da er innerlich im Grunde gar nicht bereit ist, sich einem anderen Leben zu öffnen. Im Roman heißt es:

„Wenn man an guten Tagen dem Leben Vertrauen schenkt, zwingt man es, dem auch zu entsprechen.“

Nur muss das Vertrauen erst einmal aufkommen.

 

Der Stil in diesem Frühwerk ist noch etwas blumiger als der, den man von den späteren Werken Camus‘ gewöhnt ist, wo er gelernt hat, die Sätze zu verkürzen und das Wesentliche zu zeigen, sei es z. B. in Meisterwerken wie „Der Fall“ oder „Die Pest“. Angekreidet wurde ihm auch häufig der unorganisierte Aufbau und viele unzusammenhängende Szenen, die mich allerdings weniger gestört haben.

In „Der glückliche Tod“ zelebriert Camus die Landschaft, die Wärme, das Licht. Er schafft durch Bilder die heimatliche Atmosphäre, die auch den Leser erreicht, selbst wenn die Sätze noch nicht ausgefeilt sind. So erahnt man das funkelnde Meer, die Gerüche, den Staub, das Salz auf der Haut und den Geschmack der Früchte. Man erahnt die durch alles durchschimmernden Möglichkeiten des Lebens.

 

 

Der Roman beginnt mit einem Schuss in den Kopf eines Krüppels, der einen Abschiedsbrief hinterlässt, den er vorsorglich schon viel früher geschrieben hat. Geschossen hat aber nicht er selbst, sondern Patrice Mersault. Der Leser muss für sich klären, inwieweit dieser Tod erwünscht war oder ob Mersault aus Habgier die Entscheidung vorschnell für beide getroffen hat, um an das Kapital des Krüppels zu gelangen. Gelernt hat er von diesem, dass der Mensch ein Recht auf Glück hat und dass er verstehen muss, dass das Streben nach Glück den einzigen wirklichen Wert ausmacht, wofür aber auch ein gesunder Körper notwendig ist.

 

Gerade der vom Leben geprüfte Krüppel Zagreus erkennt zu spät, dass es mehr im Leben gibt als Erfolg und Geld. Er sieht darum umso deutlicher, dass der gesunde und junge Mensch die Einfachheit des Lebens nicht anerkennen will, so auch Mersault mit seinen ewigen Selbstzweifeln und Maskeraden, von denen jede Maske für ihn die echtere und bessere ist, sobald sie seiner Stimmung entspricht. Dennoch sind sie Masken, die fallen müssen.

Weit entfernt davon, einen Menschen zu lieben, macht sich Mersault nach dem Schuss auf die Suche nach dem Glück, da er nun über genügend Geld verfügt. Er durchquert große Städte wie Prag und Wien, um sich selbst zu erkennen, verfolgt von seinem Schuldgefühl und einem Fieber, das ihn häufiger überfällt, bis er schließlich in Algier landet.

 

Was ihn, noch bevor der Schuss erfolgte, am Glück hinderte, so Mersault, war der träge Bürojob, der nicht zuließ, dass er wahrhaft frei sein konnte. Aber „das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit ist nur bei einem Menschen denkbar, der noch von Hoffnung lebt.“

 Mersault kommt dem näher, als er in Algier mit Freunden im „Haus vor der Welt“ lebt und sein Dasein mit einem Scheinjob rechtfertigt, den er von dem Blutgeld aufrechterhält, das er Zagreus abgenommen hat, für den befreienden Akt, dessen Leben ohne Körper ein Ende zu bereiten.

„Ich würde kein Experiment aus meinem Dasein machen. Ich selber würde das Experiment meines Lebens sein…“, sagt sich Mersault. Am Meer, in der brennenden Hitze, zwischen glühenden Körpern und in den glasklaren Sternennächten von Algier erahnt er die Möglichkeiten, die das Leben bereithält. In diesen Textpassagen schimmert auch viel Autobiografisches durch. Und tatsächlich muss der Mensch erst lernen, glücklich zu sein. Das ist eine These, die Camus sehr häufig vertreten hat, wenn auch hier, im Roman, mit gewissen Einschränkungen:

„Nur braucht es, um glücklich zu sein, Zeit. Sehr viel Zeit. Auch Glücklichsein erfordert viel Geduld. Und in fast allen Fällen bringen wir unser Leben damit hin, Geld zu verdienen, während man Geld haben müsste, um Zeit für sich zu gewinnen.“

 

Das, was er mit dem Job erreicht, ist Unabhängigkeit, eine, bei der er nicht erklären muss, was er tut.

„Es genügt tatsächlich, der Welt ein Gesicht vorzuzeigen, das sie verstehen kann.“

 

Nach einer oberflächlichen Heirat mit der egoistischen Bedingung, dass seine Frau Lucienne ihn nur dann aufsuchen soll, wenn er sie benötigt, kauft sich Mersault ein abgelegenes Haus, um sich in der Einsamkeit zu erproben, die ihn erschreckt, dann läutert, bis die ersten Anzeichen seiner Krankheit durchschimmern und ein neuer Weg bevorsteht.

Die Andeutung zuvor, dass der Tod das Leben begleitet, endet in der Vertiefung vom Glück und Willen zum Leben. Denn nur wer alles ausschöpft, wird die Angst vor dem Tod überwinden, weil er nichts mehr zu verlieren hat und auf das Leben als Geschenk zurückblickt. Wer Angst vor dem Tod hat, klammert sich an das, was lebendig ist und an die noch nicht entschiedenen und gelebten Ideen und Handlungen.

Der Tod repräsentiert dann all das, was nicht gelebt wurde, ein Leben, das im Grunde dann auch nicht existiert. Das Nichts geht über in ein Nichts. Es ist schade, wenn der Mensch das alles erst kurz vor seinem Tod begreift. Wer sich dem Leben jede Sekunde bewusst ist, wird auch die für ihn notwendigen Entscheidungen treffen.

 

Die Quintessenz des Romans ist die Einsicht, die Mersault am Ende gewinnt:

„Man wird nicht stark, schwach oder eigenwillig geboren. Man wird stark, man erwirbt einen klaren Blick. Das Schicksal liegt nicht im Menschen, sondern es umgibt ihn.“

Das also, was wir Schicksal nennen, ist das, was wir aus uns machen. Wir sind Schöpfer unserer selbst, und diese Einsicht teile ich dann auch wieder mit dem damals noch jungen Camus.

 

 

(Alle Zitate aus Albert Camus "Der glückliche Tod", Rowohlt Verlag. Rezension: Annelie Jagenholz)