B L O G

oder

die unendlich brodelnde Emotionssuppe

 

von

Annelie Jagenholz

 

Artikel in der Kategorie Literatur

  • Der passive Konsument

    Dienstag, 12. November 2019 - in Literatur

    Gedanken zu William Gaddis

     

    Manchmal packen einen bestimmte Schriftsteller, ohne dass man darauf vorbereitet ist, besonders wenn es um Kunst und den Künstler geht. Mit Gaddis hat man als Leser ja so seine Schwierigkeiten, nicht, weil der Mann nicht schreiben konnte (er ist vor einigen Jahren mit 75 gestorben), sondern weil er die Eigenart hat, Romane zu hinterlassen, die selten unter tausend Seiten lang sind. Das an sich wäre ja nun auch nicht das Problem, wenn nicht seitenlange Dialoge den Stil ausmachen würden.
    Dabei muss ich allerdings sagen, dass diese Art zu schreiben, wirklich fesselnd ist und im experimentellen Bereich fast zukunftsweisend bleibt (Pfeifen wie Foster-Wallace haben das Ganze dann in ihrer Art erweitert (meine Sache ist es nicht, diese riesigen, aufgeblähten Simpsons-Literaturcomics ohne tieferen Sinn. Verspielt ist es trotzdem.)).

    Was einem z. B. in Gaddis Hauptwerk "JR" begegnet, ist auf den ersten Blick ein Chaos an Stimmen und Lärm, das sich dann nach und nach (fast zum Erstaunen des Lesers) ordnet und ihn so am Ball hält. Ich denke, das Werk muss am Stück durchgelesen werden, um überhaupt als Pensum geschafft zu werden, gleiches gilt für "Die Erschaffung der Welt".
    Das aber nur nebenbei, denn beide Romane werde ich ein anderes Mal vorstellen. Mir geht es momentan vielmehr um ein Werk, das Gaddis letzte Hinterlassenschaft ist, ein wunderbar komprimiertes, nur 100 Seiten leichtes Buch, das eine herrliche Abrechnung mit dem Werteverfall der Kunst ist. Es hat mich umgehauen und begeistert, gehört nun zu den Büchern, die ich wieder und wieder lesen werde, auch um zu lachen, denn Gaddis hat einen großartigen Humor.
    Liest man das Buch als erstes, wird nicht nur das Interesse für den Schriftsteller geweckt, der neben Pynchon und anderen als einer der wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren gilt, sondern es ermöglicht auch, bestimmte tiefere Gedanken, die Gaddis wichtig waren und die in anderen seiner Gigantenwerke anklingen, überhaupt zu erkennen. Sein Tiefsinn und die Medien- und Gesellschaftskritik verbergen sich nämlich oftmals unter viel Geschwätz (was durchaus so gewollt ist).

    Sein letztes Werk heißt "Das mechanische Klavier", im Original "Agape Agape". Schon der erste Eindruck, etwa nach drei bis vier Seiten, war schlicht ausgedrückt: STARK!!! Der Leser trifft auf einen Lästerfluss, der sich zu lesen lohnt und der im Grunde auf etwas ganz anderes hinaus will, nämlich auf den Kampf mit der Perfektion, jenes andere Selbst, das der wahre Künstler fürchtet und mit dem er sich ständig vergleicht oder sich ihm unterlegen fühlt, was vielen auch den Verzicht aufs Schreiben oder gar den Tod brachte, während die Welt eine Anpassung, sogar ein Verschwinden fordert und damit „Künstler“ hervorbringt, die keinen Wert mehr auf Tiefe, sondern nur auf Verdienst legen, sei es nun Geld, Ruhm oder Anerkennung (wovor ja schon Epikur warnte).

    Das Talent kann kein künstliches Ideal sein oder nachgeahmt werden. Der Versuch wird dennoch unternommen und gelingt teilweise in wahrer Perfektion. Das aber ist für die wahre Kunst gar nicht von Bedeutung. Kunst ist keine Aufgabe, kein Zweck, wie es Platon forderte und den Künstler aus seinem Staat verbannte. Kunst ist ein innerer Ausdruck, der nicht vielen gegeben ist und der dennoch marktschreiend weitergegeben wird.

    Wovon handelt also dieses Buch? Ein Schriftsteller, an Krebs leidend und seines bevorstehenden Todes gewiss, beginnt, sich über die Mechanisierung und Imitation der Kunst und das Computerzeitalter auszulassen. Den Bau heutiger Computer, wo jeder Vierjährige das Lernen verlernt, ebnete das mechanische Klavier, das nicht Musik oder Kunst erzeugte, sondern Töne, die eine Kunst imitierten, ähnlich wie der automatische Webstuhl, der zwar schneller arbeiten konnte, dem Weber jedoch schmerzhaft in den Bauch schlug (so Flaubert in seinen Briefen).
    Erfindungen dieser Art leiteten die Phase der Kunstentwertung ein, behauptet der Erzähler, der zusätzlich mit seinen Schmerzen kämpft. Von da an ging es bergab, und die „verblödete, hirnlose Masse, die sogenannte Öffentlichkeit, sie will es so. Sie will unterhalten werden und macht deshalb aus dem Künstler einen Entertainer oder einen Berufsprominenten…“ . Schriftsteller müssen vertraglich gezwungen vor Publikum lesen, Künstler präsent sein und die Hintern der Galeristen küssen, Musiker eine Show auf der Bühne bieten, usw.

    Was die Menschen verlangen, ist nicht mehr bereichernde Kunst, sondern die Kunst ohne Künstler, auch wenn dieser sichtbar bleibt; ein Prinzip, das verkäuflich und vereinfacht ist. Und mit dem Mechanisieren und schließlich Automatisieren, mit dem Erheben der Kunst auf technische und für alle möglich seiende Ebenen wurde auch der Kunstgenießer und Kunstliebhaber umfunktioniert, ebenso die Masse als Konsument, die nur verschlingt und nicht verköstigt. Daher fragt sich der Schriftsteller auch:
    „Wenn man davon ausgeht, dass uns nur aktive Teilnahme „den Hochgenuss der musikalischen Gefühlswelten“ verschafft, wie die Werbung ganz richtig sagt, wie kann es dann sein, dass wir am Ende der Entwicklung zum passiven Konsumenten wurden?“

    Gaddis bzw. sein Erzähler hüpfen von technologischen Neuerungen über Platon, Dostojewskis Doppelgänger bis zu Thomas Bernhard, Glenn Gould, Wagner, Melville, Nietzsche (hier so schön der Schimpf auf dessen Schwester und das ihr nützlich zusammengestückelte Werk, das den Ruf des Philosophen fast ruiniert und ihn auf den reinen „Übermenschen“ degradiert hat), über Tolstoi, Flaubert und andere, während auch der Erzähleralltag immer wieder durchschimmert, das Krankenzimmer, die Stapel der Bücher und Notizen, die er heranholen möchte und die ihm doch irgendwie ständig entgleiten, da er ein Schriftsteller ist, der sich in vielen großen Gedanken wiederfindet und dem fast zwanghaft zuvorkommen möchte, im Wissen, dass er nicht mehr viel Zeit hat und dass alles plagiiert wird.

    Dieser Redefluss als Monolog ist unglaublich fesselnd und bereichernd, erfasst auch herrlich die allgemeine Tendenz, wie die „Masse, die Herde, die Meute“ (jene verblödete) denkt und sich lenken lässt und wie wenig wirklich gute Schriftsteller, die etwas zu sagen haben, darin anerkannt oder gegen den Strom an Mittelmäßigkeit ankämpfen können.
    „Und, worin geht es in Ihrem Buch, Mr. Joyce? Es geht um nichts, es ist, Madame“.

    Das jedoch, was heute „ist“, bedient den passiven Konsumenten, der mit allem zufrieden ist, was ihm vermarktet wird. Und das ist das Tragische daran, denn der Niedergang der Kunst ist so alt wie die Kunst (Welt) selbst, hat heute nur erweiterte Möglichkeiten erreicht. Was Platon in seinem Staat ablehnte - die Muse, den Dichter und die unterhaltende Kunst -, ist zu einer Farce an Ersatzgöttern und Unterhaltungsmechanismen geworden, die nicht einmal mehr bewusst wahrgenommen wird. Kunst als Quelle der Inspiration hat darin nichts zu suchen. Sie stört den Betrieb des Geldmachens.


    ---
    (Alle Zitate stammen aus der Ausgabe: William Gaddis "Das mechanische Klavier", Goldmann Taschenbuch Verlag. Rezension: Annelie Jagenholz. Diskussion und mehr Literatur im Forum.)

  • Literatur-Entdeckungen 2018

    Sonntag, 23. Dezember 2018 - in Literatur

    Péter Nádas

    "Liebe"

     

    „Also ist der Wahn nichts anderes als ein ständiges Uneinssein mit der Zeit. Uneinssein mit der Gewissheit und dem Ungewissen.“

    Was passiert wohl, wenn jemand unter Droge auf einmal nur noch „innere Landschaft“ ist, seinen Körper nicht mehr spürt, den Kontakt zur Außenwelt verliert, nur noch Wiederholungen erlebt, und nicht nur das, sondern darüber hinaus auch die Zeit stehenbleibt und die Momente in der falschen Reihenfolge ablaufen? Wenn man nicht mehr weiß, was wirklich und was Einbildung ist, was außen und was innen stattfindet, was jetzt geschieht oder längst vergangen ist?
    Dann beginnt man, einiges zu hinterfragen, und diese Hinterfragungen sind im Grunde die philosophischen, die das Leben und Sein immer stellt und die so schwierig oder gar nicht zu beantworten sind. Dann hat man den Grenzbereich zwischen Wahn und Normalität erreicht. Hier zeigt die Erkenntnis, dass Zeit und Raum wichtige Stützen im Leben und für die Wahrnehmung sind, ohne die keine Handlung, kein Denken und kein Bewusstsein für das Ich möglich wären. Und das Werkzeug „Uhr“ ist noch lange kein Anhaltspunkt.

    Die Zusammenfassung dieses Frühwerks ist schwierig, wenn wirklich die ganze Größe dieses Gedankenstroms erfasst werden soll. Das Grundgerüst dagegen ist einfach. Ein Mann besucht seine Geliebte mit dem Gedanken, sich von ihr zu trennen, widerruft die Idee jedoch und raucht mit ihr einen Joint. Was aber dann folgt, ist wahrlich etwas Außerordentliches, ein Sprung ins Innere, einen Trip und Horror-Trip, ja, auch das Abbild der Liebe, oder eher die Zerbrechlichkeit der echten Gefühle, aber mehr Rausch, Sturz, Wahn und Wiederkehr. Es ist die Begegnung mit sich selbst und mit den realen und imaginären Dingen, mit dem Willen als Vorstellung und der Hinterfragung der Wahrnehmung. Es ist eine sehr detaillierte Auseinandersetzung mit Zeit und Raum.

    Etwas erinnert das Ganze kurzweilig an Henri Michaux und seine Versuche einer literarischen Darstellung im Rausch, nur ist Nádas Version wesentlich intensiver, so dass einem selbst fast das Hirn zu kreisen beginnt. Mehr und mehr wird man in diesen Sog mit hinein gerissen, in den auch der Erzähler fällt. Zwei Menschen frönen dem Cannabiskonsum (die Droge vielleicht sogar verharmlost?) und erleben die dazugehörigen verkürzten Eindrücke, schwebenden Momente, Ausdehnungen, … jenes In-sich-selbst-Fallen und Verschwinden, das Nichtunterscheiden von Wirklichkeit und Traum, von Ausgesprochenem und Gedachtem. Schön, wenn ein Lächeln in das Innere eindringt und sich dort ausbreitet, wenn Bewegungen auf das Wesentliche reduziert sind. - „Alles weitet sich, öffnet sich. Wenn ich es zulasse, weitet es sich ins Unendliche…“

    Nach dem zweiten Joint setzt die Wirkung dann verstärkt und unaufhaltsam ein. Das Gespräch findet nur noch in Fragmenten statt, jeder taucht in seine eigene Welt ein, wobei diese sich stark unterscheiden, da die Frau den Joint besser verträgt als der Mann. Er will etwas sagen, muss lachen, das Lachen schlägt über seinem Kopf zusammen, kommt irgendwoher. Von außen. „… was ich sagen sollte, ist so sehr mit mir identisch geworden, dass es nicht mehr ausgesprochen zu werden braucht …“. Der Ablauf erfolgt in Wiederholungen, das Gespräch ist auf knappe Sätze verkürzt. Er verliert mehr und mehr den Bezug zu dem Miteinander, zur Wirklichkeit und verschwindet komplett im eigenen Kosmos.

    Gut sichtbar wird die unterschiedliche Zeit des Erlebten. Während im Inneren und in Gedanken Dimensionen toben, passiert von außen fast nichts, außer dass die beiden Liebenden auf dem Bett liegen und sich umarmen oder später dann versuchen, mit der Situation klarzukommen. Die brachiale Gewalt der Gefühle bewirkt die gesamte Spannung des Buches, die Verwirrung zwischen Rausch, Schein und Perspektive, Fühlen und Nicht-Fühlen, die sogar auf den Balkon treibt, um zu springen …

    Hinter den wirren Emotionen und dem Kampf um das Sich-Verlieren, Fliehen-Wollen und Nicht-mehr-Spüren steht der wirkliche Prozess verlorener Gefühle, die Unmöglichkeit, einander ganz zu erreichen und die Entfremdung zwischen beiden Liebenden. Jeder verschwindet in seiner eigenen Welt, die dem anderen verborgen bleibt, nur über Worte erreichbar ist, die zerplatzen. Das Vertrauen kehrt sich in Misstrauen, der Halt verliert sich am Selbstzweifel. Der Verlust von Wirklichkeit bedeutet Wahn, während der Geist in der Zeit den Körper überrennt.

    Eine geniale Hinterfragung hat Péter Nádas hier versucht. Die Erzählung ist ein philosophischer Exkurs über Sein und Nicht-Sein, Zeit und Raum, Schein und Wirklichkeit, Wahn und Selbstverlust, die eigene Hölle und das Andere im Ich.
    „Die Wirklichkeit", heißt es im Buch, "ist das endgültige System, in ihm wird man unmerklich von einer Wahrnehmung zur anderen weitergereicht.“
    Doch diese oder in diese muss man erst einmal zurückfinden. Auch im Sprachfluss und Erzählten bietet Nádas (ähnlich wie Joyce stellenweise in „Ulysses“) eine Änderung der Geschwindigkeit, so dass der Leser den gesamten Rausch emotional miterleben kann. Und genau das ist Literatur.

     

     

    (Alle Zitate aus Péter Nádas "Liebe", Rowohlt Verlag. Rezension: Annelie Jagenholz.)

  • Hedayat und die blinde Eule

    Sonntag, 2. September 2018 - in Literatur

    Sadek Hedayat

    „Die blinde Eule“

     

    „Kalt und gleichgültig nimmt das Leben nach und nach jedem die Maske ab, die er trägt. Denn alles geschieht, als habe jedes Individuum mehrere Masken. Manche verwenden immer die gleiche: notwendigerweise wird sie schmutzig und vergilbt.“

     

    Das Buch ist wie ein Schweben durch die tiefen, düsteren Abgründe und surrealen Tagträume des Opiumrauchers, der versucht, sein Leiden in Worte zu fassen, das tief in ihm wuchert und für das es keine Heilung gibt, während er keinen Zugang zum Leben oder zu anderen Menschen (jenen von ihm zu bezeichneten Kanaillen) findet und er das eigene Sein als Grab empfindet, in dem Zeit keine Rolle mehr spielt. Lediglich der Rausch verhilft zu einer begrenzten und  ersehnten inneren Ruhe, gibt ihm Trost, wenn sich das Leben hinter die Grenzen der Welt zurückzieht, während sich die Erinnerungen und Ereignisse, die Schreckbilder und Gespenster, die wiederkehrenden Szenen und Menschen miteinander vermengen, fast zu einem Bild verschmelzen und durch ein entsetzliches Gelächter begleitet werden, das am Ende das eigene Echo ist.

     

    Der Schimmer einer Gegenwart durchzittert die Vorstellung des Erzählten, während gleichzeitig Vergangenes, Imaginäres, Geträumtes und Reales wie eine giftige Gischt aufgewühlt wird und zum staubigen Sand vor den eigenen Füßen gerät. Nicht selten staunt der Erzähler, dass er sich nicht einfach auflöst, zu Salz zerfällt, als Schatten verblasst, wo sein Bild im Spiegel ihm lebenskräftig erscheint, während sein Sein die Koexistenz eines Spiegelbilds besitzt. Zuhörer sind nicht notwendig, sind lediglich die Schatten an der Wand, genauer der eigene Schatten, der durch die Öllampe gegen die Wand geworfen wird und dem sich der Ich-Erzähler zu offenbaren meint.

     

    Ein gemaltes Bild auf einem Schreibetui ist die Metapher für alles, was geschehen ist und was in seinen Ängsten wiederkehrt. Eine Zypresse, ein alter Mann, eine junge Frau und ein Fluss, der die Trennung suggeriert. Bild, Traum, Furcht und Wirklichkeit sind eins. Die Halluzinationen ergeben am Ende einen Sinn. Herrlich bleibt, wie Hedayat hier mit den Bildern spielt und deren Sinn umkehrt. Seine Idylle wird zum Albtraum, genauso wie der Lebenstropfen Wein, der zur Geburt des Kindes gekeltert wird, durch die Ereignisse der Liebe zum Todestrank mutiert, vermengt mit dem Gift der Schlange.

     

    Er berichtet von Träumen und von realen Dingen, darunter von der Heirat mit einer Frau, die ihn nicht liebt und betrügt, selbst aber nicht an sich heran lässt. Verführt hat sie ihn am Sarg ihrer Mutter, so dass er gezwungen war, sie zu ehelichen. Ihre Weigerung und Herablassung ihm gegenüber entfacht eine grausame Leidenschaft in ihm, die gleichzeitig den Wunsch nach Unterwerfung und Qual weckt. Er nennt sie „die Dirne“, während er an der Liebe zu ihr zugrunde geht. Es ist die Zurückweisung, die ihn tief trifft und die ihn nach und nach gleichzeitig herausfordert, um noch mehr Leid auf sich zu nehmen.

     

    All das ist mit dem iranischen Kolorit geschmückt, erinnert an alte Traditionen, persische Weisheiten, Mystik, kurz, es ist eine wahre Perle der Literatur, die tiefgründig nachwirkt und auch westliche Einflüsse verarbeitet. Kein Wunder, dass der innere Monolog stark an Rilke, Baudelaire, Artaud oder Nerval erinnert. Hedayat selbst war von Nerval fasziniert und bewunderte entsprechend auch seinen Selbstmord.

     

    Viele iranische Traditionen werden angeführt, fast meint man als Leser, den Ruf des Muezzins zu vernehmen, der bei Hedayat nicht umsonst zur ungewohnten Stunde erfolgt, als Hinweis darauf, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Spürbar ist der Verweis auf das echte Leben des Schriftstellers, der sich weit weg vom Iran als unglücklicher Exilant in einer Pariser Wohnung das Leben nahm, zerstört und desillusioniert. Sein erster Erzählband trug den Titel „Lebendig begraben“.

    Er selbst starb durch den aufgedrehten Gashahn, nachdem er die meisten Unterlagen und Notizen vernichtet hat, die noch da waren. Fast scheint es, dass der Iraner seinen Tod vorausgesehen hat. Er selbst spricht von Schicksal.

     

    Auch in „Die blinde Eule“ befasst er sich lange mit dem Tod, dem Sterben, dem Danach, beschwört dabei Gedanken und Bilder herauf, die etwas von seiner Frucht offenbaren. Das Buch ist eine Metapher des Todes, wühlt die Erde mit kalten Fingern auf.

    „Es gibt Greise, die ihre Seele mit einem Lächeln auf den Lippen zurückgeben, als drehten sie sich schlafend von einer Seite auf die andere, oder die wie Öllampen verlöschen.“

    Aber was, so weiter, ist dann die Empfindung eines noch jungen Menschen, der stirbt und der vielleicht um sein Leben gekämpft hat? Der Ich-Erzähler hält an der Vorstellung fest, dass es ein Danach gibt, hofft jedoch auf das Nichts, das ihn befreien könnte, während ihm anderes Furcht einjagt. Gleichzeitig mit der Todesangst existiert jedoch auch der Todeswunsch, verschwinden zu können. Er hat nur die Angst, dass sich seine Atome mit denen anderer vermischen. Und dieser Gedanke ist ihm unerträglich.

     

    Der Leser kann nun hinterfragen, was einen Menschen in dieser Verfassung leitet, weshalb er z. B. in die Opiumsucht flüchtet. Es ist die Angst vor dem Leben, vor dem Tod, vor allem, aber besonders vor dem Leben oder der Unfähigkeit, das Leben zu meistern. Die Scheinwelt und Schwermut des Rausches gewährt zwar kurzzeitig Trost, gleichzeitig bleibt das Bewusstsein bestehen, dass es sich nur um eine Illusion handelt, die sich genauso verwandelt wie die Figuren, echten Personen, Gespenster, Halluzinationen und Erinnerungen, mit denen der Ich-Erzähler konfrontiert wird.

    „Niemand“, so Hedayat an anderer Stelle,  „trifft plötzlich die Entscheidung, sich umzubringen; der Selbstmord sitzt tief in manchen Menschen, gehört zu ihrem Naturell.“

    Das hat er hinlänglich bewiesen ... als Entscheidung zum Tod (auch ohne die Ausflucht einer vergifteten Weinflasche im Schrank), um sein Wesen nicht verändern zu müssen, und dabei ein kleines Meisterwerk hinterlassen.

     

     

    (Alle Zitate aus Sadek Hedayat "Die blinde Eule", Edition Pajam, Goethe & Hafis Verlag, Bonn)

     

     

    Eine Illustration von mir zum Buch:

     

    "Ich fühlte, wie fragwürdig und kindisch Religion, Glaube und Frömmigkeit angesichts des Todes sind; es sind Kinderklappern für Glückliche und Erfolgreiche. (...) Die Gebete, die man mich gelehrt hatte, waren vor der Todesangst unwirksam."

    (Hedayat "Die blinde Eule")

     

     

     (c) A. Jagenholz, 2018

     

  • Attila Jozsef

    Dienstag, 3. Juli 2018 - in Literatur

    Attila Jozsef

    „Leben und Schaffen“

     

    „Ich glaubte, dass nur jenes Lied erklingt,

    das auch die dicken Glasscheiben

    der Einsamkeit durchdringt.“

     

    (Auszug aus dem Gedicht „In Gram Verzehrter“)

     

    Diese Gedichtzeile steht für die gesamte Einstellung des Dichters zur Kunst und Dichtung, der ruhelos durch die eigenen Abgründe irrte und auch die Selbstzerfleischung kannte, die er so gekonnt in Szene setzte. Nicht alleine für sich selbst singt er, sondern im Klang einer Stimme, die von vielen gehört werden und in das Blut sickern soll, vielleicht sogar Trost spenden kann. Leider wurde er zu seiner Zeit nicht ausreichend erhört, wie es so vielen Künstlern und Dichtern ergeht. Heute gehört Attila Jozsef zu den Größen der ungarischen modernen Poesie. Etliche Straßen sind nach ihm benannt und viele Denkmale errichtet.

     

    Attila Jozsef war ein sehr interessanter Charakter und starb jung und in selbstbeherrschter Verzweiflung durch den Sprung vor einen Güterzug. Dieser Zug erscheint in vielen seiner Gedichte und ist dabei auch Sinnbild für die Stimmung und Einsamkeit des Dichters. Er rattert vorbei, verkörpert Sehnsucht, Traurigkeit und Schmerz, das laute Leben und die stillen Zwischenräume. Er steht für die verschwindenden Momente, die verflossenen Lieben, für den Hunger und die Armut, die der Dichter nur zu gut kannte, für den Schmutz der Welt und den Fortschritt der Zeit. (Neue Nachforschungen stellen sogar die These auf, der Sprung vor den Zug sei nicht freiwillig gewesen. Selbst dann steht der Güterzug für die Tragik der Zeit und die Tragik des Dichterlebens.)

     

    Trotz der stark sozialistisch ausgerichteten Einleitung von Miklos Szabolcsi (die das Leben und Sein des Dichters fast nur auf den „Klassenkampf“ und den „Aktionsradius der sozialistischen Kunst“ reduziert) ist der Band „Leben und Schaffen“ gelungen und lesenswert, spiegelt dabei den Charakter Jozsefs in Briefen, Essays und Gedichten, in Erinnerungen, darunter von der Jugendliebe Marta Vago oder der Schwester Jolan Jozsef, und in kleinen Biografieauszügen wieder. Das Buch stammt vom „Corvina Verlag“ und erschien 1978. Das merkt man ihm bedingt auch an. Heute gibt es eine sehr schöne und erweiterte Ausgabe aller Gedichte in der Übersetzung von Daniel Muth mit dem Titel „Ein wilder Apfelbaum will ich werden: Gedichte 1916 – 1937“.

     

    Schade ist natürlich, dass in der „Corvina“-Ausgabe kaum etwas über seine Nervenzusammenbrüche, die Therapie, die unerwiderte Liebe zu seiner Therapeutin oder über den Aufenthalt in der Heilanstalt gesagt wird, auch wenig über seine Stimmungsschwankungen und sein eigentliches Wesen. Das lässt sich nur anhand der Berichte und Gedichte erahnen, die teilweise sehr persönlich sind. Erzählt wird dagegen von den letzten Tagen vor seinem Selbstmord aus der Sicht der Schwester, die deutlich zeigen, in welcher Verfassung sich der Dichter befand und die mit einem Beileidsschreiben von Thomas Mann und einem sehr traurigen Gedichts Jozsefs enden. „Schauerlich ist es, daran zurückzudenken, dass es die beruhigende Nähe des Todes war, die sein Gesicht zu strahlender, himmlischer Ruhe verklärte, als er schon beschlossen hatte, sich unweigerlich zu töten“, sagt die Jolan Jozsef, die zusammen mit der anderen Schwester den gleichen Weg gegangen wäre, wären keine Kinder dagewesen. Sie erzählt, wie sie sich durch die Selbstbeherrschung Jozsefs hat täuschen lassen, jene Disziplin, die er in allen harten Phasen seines Lebens aufrechterhielt.

     

    Ansonsten ist viel äußerliche Betrachtung enthalten, darunter aber auch ein Briefwechsel zwischen Marta Vago und Jozsef, der die Trennungsgründe verdeutlicht, oder die Aufzeichnung Martas über den Auftritt zur Ehrung von Thomas Mann, der in die Hose ging, da das Gedicht verboten wurde. „Wieder einmal hat man mich des Wenigen beraubt, das ich haben könnte.“, so Jozsefs Reaktion. Interessant und sogar humorvoll ist u. a. die Beschreibung Jozsefs über seinen Selbstmordversuch mit neun Jahren.

     

    Was das Buch ausmacht, ist die Auswahl vieler wichtiger Gedichte, mehr oder weniger gut übersetzt. Eine meiner Lieblingsstellen stammt aus einem Gedicht mit dem Titel „Die Urratte geht um“:

     

    Auszug:

    Und wie der Schakal, der die Gestirne

    anruft und seine Klage hinaufkotzt

    zum Himmel, wo nur Qualen flimmern,

    so heult der Dichter umsonst…

    O Sterne, ihr! Ihr groben, rostigen

    Eisendolche, die mich umwerben,

    wie oft habt ihr meine Seele durchstochen -

    (Sterben nur gelingt auf Erden)“

     

    Die Übersetzung ist von Richard Pietraß und wechselt bei den vorgestellten Gedichten, wobei man bedenken muss, dass Ungarisch zu den schwierigsten Sprachen gehört, die ins Deutsche kaum übertragbar ist. Die beste Übersetzung stammt übrigens fast immer von Franz Fühmann, durch den ich in seinem Buch „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“ auf den Dichter aufmerksam wurde. Er hatte ein gutes Händchen für Wortwahl und Rhythmus, was erstaunlich ist, da Fühmann das Ungarische nicht im Ganzen beherrschte. Das beschreibt er zumindest in seinem autobiografischen Werk.

     

    Auch die Gedichte, die Jozsef über seine Mutter schreibt, sind bewegend, darunter der poetische Vorwurf, dass sie starb. „So schwingt das Kind/ die Rassel weiter, blind,/ nachdem die Mutter es verlassen.“

    An anderer Stelle sagt er: „Sie wurde langsam krumm vom Waschen./Ich wusste nicht, dass sie noch jung war“. Genau  das ist auch auf den im Buch enthaltenen Fotos zu erkennen. Innerhalb weniger Jahre altert die Frau erstaunlich schnell, was sicherlich nicht nur durch die schwierigen Zeiten, sondern auch durch Krankheit und Leid beschleunigt wurde. Jozsef schreit seinen Kummer noch viele Jahre nach ihrem Tod laut hinaus: „Wie eine leichte, liederliche Dirne dem Wink gehorcht, gabst du dem Tod dich hin.“. Das trifft den Leser wie ein Schlag ins Gesicht.

    Die Mutter starb 1919 an Gebärmutterkrebs, als ein weiterer Schicksalsschlag in Jozefs sowieso schon schwierigen Leben. Die Zeiten waren hart, der Hunger groß. Als sie starb, war er gerade unterwegs, um Lebensmittel von Bekannten zu erbitten. Zuvor verließ der Vater die Familie, angeblich, um nach Amerika auszuwandern. Später stellte sich heraus, dass er in Rumänien landete und seine Frau mit den drei Kindern einfach sitzen ließ, was Jozsef zum Glück nie erfahren hat, da er bereits 1937 im Alter von 32 Jahren starb.

     

    Das Gedicht „Besinnung“ mag der krönende Abschluss eines ganzen Lebens sein. Sein Biograf und Freund, der Kritiker Andor Nemeth, erzählt in seiner Biografie, es sei entstanden, als Attila auf die Gleise am Güterbahnhof starrte, neben dem er wohl gewohnt hat.

     

    Auszug:

     

    VII

    „Unter dem Abend in der Himmel

    Zahnradwerk ich die Blicke hob –

    und sein Gesetz aus Zufallsfasern

    der Webstuhl des Vergangnen wob,

    und wieder meinen Blick ich schob

    durch meiner Träume dichte Dünste

    und sah: Die gleißenden Gespinste

    zertrennten sich stets irgendwo.“

     

    Und wieder einmal herrlich übersetzt von Fühmann. Besagtes Gedicht endet wie das Leben des wunderbaren Dichters. Tiefgreifend, einsam und verzweifelt, fast wie der letzte Sprung vor den Zug.

     

    XII

    „Ich wohne an der Bahn. Viel Züge

    kommen und gehen an mir vorbei,

    im wehenden Samtdunkel seh ich

    schweben der lichten Fenster Reih.

    So durch das ewge Einerlei

    der Nacht erhellte Tage jagen,

    und ich im Lichte jedes Wagens

    steh da und lehn mich an und schweig.“

     

    Ich würde gerne mehr über den Dichter erfahren, dessen eines Denkmal in Budapest so beeindruckend ist, die sitzende Gestalt auf der Treppe, die gebeugt und in sich gekehrt den Hut in der Hand hält, während auf den Stufen der weggeworfene Mantel liegt. Schön wäre auch eine Übersetzung der Erinnerungen von Jolan Jozsef oder überhaupt eine Biografie in großem Format. Der Dichter jedenfalls hätte es mehr als verdient.

     

    (Quelle: Wikipedia)

     

     

    (Alle Zitate stammen aus der Ausgabe "Attila Jozsef - Leben und Schaffen", Corvina Verlag).

  • Gedanken zu dem Werk "Im Garten der sieben Dämmerungen"

    Freitag, 6. April 2018 - in Literatur

    Miquel de Palol

    "Im Garten der sieben Dämmerungen"

     

    Ein gutes Buch erfordert manchmal auch einen aufmerksameren Leser, und dieses stellt mitunter die höchsten Ansprüche. Für mich ist es eines der besten im experimentellen Bereich, das ich auch noch häufiger wiederlesen werde. Das Experiment gestattet dabei auch Spannung, Handlung und Unterhaltung, nicht nur literarischen Höhenflug.

    Aus „Im Garten der sieben Dämmerungen“ haben sich schon einige bedient, z. B. erinnert der Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" frappierend genau an eine der im Roman enthaltenen Geschichten. Das liegt an der unglaublichen Vielfalt der Ideen, die Palol hier bietet, als hätte der Leser so auch die Chance, am Schöpfungsprozess und Einfallsreichtum des Schriftstellers selbst teilzuhaben. Die geklaute Geschichte ist allerdings nur ein winziges Stück aus dem großen Gesamt-Puzzle und trägt mit dazu bei, das Buch einzigartig zu machen, in Form, Stil, Aufbau und Kunst.

    Es ist ein vielschichtiges Werk, ein wahrhaftiges Labyrinth, ein Abgrund, ein Architekturstück und ein Kalender. Es wünscht vom Leser, dass er mitdenkt und seine Aufmerksamkeit ganz auf das Buch konzentriert. Er darf nicht abschweifen oder überblättern, sonst verliert er den Faden, der sowieso schon recht dünn ist. Der Leser ist derjenige, der zusammenfügen muss, was zusammen gehört, der interpretieren darf oder einfach nur genießen kann.
    Manche Sachen müssen entschlüsselt, gar berechnet werden. Der verschmitzte Autor verteilt nur winzige Hinweise, die nicht überlesen werden dürfen, die aber helfen, das Rätsel zu lösen. Sogar eine Schmetterlingsart kann Symbol für einen Charakter sein, der wiederum in der Deutung darauf verweist, wie vertrauenswürdig die Figur im Buch ist, mit der es der Leser zu tun bekommt.

    Hier hat Palol ein experimentelles Meisterwerk konzipiert, das in viele Splitter zerteilt ist, wobei doch alles miteinander zusammenhängt und Sinn ergibt. Es ist ein Buch zum mehrmals lesen, das sich an der Tradition von Büchern orientiert, die Geschichten in Geschichten packen, von der "Odyssee" zu "Tausendundeiner Nacht" über Diderots Werke, Cervantes‘ "Don Quixote" bis zu Sternes "Tristram Shandy", Potockis "Die Handschrift von Saragossa", Cortazars "Rayuela", Pavics Meisterleistungen und ähnliches.

    Bei Palol reihen sich aber nicht nur Geschichten aneinander, sondern wechseln die Dimension und Ebene auch tiefer, ist eine Geschichte die Basis für weitere ineinander verwobene, die wiederum den Erzähler oder Ausgangspunkt wechseln, um dann ganz unscheinbar wieder auf die höhere Ebene zu klettern und am Ende einen Kreis zum Anfang zu bilden, wobei hier nicht der Anfang des Buches gemeint ist, der trotzdem mit allem verbunden ist.
    Die etlichen Geschichten sind Teil einer Unterhaltung, die Menschen führen, die etwas retten wollen, aber auch etwas zu verbergen haben, die wahrheitsliebend, erfinderisch oder manipulativ sind. Sie befinden sich in einer futuristischen Welt, die gleichzeitig sehr gegenwärtig wirkt. Die Welt ist zusammengebrochen, alle Gewohnheiten sind aufgehoben. Die Spannung ist vorprogrammiert.

    Die wechselnden, ineinander verschachtelten Erzählstränge sind Fäden ein und desselben Knotens, der entwirrt werden muss und auch entwirrt werden kann. Die Geschichten können dabei so vielseitig sein, dass Jahrhunderte wechseln oder auch Realität und Fantasie, Echtzeit, Vergangenheit und Zukunft. Sie können näher zur Wahrheit führen oder nur Täuschung sein. Es kann sich um eine Szene und Geschichte handeln, die nur aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird und so ihr Gesicht ändert, da jede Sichtweise subjektiv ist. Selbst die Lüge hat einen Sinn, und die Illusion kann manchmal täuschend echt sein.
    Manches wird nur als Verwirrung und Ablenkung beigesteuert, damit die Einheitlichkeit zersprengt wird und sich im Abwägen der erfahrenen Bedingungen das Echte herauskristallisiert. Trotzdem ist alles ein Verweis auf das Nächste oder bereits Gewesene. Schon der Beginn des Buches zeigt die gelungene Kontroverse über die gefundene Schrift „Im Garten der sieben Dämmerungen“, die nicht einmal mehr vollständig erhalten ist. Nachforschungen ergeben echte Gegebenheiten ebenso wie den Verdacht, dass es sich um eine Erfindung handeln könnte. Das Buch im Buch wird zum Wegweiser.

    Der Leser gewöhnt sich daran erst im Laufe des Lesens, begreift mehr und mehr die Zusammenhänge. Manchmal ist es eben auch nötig, noch einmal zurückzublättern und die dortige Stelle auf ein Neues zu ergründen. Dadurch gewinnt dieses an sich schon dicke Buch noch einmal Raum und Zeit, und das wirklich im wahrsten Sinne des Wortes (ähnlich erlebt bei Cortazar, bei dem auch beliebig im Text gesprungen werden darf). Dass so ein Werk jemals enden könnte, scheint fast unmöglich, wie ein Spaziergang durch viele gute Romane, immer aber auch zurückgeworfen auf das eigentliche Geschehen, im Sprung vor und zurück, denn hier sprechen nur noch einige Überlebende miteinander, eine Art ausgewählte Elite, während vor der Tür ein entsetzlicher Krieg tobt. Das Erzählen ist damit gleichzeitig eine Überlebensstrategie und die Hoffnung auf Rettung.

    Am Ende wird der Leser mit dem Lesen und Wiederlesen einzelner Stellen eine Erkenntnis gewonnen haben, und sei es eine eigene und individuelle. Denn das Buch ist ein offenes Kunstwerk (nach Eco), gestattet an jeder Stelle die Selbstreflexion und Deutung. Es enthält verstreute Brotkrumen und Hinweise, die besonders das Gedächtnis des Lesers herausfordern, genauso das Nachdenken und Rätselraten. Das Buch ist etwas für Leser, die eine Herausforderung suchen und bereit sind, alles zu hinterfragen.

    Ausgangspunkt bleibt die zurückgelassene Schrift über den "Garten der sieben Dämmerungen", der auch wirklich existiert, gleichzeitig auch Symbol und Metapher ist. Ausgangspunkt bleibt auch immer das, was der Ich-Erzähler berichtet. Dieses Buch lässt sich nicht zusammenfassen und einseitig deuten. Dazu ist es zu vielschichtig und verspielt, bietet Schachbretter, mathematische Formeln, banale Kreuzworträtsel oder Lexikonverweise.
    Es gestattet lediglich eine Reflexion und die Bestätigung darüber, dass die Dinge auch im echten Leben genauso wenig einseitig sind wie in dieser futuristischen Fiktion und nie nur eine einzige Frage gestellt werden kann. Es zeigt, dass immer etliche Wege und Möglichkeiten vorhanden sind und es an uns liegt, die jeweilige Entscheidung zu treffen.
    Das alles drückt das Buch aus. Das Leben als nie endende Hinterfragung, als Innenbetrachtung, die immer verändert, das Außen und das Innen.
    Der Aufbau entspricht dabei dem Gödel‘schen Unvollständigkeitssatz. Alles, was gesagt werden kann, hat seine Grenzen. Darin kann die Aussage nicht immer bewiesen und auch nicht immer widerlegt werden. Ganz wie das Leben selbst.

  • Dostojewskis Frühwerk - Teil 3

    Samstag, 6. Januar 2018 - in Literatur

    3. Dostojewski

    „Arme Leute“

     

    Von den drei früheren Werken („Arme Leute“, „Onkelchens Traum“ und „Das Gut Stepantschikowo“) ist dieses erste geschriebene sicherlich das spannendste und verrückteste, ohne den Vergleich zu den „reifen Werken“ zu ziehen. Es wurde zur damaligen Zeit hoch gelobt und von Kritikern und Literaten gefeiert. Damit wurde Dostojewski fast über Nacht berühmt, wobei der Erfolg nicht allzu lange anhielt. Schon das zweite Buch wurde zerrissen, während es zu einem meiner liebsten Werke gehört. "Der Doppelgänger" war seiner Zeit weit voraus. Das betrifft die delierende Welt des Protagonisten ebenso wie den spannend offenen Stil.

     

    Bei "Arme Leute" handelt sich um einen Briefroman, der schon mehr der damaligen Zeit entsprach und der zwei Figuren sichtbar macht, die einander ihr Leben berichten und dabei in bitterer Armut leben, sich trotzdem über Sein, Literatur und Umwelt austauschen, traurige und schöne Erlebnisse teilen, und das so gut, dass der Roman sich kaum von der erzählerischen Ebene unterscheidet und jeder für sich in seinem Charakter lebendig wird.

     

    Die Darstellung der Armut in ihren vielen Facetten wird gekreuzt mit einem absichtlich verwendeten „schlechten Stil“, der dennoch überzeugen kann. Das Buch ist schon darum etwas besser, weil es kein Happy-End hat und weil es im Nachhinein tiefer hinterfragt, wieso manche Menschen so leiden müssen, andere in ihrem Reichtum satter und satter werden.

    Selbst unter den Armen gibt es unangenehme Geschöpfe, eine Mutter, die ihren hungernden Sohn mit nackten Füßen in die Kälte zum Betteln schickt. Da bleibt die Frage, was das aus ihm macht in der Konfrontation mit Beschimpfung und Ablehnung. Dostojewski, der die These in vielen seiner Romanen vertreten hat, dass nicht der Verbrecher alleine schuld an seinem Dilemma ist, sondern die Gesellschaft, deutet in diesem Frühwerk nur an.

     

    Gezeigt werden Menschen, die unabsichtlich in Armut geraten oder solche wie Warwara, die als Waise unter schlechten Verhältnissen aufwächst, aus denen die Flucht zwar gelingt, jedoch neues Leid nach sich zieht. Ähnlich auch der zu Unrecht verurteilte Familienvater mit seiner hungernden Familie, der einen Rechtstreit abwarten muss, um an das Geld zu gelangen, das ihm zusteht.

    In diesem Zeitraum ist es ihm nicht möglich, zu arbeiten, da er der Unzuverlässigkeit und des Betrugs bezichtigt wird, was ihn den Ruf kostet, während ihm während der Warterei auf ein Ende des Prozesses der Sohn wegstirbt.

    Die Ironie des Schicksals bringt es dann mit sich, dass sich alles zum Guten wendet, er rehabilitiert wird, das Geld zurückerhält und im Moment der Freude ganz schlicht und einfach stirbt. Statt Friede, Freude, Eierkuchen schlägt hier das Leben erneut erbarmungslos zu.

     

    Sichtbar wird in vielen Szenen und Facetten des Romans, dass der Arme eher bereit ist zu helfen, als der Reiche. Der Arme wendet sich dementsprechend an den Leidensbruder, obwohl er damit rechnen muss, dass dieser auch nichts hat. Jedoch kann er eher erwarten, dass ihm wenigstens mit dem Bisschen geholfen wird, das vorhanden ist, wobei der Spender dann selbst in Schwierigkeiten geraten kann.

    Diesen Eindruck vermittelten letztendlich viele Schriftsteller, dass ein Mensch, der das Leiden kennt, eher bereit ist, einen anderen Leidenden zu unterstützen, weil er die Umstände kennt, als einer, der einfach nur auf den Armen herabschaut und dessen Welt nicht kennt und auch ablehnt. Der Reiche fühlt sich durch den Anblick des Hungernden vielmehr in seiner Ruhe gestört. Das lässt ihn gegen den Störenfried umso herzloser handeln.

    Warwara und Makar retten sich durch ihren Briefwechsel und ermöglichen einander eine kleine Abwechslung vom entbehrungsreichen Leben. Sie helfen einander, auch wenn diese Hilfe klein ausfallen mag.

     

    Der Stil ist gewöhnungsbedürftig. Dostojewski überschlägt sich hier in seinen Verniedlichungen, und in den Briefen von Makar Djewuschkin kommt in jedem zweiten Satz ein Engelchen, Mütterchen, Täubchen, Sternchen und ähnliches vor, dass es zum Verzweifeln ist. Das ist von Dostojewski jedoch absichtlich so gewählt, um seine Figur charakteristisch ins Bild zu setzen, wobei auch der Briefeschreiber von sich selbst sagt, er hätte keinen Stil, könne nicht schreiben, was er mehr als schmerzhaft unter Beweis stellt.

     

    Auffallend ist auch, dass Dostojewski vieles nicht ausführt, nur Andeutungen macht. So erfährt man z. B. kaum, was Warwara tatsächlich zugestoßen ist und muss es sich selbst zusammenreimen. Wohl wurde sie von der angeblichen Wohltäterin an Männer weitergereicht, darunter auch an den später auftretenden Bykoff, der erneut auftaucht, um sie zu heiraten, angeblich, um das Vorangegangene wieder gut zu machen.

    Der schlechte Charakter des Bräutigams ist sehr vage angedeutet, wird nur durch das Erzählte sichtbar. Andererseits ist gerade das etwas, das Dostojewskis Werke ausmacht, das „offene Kunstwerk“ (besonders schön in „Der Doppelgänger“), als eine Möglichkeit für den Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen, was schon in diesem Werk in kleinem Spielraum möglich ist.

     

    Dostojewski schrieb an den eigenen Bruder:

    „Man ist gewohnt, in allem die Fratze des Autors zu sehen; ich aber habe die meine nicht vorgezeigt.“

    Genau das wird in diesem Erstlingswerk sehr stark sichtbar. Makar spricht als Charakter für sich selbst, stammelt, lallt, verherrlicht, jammert usw., wie es seinem Charakter entspricht. Alle anderen Figuren ebenso.

     

    In den späten Werken Dostojewskis wird gerade dieser Zug wunderbar verfeinert. Während z. B. Tolstoi immer seine eigenen Reflexionen in seinen Figuren spiegelt, schafft Dostojewski Figuren eigener Art, die ihm womöglich auf der Straße, im Leben, in der Irrenanstalt oder im Traum begegnet sind. Nichts von Dostojewskis eigenem Wesen ist in den Figuren vertieft. Sie sollen für sich selbst Schablonen eines bestimmten Charakters sein.

     

    Damit rief Dostojewski zu seiner Zeit einen ganz neuen Stil ins Leben und war einer der Vorreiter für den modernen Roman. Es gibt tatsächlich Abschnitte, die absichtlich schlecht geschrieben sind, um den Charakter in seinem ganzen Wesen zu zeigen. Der offene Dialog wird bei Dostojewski später eines der genialsten Mittel, um Charaktere von all ihren Seiten zu zeigen, auch darauf zu verweisen, dass keiner nur schlecht oder nur gut ist, dass der Mensch vielschichtig ist.

     

    So wie Makar als einfacher Beamter und Schreiber nicht auf sich achtet, niedrig von sich selbst denkt, wenig weiß und auch zur Trunksucht neigt, gibt er, wenn es sein muss, sein letztes Hemd, ist fähig zu lieben und dem Menschen zu helfen, wo er kann. Ebenso Warwara in umgekehrter Form, die charakterstark und freundlich erscheint, am Ende jedoch schwach wird und einen reichen ungehobelten Menschen heiratet, der schon bewiesen hat, dass er sie unglücklich machen wird.

    Im Grunde verkauft sie sich ein weiteres Mal, um ihrem Elend zu entkommen und kann so ihrer Vergangenheit nicht entkommen, während sie sich selbst dazu entschließt. Dazu belastet sie den Freund und Briefpartner, von dem sie weiß, dass er sie liebt, mit unsinnigen Aufträgen für die Hochzeitsvorbereitungen, so dass all ihre vorangegangenen Bemühungen um ihn hinfällig werden und sie die Freundschaft in eine oberflächliche Spiegelung verwandelt. Der leicht infantile Beamte Makar Djewuschkin wird traurig zurückgelassen. Sein Ruf im letzten Brief erfolgt ins Nichts.

     

     

    (Meine Rezension basiert auf der Gesamtausgabe von Zweitausendeins, Band "Der Doppelgänger", Übersetzung: E. K. Rahsin)

  • Dostojewskis Frühwerk - Teil 2

    Samstag, 6. Januar 2018 - in Literatur

    2. Dostojewski
    „Das Gut Stepantschikowo“


    In diesem etwas umständlicher formulierten Werk schafft es Dostojewski, einen niedrigen Charakter so hassenswert darzustellen, dass sich selbst der eine oder andere Leser über dessen Verhalten empört und die anderen In-Mitleidenschaft-Gezogenen bedauert. Das Buch strotzt anfangs irgendwie von teilweise recht absurden Einfällen, wobei ich mich ständig frage, woher Dostojewski seine Ideen bezieht, was in ihm vorgegangen sein mag, um diese Charaktere und Umstände zu schaffen.
    Belegt ist, dass Dostojewski ein starkes Interesse an neurotischen und pathologischen Charakteren hatte, während er1844 mit dem Arzt A. E. Riesenkampf in Petersburg zusammenlebte, dessen Patienten ihn interessierten und denen er auch häufig begegnete. Viele dienten als Skizzen und Vorlagen für seine Figuren, hinter denen der Autor, selbst als Erzähler in der Geschichte und Ich-Figur, komplett verschwand.

    Erste Andeutungen der Figur-Zeichnung verweisen schon auf später sporadisch in Romanen auftretende Gestalten, wobei dieses Werk einen einzigen schlechten Charakter und einen einzigen sehr guten (und damit nervigen) Charakter spiegelt. Teilweise sind die Figuren stark überzogen kreiert (was bei Dostojewski nicht selten geschieht, hier aber in extremer Form erfolgt), darunter der so anfällige und schwache Onkel oder der besonders miese Foma.

    Das Buch ist lustig zu lesen, geht einem aber auch etwas mehr auf die Nerven als andere Werke. Dostojewski feiert nicht so sehr den schlechten Menschen, als das er zeigen möchte, dass auch im schlechten Menschen Gutes steckt, häufig mehr als erwartet. Er ruft Szene um Szene hervor, die das untermalen soll, wobei die Wiederholung dann einiges vom Leser abfordert, insbesondere Geduld.
    Um sich die Details zu merken, benötigt man wirklich nur den Namen Foma Fomitsch, um die ganze Erinnerung an diesen Roman wiederzubeleben. Der Rest ist eine Art Drum-Herum und die Aussage ist: gibst du einem überheblich kleinlichen Menschen Freiraum und förderst die Eitelkeit, kriegt er Höhe und wird zum Tyrann. Schuld daran ist nicht nur er selbst, sondern gerade auch das Umfeld, das dem Ganzen den Raum bietet, die Leute, die das eitle Wesen unterstützen und mit unangebrachter Ehrfurcht fördern. Dostojewski sieht diese Gefahr bei Menschen, die sich ungebildet fühlen und die Bildung bei anderen Menschen überschätzen.

     

     

    (Meine Rezension basiert auf der Gesamtausgabe von Zweitausendeins "Das Gut Stepantschikowo", Übersetzung: E. K. Rahsin)

  • Dostojewskis Frühwerk - Teil 1

    Samstag, 6. Januar 2018 - in Literatur

    Dann also ein paar Gedanken zu dem Frühwerk Dostojewskis. Reihefolge war "Onkelchens Traum", „Das Gut Stepantschikowo“, „Arme Leute“, „Herr Prochartschin“, "Weiße Nächte" und "Ein kleiner Held". In der Gesamtausgabe, die ich besitze, sind diese Werke in zwei Bänden enthalten. Ich habe die Romane und Erzählungen nahezu verschlungen, ohne genau definieren zu können, warum. Es stimmten die Zeit, die Begeisterung, das Erzählwerk.

    1. Dostojewski
    „Onkelchens Traum“

    Wie bei vielen Werken trägt auch bei diesem Roman die gute Übersetzung von E. K. Rahsin (alias Less Kaerrick) stark zur Faszination für den Text bei. Sie findet (gegenüber anderen Übersetzern) fast immer einen Ton, der unterhaltsam und fließend zugleich ist, der irgendwie anders packt und mitreißt. Daran reichen weder die vielgelobte Swetlana Geier noch Übersetzer wie Hermann Röhl oder Krofiz Holm.

    In dieser Hinsicht spielt für mich weniger die wissenschaftlich perfekt ausgearbeitete Übersetzung eine Rolle als ein übertragener Stil, der mich trägt und begeistert. Das gelingt Rahsin immer und hat mir die Lektüre deutlich näher gebracht, die gegenüber den Spätwerken dann doch etwas wässriger ist, eben weil die Tiefe noch fehlt. Ob ein Titel dann ungenau übersetzt ist, was für neue Ausarbeitungen teilweise so wichtig war, interessiert mich herzlich wenig. Bezeichnungen wie „Verbrechen und Strafe“, „Schuld und Sühne“, „Raskolnikow“ … oder „Die Dämonen“ bzw. „Die Teufel“ haben auf den Inhalt wenig Einfluss.
    Tatsächlich gefallen mir die alten Titel sogar besser, finde ich „Die Dämonen“ gelungener als die korrekte Auswahl „Die Teufel“. Für mich entscheidend ist ein leichter und mich fesselnder Takt in der Wortwahl und Wortreihenfolge bei der Übersetzung. Schon ein Roman, der russische Namen verallgemeinert, verliert für mich an Wärme. (Wenn Dostojewski drei Verniedlichungen eines Namens aufzählt, wie z. B. im „Gut Stepantschikowo“, lässt Röhl das weg, während Rahsin den Inhalt beibehält. Das sind nur Kleinigkeiten.)

    „Onkelchens Traum“ ist als Satire gestaltet, hat mich dann doch überrascht, zumal ich das Frühwerk von Dostojewski weniger kenne und die Reife und Tiefe kaum voraussetzen konnte. Das Ganze wurde aber bereits nach seiner Verbannung verfasst und gewinnt daher erste Züge der Dostojewski’schen Prägnanz. Andererseits ist Tiefe bei dieser Geschichte gar nicht notwendig, vielmehr zeigt sich Dostojewski als ausgezeichneter Psychologe und erzählt gleichsam in ähnlichem Stil aus Tratsch und Klatsch, den seine Figuren pflegen, der vielleicht nicht jeden ansprechen mag, für meine Lesestimmung aber sehr anregend war. Da sprudelt die Story im Kleinstadt-Milieu nur so dahin und zieht auch so manchen Lacher nach sich.

    Erzählt wird die Geschichte einer angesehenen Gesellschaftsdame, die sich ihre hohe Position und Macht durch Tricks und Lügen erschlichen hat. Das ist in einer Gemeinschaft, die allgemein aus falschen, reichen und niederen Menschen besteht, nicht unbedingt hinderlich. Doch ein Skandal um die Tochter Sinaida machte der Dame unlängst zu schaffen, da diese sich ausgerechnet in einen armen Lehrer verliebte, der nicht passend für das Kind zu sein schien, und sie dann bei Ablehnung der Heirat öffentlich bloßstellte. Später bereut er und stirbt an Schwindsucht, während die Versöhnung am Totenbett rechtzeitig erfolgt, wobei Dostojewski bereits in diesem Roman das typische Repertoire hervorholt, das auch seinen anderen Roman eigen ist.
    Die Gestalt der Tochter Sina ist geprägt von Gutherzigkeit und Wahrheitswunsch, die Falschheit ihrer Mutter geht ihr gänzlich ab. Damit gesellt sie sich zu einer ganzen Reihe ähnlich gestalteter weiblicher Figuren in Dostojewskis Romanen.

    Die pikierte Gesellschaftsdame plant nun, Sina mit einem senilen alten Fürsten zu verheiraten, in der Hoffnung, dass dieser bald sterben und Sina alles erben würde. Die Planung und Ausführung wird spannend dargestellt und misslingt am Ende noch viel besser. Schritt für Schritt wird die Scheinheiligkeit der Gemeinde aufgedeckt, in ihrer Falschheit genauso wie in ihrem Klatsch
    Die Geschichte ist erstaunlich gelungen. wenn man davon absieht, sie mit seinen großen Werken zu vergleichen. Besonders schön sind Sina, der schusselige Fürst und die raffgierige Mutter Marija Alexandrowna dargestellt. Einen Höhepunkt bildet die Szene, als letztere ihren Mann für ihren Lügen-Auftritt benötigt und diesen dann ganz außerordentlich gut zur Sau macht, während sie ihn für den Vorgang präpariert, vorbereitet und ausstattet. Er darf nur „Hm“ antworten, wenn man ihn etwas fragt und erweist sich als lustiger Gegenpart zu dem ihn drangsalierenden keifenden Weib.

    Doch, hier hat Dostojewski so ewas wie Humor bewiesen, auch den typischen psychologischen Ernst, kombiniert mit einer guten Geschichte, die in sich stimmig ist. Die Guten gewinnen, die Schlechten zum Teil auch. Alles passt. Bei weitem gibt es schlechtere „Klassiker“. Mir hat das Buch gefallen.

     

     

    (Meine Rezension basiert auf der Gesamtausgabe von Zweitausendeins "Das Gut Stepantschikowo", Übersetzung: E. K. Rahsin)

  • Das Café der Existenzialisten

    Sonntag, 24. September 2017 - in Literatur

    Gedanken zu Sarah Bakewells

    „Das Café der Existenzialisten“

     

    „Der Mensch ist sich immer einen Schritt voraus und erfindet sich erst im Verlauf des Weges, den er beschreitet.“

     

    Ich habe selten ein Buch gelesen, dass so unterhaltsam, klar und informativ über den Existenzialismus und die Charaktere der involvierten Philosophen berichtet, dabei auch wichtige Denkanstöße gibt. Die gesamte Atmosphäre um Sartre, Beauvoir und co in den Pariser Cafés wird lebendig, das Erzählen reicht aber auch zurück auf die Vorreiter, darunter Kierkegaard, Husserl, Heidegger und viele andere.

     

    Anschaulich berichtet Bakewell über die Entstehung einer so einprägsamen philosophischen Richtung, die ja eigentlich mehr eine Art Lebensweise, eine Existenz- und Seins-Bejahung ist, dabei eine Liebe zur Freiheit und zur freien Entscheidung in sich trägt (vor der sich auch viele fürchten). Frei ist man, wenn man eine Entscheidung trifft. Genau und vielleicht nur in diesem kurzen Moment.

     

    Im Grunde wird der Mensch tatsächlich immer dann ernsthaft nachdenklich, wenn sein Leben aus den Spuren kippt, wenn er vor einer Entscheidung steht oder wenn er sich bewusst werden muss, wer er ist und was er will. Das kommt häufiger im Leben vor, als uns manchmal lieb ist und ist gleichzeitig der Punkt, an dem wir reifer werden, reflektieren können und sogar müssen, gerade weil wir selbst betroffen sind und nicht auf das Wissen von anderen zurückgreifen können. Die Entscheidung nimmt uns niemand ab. Wir können sogar entscheiden, uns nicht zu entscheiden, jedoch müssen wir uns damit auseinandersetzen.

     

    Gleichzeitig bleiben solche Momente eine Art Grundtendenz des Seins, auf die bereits Heidegger hinwies, umgeben von Gewohnheiten und Anpassungsprozessen, von gesellschaftlichen Regeln und politischen Entwicklungen. Nach Heidegger gewinnt der Mensch nur durch solche Prozesse im Leben und durch das Bewusstmachen des „Seins zum Tode“ sein wahres und authentisches Selbst. Dem stimme ich zu, und ich kann in diesen Äußerungen kaum faschistische Züge entdecken, auch wenn ich verstanden habe, worauf Bakewell hinauswill, um Heidegger in seinem politischen Denken zu zeigen (als wäre das so einfach festzulegen). Ihre Meinung teile ich nicht, denn die Aussage ist verständlich und richtig, ob sie nun politisch geprägt oder etwas „metaphysischer“ ist.

     

    Wäre der Mensch sich seiner Sterblichkeit nicht bewusst, würde er anders handeln, weniger riskieren, weniger Wünsche haben. Er würde sich wesentlich weniger weiterentwickeln und auch weniger den Blick auf sich selbst oder auf das Gewesene richten. Das ist, was Heidegger vermittelt und was ich in „Sein und Zeit“ aus dieser Aussage geschlussfolgert habe. In Bezug auf die Nazis wäre ein „wahres authentisches Selbst“ inmitten einer streng reglementierten und kontrollierten Politik (die das „Man-Selbst“ durch die Masse doch eigentlich totalitär prägt) auch eher nachteilig. Die "Selbstaufgabe" wäre hier doch vielmehr das Austreten aus dem vorgesetzten Sud.

     

    Wenn Heidegger kein Plädoyer aus dieser „Entschlossenheit, sich den Anforderungen seiner Zeit zu stellen“ gegen diese Art der Gleichschaltung macht, so ist der Kern dennoch enthalten, denn die Aussage zielt in alle Richtungen ab, ist ja gerade der Schritt im Für und im Wider. Immerhin trifft jeder Mensch die Entscheidung für sich selbst, kann sich bewusst für oder gegen etwas einsetzen. Das tut er aber nur durch sein authentisches Selbst.

     

    Laut Heidegger erfordert das Überwinden des „Mans“ immer das selbstständige Denken, alles andere wäre Scheinexistenz „fernab jeglicher Authentizität“. Auch die äußeren Umstände sind keine Ausrede; das schreibt Bakewell in den vorangegangen Seiten selbst. Das ist nichts anderes als Husserls "Verkrustung", die es ja auch gilt, aufzubrechen.

    Das Chaos um Heideggers „Schwarze Hefte“ ist natürlich ein Teilaspekt des Ganzen. Eigenartig (und dann auch wieder nicht), wie der verborgene Mensch den öffentlichen verdrängt oder erneuert, wie sich ein ganzes Werk auf einmal neu oder im Sinne der neuen Erkenntnisse verändert und umdeuten lässt.

    Das wiederum hat Heidegger ebenso erkannt, indem er sagte:

    "Wer sich auf das Unterwegs zum Auftenhalt im Ältesten des Alten einläßt, wird sich der Notwendigkeit fügen, später anders verstanden zu werden, als er sich selbst zu verstehen meinte."

    (Heidegger "Wegmarken")

     

    Der gesamte Aufbau dieses Buches ist dennoch sehr gelungen, an einigen Stellen darf der Leser auch häufiger schmunzeln. Für mich war Bakewells „Café“ eine Bereicherung und gewährte einen unkomplizierten Blick auf viele Werke dieser Philosophen, die man zwar für sich längst erschlossen hat, die aber durch Bakewell wieder farbenfroh aufgefrischt werden, ebenso wie die Zeit ihrer Entstehung.

     

     

    "Es gibt keinen vorgezeichneten Weg, der den Menschen zu seiner Rettung führt; er muss sich seinen Weg unablässig neu erfinden. Aber er ist frei, ihn zu erfinden, er ist verantwortlich, ohne Entschuldigung, und seine ganze Hoffnung liegt allein in ihm."

    (Jean-Paul Sartre im Interview mit Christian Grisoli)

     

     

    (Alle Zitate aus Sarah Bakewell "Das Café der Existenzialisten", C. H. Beck Verlag)

  • Camus und die Freiheit

    Sonntag, 21. Mai 2017 - in Literatur

    Gedanken zu:

     

    Albert Camus

    "Der glückliche Tod"

     

    „Zum Leben braucht man Zeit. Wie jedes Kunstwerk fordert es von einem, das man darüber nachdenkt.“

     

     

    In seinen Tagebüchern hielt Camus häufiger fest, wie lange und intensiv er über das Leben, den Sinn, die Armut, den Reichtum und das Glück in seiner Jugend nachgedacht hat. Er, der aus armen Verhältnissen stammte, kam zu der Erkenntnis, dass nur durch den Besitz von Geld auch Freiheit möglich ist. Diese Auffassung vertrat er zumindest in jungen Jahren, als er noch weit davon entfernt war, durch Schreiben gut zu verdienen. Diese Auffassung vertritt auch sein Protagonist Mersault in "Der glückliche Tod", eine Art Skizze für den späteren Meursault aus "Der Fremde".

     

    Die Meinung mögen manche teilen, an sich ist sie absurd (und natürlich muss dieses letzte Wort in Verbindung mit Camus doch mindestens einmal in einer solchen Rezension auftauchen). Glück und Freiheit hängen nicht von äußerlichen Bedingungen ab, sondern sind eine innere Einstellung zum Leben und natürlich auch an eine Definition gebunden.

    Freiheit in einer durchorganisierten Gesellschaft ist dann möglich, wenn man lernt, in den gegebenen Grenzen frei zu sein oder wenn man bereit ist, auf vieles zu verzichten. Sich frei fühlen - das kann ein Mensch für einen Augenblick oder durch das Umsetzen eines ihn erfüllenden Lebens.

     

    So sehr im Roman auch betont wird, dass nur durch Reichtum Zeit genug bleibt, das Glück und Leben richtig zu erfassen, so sehr wird auch vermittelt, dass es tatsächlich nur wenig zufriedene reiche Menschen gibt. Armut und Reichtum sind beide gleich fordernd mit unterschiedlichen Lebensbedingungen. Freiheit aber ist dann doch etwas ganz anderes.

     

    Camus teilt die Ansicht mit vielen Menschen, dass Geld „die Welt“ öffnet. Er meint aber eher Unabhängigkeit als tatsächlich Freiheit, eine Deutung, die bis heute philosophisch wegdiskutiert wird, ob nun abhängig vom Körper, abhängig vom Staat, von Systemen, Glaube, Job, Familie … usw. Freiheit aber, so wie ich sie verstehe, ist der Schritt, der sich - selbstbewusst ins Leben gesetzt - nach eigenen Regeln als Fußabdruck formt, ein Schritt, der den Weg erst festlegt, der mit jedem weiteren Schritt entsteht. Freiheit ist als Erkenntnis möglich, in den vom Menschen selbst akzeptierten Grenzen, die durch die Akzeptanz dann keine wirklichen Begrenzungen mehr sind.

     

    Wieviele Bedingungen im Leben im Grunde nur Illusion sind, haben nicht nur fernöstliche Schriften und die ZEN-Kultur vermittelt. Das Streben an sich schafft schon die eigenen Gitterstäbe, sich in seinen Erwartungen und Hoffnungen auf das "Mehr im Leben" in gleichen Maßen zu verkleinern. Wir selbst formen die Konturen dessen, was wir sehen und sehen wollen. Freiheit beginnt schon mit dem Loslösen von selbst auferlegten Ketten. Was uns wiederum die Natur an Unfreiheit diktiert, ist letztendlich wenig und hindert uns nicht daran, uns frei fühlen zu können. Im Gegenteil ermöglicht die Natur genau diese menschliche Gabe.

    Hier trifft das für mich schönste und wahre Zitat aus dem Buch den Kern aller Dinge:

    „Wir haben keine Zeit, wir selber zu sein. Wir haben einzig Zeit, glücklich zu sein.“

     

    Bei Epiktet im "Handbuch zur Moral" stehen die bedeutenden Worte:

    "Wer frei sein will, muss nichts begehren und nichts fürchten, was in eines anderen Macht steht."

    Der Weg zur Freiheit führt, laut Epiktet, über die Verachtung der Dinge, die wir nicht in der Hand haben und die uns darum auch nicht tangieren sollten. Der Stoiker nimmt hin, was er nicht lenken kann, ohne zu murren.

    Und auf dem Grabstein von Kazantzakis findet man ähnliche Worte:

    "Δεν ελπίζω τίποτα. Δε φοβούμαι τίποτα. Είμαι λέφτερος.“

    (Zu Deutsch: "Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.“)

     

    Das sind die Grundtendenzen einer Ahnung dessen, was Freiheit ist. Und ich glaube nicht, dass so eine Freiheit erst im Tod möglich ist, selbst wenn Furcht und Hoffnung nie ganz verschwinden.

    Hört man auf, zu erwarten, regeln sich die Dinge von alleine. Weiß man, dass alles, was uns unglücklich macht auch gleichzeitig zu einer Selbsterkenntnis und einer neuen Stärke verhilft, nähert man sich dem, was Freiheit ist.

     

    Freiheit ist daher nicht nur eine Theorie. Sie wird innerlich geboren, vielleicht unter Schmerzen, wie in gleicher Weise Camus' Protagonist Mersault erst durch Fieber das findet, was er vorher vergeblich gesucht hat.

    Freiheit, Glück – das sind nicht nur Begriffe, sondern eine Erkenntnis, die Zeit benötigt. Und Geld hat im Grunde wenig damit zu tun.

     

    Sicherlich war ein Diogenes trotz dem Leben in der Tonne freier als Alexander der Große, der alles besaß und ihm aus der Sonne gehen sollte. Im Buddhismus gibt es die Geschichte des Königs, der den Bettler in sein Schloss einlädt, um herauszufinden, weshalb er so zufrieden und geachtet ist, dann nicht begreift, was ihn tatsächlich unterscheidet. Der Bettler zeigt ihm, dass er den Luxus genauso wie der König genießt, solange er eingeladen ist, dass aber jederzeit weiterziehen kann, während der König an seinen Reichtum gebunden ist. Auch das ist innere Freiheit, aber noch nicht Glück.

     

    Ein Mensch, der um das tägliche Brot ringt, hat wenig Zeit, um über Freiheit, Glück und Leben nachzudenken. Er schuftet oder ringt um die Existenz. Er flucht und krümmt sich im Unglück. Ihm wird nichts geschenkt, da er innerlich im Grunde gar nicht bereit ist, sich einem anderen Leben zu öffnen. Im Roman heißt es:

    „Wenn man an guten Tagen dem Leben Vertrauen schenkt, zwingt man es, dem auch zu entsprechen.“

    Nur muss das Vertrauen erst einmal aufkommen.

     

    Der Stil in diesem Frühwerk ist noch etwas blumiger als der, den man von den späteren Werken Camus‘ gewöhnt ist, wo er gelernt hat, die Sätze zu verkürzen und das Wesentliche zu zeigen, sei es z. B. in Meisterwerken wie „Der Fall“ oder „Die Pest“. Angekreidet wurde ihm auch häufig der unorganisierte Aufbau und viele unzusammenhängende Szenen, die mich allerdings weniger gestört haben.

    In „Der glückliche Tod“ zelebriert Camus die Landschaft, die Wärme, das Licht. Er schafft durch Bilder die heimatliche Atmosphäre, die auch den Leser erreicht, selbst wenn die Sätze noch nicht ausgefeilt sind. So erahnt man das funkelnde Meer, die Gerüche, den Staub, das Salz auf der Haut und den Geschmack der Früchte. Man erahnt die durch alles durchschimmernden Möglichkeiten des Lebens.

     

     

    Der Roman beginnt mit einem Schuss in den Kopf eines Krüppels, der einen Abschiedsbrief hinterlässt, den er vorsorglich schon viel früher geschrieben hat. Geschossen hat aber nicht er selbst, sondern Patrice Mersault. Der Leser muss für sich klären, inwieweit dieser Tod erwünscht war oder ob Mersault aus Habgier die Entscheidung vorschnell für beide getroffen hat, um an das Kapital des Krüppels zu gelangen. Gelernt hat er von diesem, dass der Mensch ein Recht auf Glück hat und dass er verstehen muss, dass das Streben nach Glück den einzigen wirklichen Wert ausmacht, wofür aber auch ein gesunder Körper notwendig ist.

     

    Gerade der vom Leben geprüfte Krüppel Zagreus erkennt zu spät, dass es mehr im Leben gibt als Erfolg und Geld. Er sieht darum umso deutlicher, dass der gesunde und junge Mensch die Einfachheit des Lebens nicht anerkennen will, so auch Mersault mit seinen ewigen Selbstzweifeln und Maskeraden, von denen jede Maske für ihn die echtere und bessere ist, sobald sie seiner Stimmung entspricht. Dennoch sind sie Masken, die fallen müssen.

    Weit entfernt davon, einen Menschen zu lieben, macht sich Mersault nach dem Schuss auf die Suche nach dem Glück, da er nun über genügend Geld verfügt. Er durchquert große Städte wie Prag und Wien, um sich selbst zu erkennen, verfolgt von seinem Schuldgefühl und einem Fieber, das ihn häufiger überfällt, bis er schließlich in Algier landet.

     

    Was ihn, noch bevor der Schuss erfolgte, am Glück hinderte, so Mersault, war der träge Bürojob, der nicht zuließ, dass er wahrhaft frei sein konnte. Aber „das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit ist nur bei einem Menschen denkbar, der noch von Hoffnung lebt.“

     Mersault kommt dem näher, als er in Algier mit Freunden im „Haus vor der Welt“ lebt und sein Dasein mit einem Scheinjob rechtfertigt, den er von dem Blutgeld aufrechterhält, das er Zagreus abgenommen hat, für den befreienden Akt, dessen Leben ohne Körper ein Ende zu bereiten.

    „Ich würde kein Experiment aus meinem Dasein machen. Ich selber würde das Experiment meines Lebens sein…“, sagt sich Mersault. Am Meer, in der brennenden Hitze, zwischen glühenden Körpern und in den glasklaren Sternennächten von Algier erahnt er die Möglichkeiten, die das Leben bereithält. In diesen Textpassagen schimmert auch viel Autobiografisches durch. Und tatsächlich muss der Mensch erst lernen, glücklich zu sein. Das ist eine These, die Camus sehr häufig vertreten hat, wenn auch hier, im Roman, mit gewissen Einschränkungen:

    „Nur braucht es, um glücklich zu sein, Zeit. Sehr viel Zeit. Auch Glücklichsein erfordert viel Geduld. Und in fast allen Fällen bringen wir unser Leben damit hin, Geld zu verdienen, während man Geld haben müsste, um Zeit für sich zu gewinnen.“

     

    Das, was er mit dem Job erreicht, ist Unabhängigkeit, eine, bei der er nicht erklären muss, was er tut.

    „Es genügt tatsächlich, der Welt ein Gesicht vorzuzeigen, das sie verstehen kann.“

     

    Nach einer oberflächlichen Heirat mit der egoistischen Bedingung, dass seine Frau Lucienne ihn nur dann aufsuchen soll, wenn er sie benötigt, kauft sich Mersault ein abgelegenes Haus, um sich in der Einsamkeit zu erproben, die ihn erschreckt, dann läutert, bis die ersten Anzeichen seiner Krankheit durchschimmern und ein neuer Weg bevorsteht.

    Die Andeutung zuvor, dass der Tod das Leben begleitet, endet in der Vertiefung vom Glück und Willen zum Leben. Denn nur wer alles ausschöpft, wird die Angst vor dem Tod überwinden, weil er nichts mehr zu verlieren hat und auf das Leben als Geschenk zurückblickt. Wer Angst vor dem Tod hat, klammert sich an das, was lebendig ist und an die noch nicht entschiedenen und gelebten Ideen und Handlungen.

    Der Tod repräsentiert dann all das, was nicht gelebt wurde, ein Leben, das im Grunde dann auch nicht existiert. Das Nichts geht über in ein Nichts. Es ist schade, wenn der Mensch das alles erst kurz vor seinem Tod begreift. Wer sich dem Leben jede Sekunde bewusst ist, wird auch die für ihn notwendigen Entscheidungen treffen.

     

    Die Quintessenz des Romans ist die Einsicht, die Mersault am Ende gewinnt:

    „Man wird nicht stark, schwach oder eigenwillig geboren. Man wird stark, man erwirbt einen klaren Blick. Das Schicksal liegt nicht im Menschen, sondern es umgibt ihn.“

    Das also, was wir Schicksal nennen, ist das, was wir aus uns machen. Wir sind Schöpfer unserer selbst, und diese Einsicht teile ich dann auch wieder mit dem damals noch jungen Camus.

     

     

    (Alle Zitate aus Albert Camus "Der glückliche Tod", Rowohlt Verlag. Rezension: Annelie Jagenholz)

  • Das Buch vom Es

    Dienstag, 6. Dezember 2016 - in Literatur

    "Das Buch vom Es" von Georg Groddeck 

    Eine späte Rezension

     

     

    Ein interessante Entdeckung ist „Das Buch vom Es“, bestehend aus Briefen, die der Arzt und spätere Psychoanalytiker Georg Groddeck alias Patrik Troll an seine Freundin schreibt, um ihr seine Sicht über die inneren Abgründe und das Unbewusste im Menschen, das er als ES bezeichnet, zu erläutern. Groddeck war (natürlich und merklich) ein Jünger Freuds, während Freud sich dann später an dessen ES bediente. Groddeck alleine ging dann so weit, die unbewusst mentalen Vorgänge auch auf die körperlichen Eigenschaften und Beschwerden zu beziehen, um so eine bessere Heilung zu ermöglichen.

     

    Die Briefe sind teilweise ernst, aber auch humorvoll verfasst, immer von einem Zwinkern begleitet. Groddeck oder sein Alter-Ego Troll erheben keinerlei Anspruch auf „die Wahrheit“. Er verweist nur auf das, was er als Mediziner erkannt hat. Dazwischen ist auch viel Deutung, die meistens auf das Sexuelle zurückführt.

    Die Briefe wechseln zwischen persönlichen Erfahrungen und dem Versuch, die eigenen Erkenntnisse in Worte zu fassen. Der Zweifel an dem Berichteten geht dabei Hand in Hand mit dem Augenzwinkern. Das liest sich unglaublich erfrischend und spannend.

     

    Um was also geht es?

    Das ES ist für Groddeck eine Art Grundsubstanz, die auch in viele ES ausströmt und wirkt, und dabei alles erschafft.

    Bevor das Hirn da ist, schafft das ES sich ein Hirn. Bevor die Atmung und Lunge vorhanden sind, werden sie vom ES geformt.

    Das Es ist eine Art Vorher, ein Vorhandenes, das Organe und den gesamten Aufbau des Organismus bewältigt. Das bewirkt ebenfalls, dass später der lebendige Leib und das Gehirn durch das ES kontrolliert werden und genauso verändert werden können. Das ES von Groddeck ist also keinesfalls nur das Unbewusste.

     

    „Das Es lebt den Menschen, es ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund und krank werden lässt, kurz, die ihn lebt.“

     

    Dieses ES kontrolliert die gesamten Gewohnheiten des Menschen, dessen Leben in erster Linie aus Verdrängungen besteht.

    Seit der Kindheit beginnt der Mensch durch aufgezwungene Verbote all das zu verdrängen, was ihm zuvor ganz natürlich war. Das Kind ist arglos, und kehrt der Mensch später durch Erkenntnis zum Kindlichen (nicht Kindischen) zurück, kann er sich befreien oder wird sich wenigstens der Mechanismen durch sein Es bewusster. Da fallen der Freud’sche Ödipuskomplex, die Kastrationsangst und die Onanie gleich schwerwiegend ins Gewicht, während alles Symbol wird und Hinweis auf Verdrängung bleibt.

     

    „Sie wissen, Erziehung beseitigt nichts, sie verdrängt nur.“

     

    Im Grunde, so Groddeck, ist der Mensch ein reiner Narziss. (Selbst Geschlechtsverkehr ist nur Ersatz für die Onanie, nicht umgekehrt, und für die Selbstbefriedigung sucht der Mensch nach allen vorhandenen Möglichkeiten, die ihm das Leben bietet, darunter eben auch andere Menschen. Daher ist der Fortpflanzungstrieb nicht das treibende Element, sondern vielmehr die Lust an der Befriedigung.)

    Der Mensch liebt nicht andere, sondern ausschließlich sich selbst, ist daher auch sein Leben lang (bewusst oder unbewusst) bisexuell, da er sich der Menschen nur für den Zweck der Lustbeschaffung und Selbstbefriedigung bedient. Diese Lust, wen wundert es, betrachtet man die gesellschaftlichen Tabus vergangener und heutiger Zeiten, bleibt eines der wesentlichen Schuldkomplexe und Verdrängungsmuster und zieht häufig unbewusste Selbstbestrafung nach sich. Während der Mensch Bescheidenheit lehrt, ist er einzig eitel und auf sich selbst bezogen. Das gesamte Streben ist darauf ausgerichtet.

     

    Nach Groddeck heißt es nicht umsonst aus dem Mund Jesus: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es heißt nicht: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst. Auch Homosexualität ist für ihn dann nichts anderes als Selbstliebe, Narzissmus und Selbstbefriedigung zum Zweck der Lustgewinnung.

     

    Der Narzissmus zeigt sich nach dieser Theorie in allem. Jeder Mensch nimmt nur das in seiner Umwelt wahr, das ihn selbst betrifft und was er selbst ist. Alles, was ihm begegnet, sei es Ding, Mensch oder Idee, projiziert er auf sich selbst und sich selbst auf die Dinge, Menschen, Ideen. Dann ist es auch nicht verwunderlich, dass er in anderen Menschen meistens das verurteilt, was er selbst unbewusst begehrt (wer die Lüge verabscheut, ist selbst ein Lügner, alleine darum, weil er nicht nur das geeignete Wissen für die Erkenntnis hat, dass der andere gerade lügt, sondern weil er mit dem eigenen Schuld- und Verdrängungsprozess konfrontiert wird und sich dagegen wehrt, indem er dann abschätzend mit dem Finger auf andere zeigt und die Schuld so von sich ablenkt.)

     

    Verdrängung ist der Grundmechanismus des Lebens und damit die Eigenschaft des ES, das aufgrund dieser Basis handelt. So ist es gleichermaßen kulturschaffend und kulturzerstörend, ermöglicht hohe Dichtung und Mord. Dazu fühlt sich der Mensch von Natur aus zum Leid hingezogen und sucht unbewusst Situationen, die ihm den ersehnten Schmerz, sei es geistiger oder körperlicher Art, ermöglichen, was ein Akt der Selbstbestrafung und die Verdrängung der Schuld ist. Selbst diese Neigung wird alleine durch das ES bestimmt.

     

    Das ES meldet sich immer dann, wenn der Verdrängungsprozess mit Schuldgefühl einhergeht, ohne bestimmte Bedingungen voneinander zu trennen. Das Es ist nicht rational und denkt auch nicht rational, sondern in anderen Dimensionen reinen Ausdrucks.

    Für das ES existieren keine Grenzen oder abgegrenzten Begriffe. Es arbeitet alleine mit Begriffsgebieten und Komplexen. So kann ein innerlicher Vorwurf genauso Bestrafung nach sich ziehen wie der Wunsch nach Befriedigung, ohne dass der Mensch das Schuldbewusstsein erkennt.

    Das führt soweit, dass nicht nur Gewohnheiten angenommen werden, die unbewusst ausgeführt werden, sondern auch schlimme Krankheiten entstehen, die nicht nur eine psychosomatische Ursache haben, sondern auch ein einfacher Armbruch sein können.

    Für Groddeck steht fest, dass der Mensch, der sich den Arm bricht, die Verletzung unbewusst durch sein ES provoziert. Die Erkrankung, welcher Art auch immer, ist das Symbol, dessen sich das ES bedient, um den innerlichen Vorgang auszudrücken. Groddeck bezeichnet es als das „Theaterspiel des Es“.

     

    In den Briefen berichtet er auch viel von sich selbst, seiner Kindheit, seinen eigenen Komplexen, Verdrängungen, Erkenntnissen, erzählt darunter, wie er seine Sichtweise vom Mediziner zum Analytiker gewechselt hat, wobei er ein Gegner der Wissenschaft ist.

    Wo er zuvor Helfer war, also Arzt, wurde er selbst im Laufe seines Lebens krank und lustlos, so dass eine Patientin durch ihr ES auf einmal Einwirkung auf sein ES und damit sein Verhalten und Denken hatte. Auch das geschah zunächst eher unbewusst.

    Dadurch erkannte Groddeck, dass alles Symbol ist und dass Symbole auch der Ausdruck des ES sind. Dieses unterscheidet nicht in mentale und physische Bedingungen, auch nicht in gute oder schlechte Taten. Es handelt, um den Menschen mit Hilfe eines Symbols etwas zu verdeutlichen, sei es, seine Schuld, sei es, um ihn von bestimmten Absichten oder Gedanken fernzuhalten, usw.

     

    So ist auch die Krankheit letztendlich keine Gegner oder etwas Negatives, sondern der Ausdruck des individuellen ES, auf den Groddeck reagiert. Aber nicht als Ratgeber und Arzt, sondern als Erforscher, der versucht, den Hintergrund aufzulösen, weshalb das ES bei seinen Patienten die Krankheit überhaupt ins Leben gerufen hat. Nach Groddeck wird die Krankheit dann aufgelöst, wenn die Ursache bekannt ist, z. B. eine Verdrängung oder die Angst vor der Kastration oder der simple Mutterkomplex. Dabei ist das ES strafend und heilend zugleich.

    Groddeck sagt, die Natur heilt. Das ES heilt in gleichen Maßen wie es die Krankheit hervorruft. Nicht er als Arzt ist der Heiler, sondern trägt nur als Berater dazu bei, dem ES die Heilung zu ermöglichen.

     

    Mitunter kommen ihm auch sehr buddhistische Erkenntnisse, die er in Worte zu fassen versucht, während er dabei immer sympathisch lächelt.

     

    „Ich ist durchaus nicht Ich, sondern eine fortwährend wechselnde Form, in der das Es sich offenbart, und das Ichgefühl ist ein Kniff des Es, den Menschen in seiner Selbsterkenntnis irrezumachen, ihm das Sich-selbst-Belügen leichter zu machen, ihn zu einem gefügigeren Werkzeug des Lebens zu machen.“

     

    Nach Groddeck erlernt der Mensch sein Ich, das allmählich in ihm heranwächst. Es gibt auch nicht nur ein Ich, sondern etliche Ichs, die gleichzeitig im Menschen vorhanden sind.

    Schließlich ist es nicht verwunderlich, dass sich der Mensch in dem Wust seiner Ichs nicht mehr zurechtfindet.

     

    Das Ichbewusstsein spricht Groddeck aber auch dem Embryo, dem Organ oder Gewebe zu. Der Hintergrund beruht darauf, dass jede ES-Einheit im Körper sich eine eigene Individualität, also ein Ich erschafft. Das kann wiederum nach sich ziehen, dass Körper und menschlicher Wille gegensätzlich aufeinander reagieren.

    Während der Mund z. B. einen Kuss ersehnt, wehrt sich die Lippe gegen die Berührung (aufgrund welcher Hintergründe auch immer, darunter Schuld, Bestrafung, Komplex usw.) und bildet eine Blase oder schwillt an. Genauso stirbt der Mensch dann, wenn er es unbewusst beschließt, besser gesagt, wenn sein ES den Tod für notwendig hält.

    Wie das ES die Organe gebildet hat, um darin zu existieren, kann es jederzeit Einfluss auf die Organe nehmen. Dann muss das Ich des ES der einzelnen Organe oder Glieder dazu überredet werden, sich dem Willen des Gesamt-ES und Gesamt-Ichs wieder anzupassen, woraufhin die Symptome verschwinden.

    Das ES und das Ich sind daher nicht das Gleiche, sondern das Ich ist immer die Projektion des ES, wobei Einheiten und Gesamtheit auch gegeneinander wirken können.

     

    „Gesundheit, Krankheit, Talent, Tat und Gedanke, vor allem aber das Wahrnehmen und Wollen und das Selbstbewusstwerden sind nur Leistungen des Es, Lebensäußerungen. Über das Es selbst wissen wir nichts.“

     

    Das ES macht Gebrauch von Ich-Einheiten und Symbolen, bedient sich an der ES-Gesamtheit und Ich-Gesamtheit ebenso wie an einzelnen Einheiten, um etwas bewusst werden zu lassen oder etwas zu verdrängen. Gerade das Verdrängte wird in Kammern geschoben und kann dann durch Erinnern oder Überlegung wieder dem Gesamtbewusstsein zugeführt werden.

    Das ermöglicht wiederum auch eine Behandlung, die verschiedene Wege gehen, naturheilwirksam oder wissenschaftlich vorgenommen werden kann, wobei es nur darauf ankommt, was der Mensch (oder der Kranke) und genauer, sein ES, akzeptiert und annimmt. So gibt es kein Allheilmittel für jeden Kranken, sondern nur die Heilung im Menschen selbst, durch Anregung, Erinnern und Erkennen der Ursache. Und ganz oben steht der Versuch, Unbewusstes bewusst zu machen, wodurch der Heilungsprozess eingeleitet wird.

     

    Das, was der Arzt versuchen kann, ist lediglich die Probe einer Anwendung, wie ein blindes Herumtappen im Dunkeln mit dem Wunsch, das ES günstig zu stimmen. Dabei bleibt der Hintergrund bestehen, dass nicht der Arzt die Heilung bewirkt, sondern der Kranke selbst aus eigener Kraft.

     

    Hier muss man bedenken, wann Groddeck diese Erfahrungen machte und erkannte. „Das Buch vom Es“ wurde 1923 veröffentlicht und stellt im Grunde ja nur eine Zusammenfassung eigener und vorangegangener Erfahrungen dar. Nicht umsonst ist Groddeck der Vater der Psychosomatik.

    Er war einer der ersten Mediziner, der forderte, organische Erkrankungen mit Hilfe der Psychoanalyse zu behandeln. Für ihn war die mentale Ebene ein wichtiges Element mit Einfluss auf die körperliche. Geist, Seele und Körper bildeten in seiner Sichtweise die eigentliche Einheit, verkörpert durch sein ES. Damit ist er erstaunlich modern, betrachtet man die heutigen Heil- und Naturverfahren, auf die sich mehr und mehr zurückbesonnen wird. Das Moderne zeigt sich nebenbei auch in seinem Schreibstil und Humor. Das Leben, so Groddeck, ist schließlich schon ernst genug. Was an den Erkenntnissen selbst nun glaubhaft ist und was Unsinn, bleibt letztendlich  dem Leser überlassen.

     

     

    (Georg Groddeck, "Das Buch vom Es", Gemeinfreier Text bei "Projekt Gutenberg", Rezension: Annelie Jagenholz)

  • Gegen den Größenwahn der Durchschnittlichen

    Sonntag, 14. April 2013 - in Literatur



    „Im Besonderen erzürnte ihn bei diesen mittleren Schriftstellern der Hochmut, ihr Olympiertum, jenes Bewusstsein ihrer Bedeutung, das bei ihnen tatsächlich stärker ausgeprägt ist, als bei solchen, die wirklich herausragend sind.“

     

    Das schrieb Chodassewitsch* in seinen Erinnerungen. Gemeint ist hier das Wesen bzw. die Einstellung von Gorki**.

    Emmanuel Bove*** hat es noch besser ausgedrückt:

     

    „Der Erfolg verdreht nur jenen den Kopf, die den eigenen Wert überschätzen.“

     

    („Journal, geschrieben im Winter“)

     

     

    -----

    *  (Die Erinnerungen von Wladislaw Chodassewitsch, unter der Ausgabe „Nekropolis“ zusammengefasst, sind übrigens ganz hervorragend geschrieben und ein wichtiges Zeitdokument für das „silberne Zeitalter“, da es aus der Sicht des Dichters und Künstlers, nicht Historikers verfasst ist. Chodassewitsch hat einen faszinierend klaren Stil, durch den all die, die bekannt und die, die unbekannt, die schrieben, dichteten, Kunst schufen oder ganz einfach die nach innen gerichteten Kunstwerke ihrer selbst waren, lebendig werden, so menschlich und lebendig, wie sie bei ihm auch sterben und in ihren Schöpfungen und der einstigen Anwesenheit ihre ganz eigenen Gesichter zeigen.)

     

    ** (… Gorki, der alles las und sich für alles interessierte, ein Elefantengedächtnis hatte, dass er bei anderen den Kopf schüttelte, wenn sie über ein Ereignis, das irgendwann in irgendeiner kleinen Zeitung stand, nicht aufgeklärt waren, der alles mit dem Korrekturstift las, sogar die Zeitungen, auch oder gerade dann, wenn er sie danach wegwarf. Der fasziniert von Betrügern und Dieben war, dass es fast schon „an Protektion grenzte“ … )

     

    *** (Naja. Warum nicht auch zu ihm noch eine Anmerkung. Obwohl, zu Emmanuel Bove muss man eigentlich nichts sagen. Dieser Schriftsteller steht auf seinem ganz eigenen Thron. Für mich einer der größten unter denen, die „hinausschrieben“, was hinaus musste, der den aus der Gesellschaft verstoßenen Außenseiter, der für die eigene Freiheit (und sei es Lustlosigkeit) kämpft,  auf ganz eigene Art und Weise ins Wort kleidete. Bin ich eine Boveianerin? Jawohl. Ich bin eine.)

     

     

     

     

     

    (c) Annelie Jagenholz

  • Marionette oder Mensch

    Montag, 8. April 2013 - in Literatur

    „Doch wahre Reisende sind nur solche, die fortgehen

    Um fortzugehen, die Herzen leicht, ähnlich den Ballons;

    Die sich von ihrem Geschick nie unterscheiden

    und immer sagen „Gehen wir!“, ohne zu wissen, warum.“

     

    (Baudelaire)

     

     

    Eines der schönsten Gedankenspiele Heinrich von Kleists ist sein Essay "Über das Marionettentheater". Dieses Gespräch entfacht beim Leser sofort eine ganze Gedankenflut, die ihn einmal mehr auf sich selbst zurückwirft, ist zeitunabhängig und ewig aktuell.

    Kleist hatte eine Nomadenseele, war ständig auf der Suche nach sich selbst und hielt es an keinem Ort lange aus. Er schlug seine Wurzeln nicht in Häuser und Stühle, war nicht bereit, sich in ein Muster pressen, sich Stellungen aufzwingen zu lassen oder einem Kleist-Abbild zu entsprechen, das verfremdet alleine Erwartungen erfüllte. Das machte ihn mitunter zu einer unsteten Seele, der es nicht gelang, zu sich selbst zu finden. Die Kant-Krise, die ihn überfiel, dass die Wahrheit der Dinge nie zutage treten würde, so sehr er auch danach forschte, dass alles, was er erblickte, verfälscht war, spiegelt die Sehnsucht Kleists wider, eine innere Sicherheit finden zu wollen, die ihm letztendlich nur im Tod möglich schien, wo er sich gegen Ende seines Lebens so innerlich wund fühlte, dass ihm, wenn er die Nase zum Fenster hinaushielt, das Tageslicht schmerzte. Dennoch zeugen seine Schriften und Werke von jener Suche.

     

     

    "Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist."

     

     (Heinrich von Kleist "Über das Marionettentheater")


    In seinem Essay führt Kleist dem Leser eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen vor Augen, die darüber diskutieren, ob eine mechanisch gelenkte Marionette mehr Grazie durch ihre Berechnung und Führung entwickeln könnte als ein lebendiger Tänzer. Der Tänzer bewundert den Schwerpunkt der Marionette an ihren Fäden, träumt davon, eine perfekte Figur zu erschaffen, die jenen göttlichen Funken wiedergeben könnte, der im Tanz erahnt, von Menschen und Tänzern jedoch selten erreicht wird, denn der Mensch ist nicht perfekt und ringt mit seinen geistigen und körperlichen Gebrechen, seinen Selbstzweifeln, seinem Unvermögen, perfekt zu sein.

     

    Das Gespräch führt bis hin zu Beinprothesen, die als Wunder der Mechanik nicht nur den Schritt wieder möglich machen, sondern gar im Kreis ihrer Möglichkeiten einen ganz eigenen Tanz, doch was dem Menschen tatsächlich fehlt, ist etwas ganz anderes, die Einfachheit seiner selbst, nicht um seines Körpers, nicht um seines Tanzes willen, sondern um eine natürliche und schöne Seele bereichert, wie auch der Mensch dankbar zu sein hat, für das, was er ist und kann.

     

    Lukian schrieb:

    "Wahrhaftig, guter Charon, du würdest keine Worte finden, das Lächerliche
    der eitlen Bestrebungen zu schildern, in welchem die Menschen sich abmühen."

     

    Darauf möchte auch Kleist hinaus. Sein Ich-Erzähler berichtet dem Tänzer die Geschichte eines jungen Narziss‘, der sich in ganz natürlicher Bewegung einen Splitter aus dem Fuß holt, sich in dieser Haltung im Spiegel erblickt und dabei selbst gefällt. Als ihm dann geraten wird, die Haltung zu wiederholen, da er sie nie wieder in gleicher Eleganz erreichen würde, versucht er sich daran und muss einsehen, dass es der Wahrheit entspricht, die natürliche Haltung durch den Versuch ins unnatürliche kippt. Nach einem Jahr hat sich der eitle junge Mensch verändert, hat jede Spur an Lieblichkeit und Fröhlichkeit eingebüßt. Was er aber wirklich verloren hat, darauf will Kleist wohl hinaus, ist seine Selbstsicherheit, sein Vertrauen, und damit das, was jeden Menschen, selbst wenn er nicht perfekt ist, ausmacht, die eigene Persönlichkeit, genauso, wie sie ist, das Natürliche seiner selbst, damit der Einklang zwischen Körper und Geist, Natur und Sein, Mensch und „Gott“. Diese Natürlichkeit ist nicht nachahmbar, nicht durch die perfekte, mechanisch gelenkte Marionette, nicht durch angeeignete Fähigkeiten und neue Strategien, nicht durch Techniken oder Kunstfertigkeiten, nicht durch den Blick in den Spiegel aller Äußerlichkeiten, nicht im Versuch, etwas Gegebenes ständig verbessern zu müssen und damit immer mehr zu verfälschen.

     

    Mit der Erkenntnis, so Kleist, wich die Unschuld. Das, was der Mensch natürlich in sich fühlt, durchwandert nun den Verstand und wird aus seiner Leichtigkeit gerissen, um in verzweigten Labyrinthgedanken den Faden zu verlieren. So soll der Mensch danach streben, seine Unschuld zurückzuerlangen, nicht durch unnatürliche Versuche, sich selbst zu bestimmen, sondern im Loslassen seiner antrainierten Bewegungen als ein natürliches Zurückfallen auf sich selbst, um sich selbst zu spüren und führen zu können wie der Marionettenspieler seine Figuren. Es geht nicht um Vollkommenheit. Es geht alleine um das Mensch-Sein, den in jedem Menschen vorhandenen inneren Buddha zu beleben, denn die meisten leben vor sich hin, wie es Goethe formulierte:

     

    "Wundersam eigen,
    Die sich immerfort selbst erzeugen
    Und niemals wissen, was sie sind."


    (Goethe, Faust II)

     

     

     

    "Konstrukt"




    © Annelie Jagenholz

  • Die Faszination "Dostojewski"

    Dienstag, 8. Januar 2013 - in Literatur

    Es gibt keinen Autor, der widersprüchlichere Meinungen über sich und sein Werk hervorrufen könnte, als es Dostojewski tut. Die einen halten ihn für einen Propheten, für einen großen Psychologen seiner Zeit, die anderen können mit ihm und dem Rasenden in seinen Zeilen, dem Gefühls-Überladenen oder der ewigen Suche nach Gott und Mensch überhaupt nichts anfangen. Das gilt nicht nur für das Heute, sondern war auch zu Dostojewskis Lebzeiten der Fall. Während sein Erstling "Arme Leute" Begeisterung hervorrief, wirkte sein beeindruckender "Doppelgänger" ganz anders und wurde von der Kritik (Belinskij und co) völlig zerrissen. Tatsächlich hat Dostojewskis Werk seine Höhen und Tiefen, glänzt durch Philosophie ebenso wie durch die Geschwätzigkeit seiner Figuren. Das aber unter diesen Dingen noch etwas anderes hervordrängt, das ist für mich unbestreitbar.

     

    Wenn die Frage gestellt wird, weshalb viele Menschen, die eigentlich wissen, wo sie im Leben stehen, die "geistige Mühe" auf sich nehmen, ihn zu lesen, gerade in der heute aufgeklärten Zeit, wo diese großen Fragen der Menschheit fast unbedeutend scheinen, dann versuche ich für mich die Worte zu finden, die zusammenfassen könnten, weshalb mir sein Werk so bedeutend, so lieb, so unersetzlich ist. Dostojewski, welches Werk auch immer ich von ihm lese, bleibt in meinen Augen eine unveränderliche Größe, ein unglaublicher Schriftsteller, der weit über seine Zeit hinauswirkt. Um zu wissen, was es ist, das mich so fasziniert, musste ich tiefer in mich hineinhören und denke, ich habe eine Antwort gefunden.

     

     

    Für mich ist Dostojewskis Werk weder schwierig noch kompliziert, weder unzugänglich noch zu gefühlsbetont. Es ist also keine Last, ihn zu lesen, sondern hat gerade mit jener bewussten und bestimmenden Lebensform zu tun, die ich für mich gefunden habe und die sich an den Zeilen Dostojewskis immer wieder aufs Neue stärkt und nährt, wie ein Dürstender in der Wüste.

    Für mich stellt sich die Frage andersherum, wie es sein kann, dass jemand in Dostojewskis Werk nichts findet (was jetzt tatsächlich nur ein Erstaunen ist, kein Unverständnis per se). Für mich beinhaltet sein Werk etliche existentielle Dinge, nicht nur, durch das, was er schreibt, sondern bereits in der Auferstehung seiner Figuren und Gespräche, seiner Auffassung von der Welt, seinem Menschlich-Sein im Roman. Seine Hinterfragungen führen für mich viel weiter, als mir tatsächlich als geistige Hilfe dient oder auch nur dienen könnte. Es ist extremer, tief emotional, wie ein durch Dostojewski gelenkter Blick in den Spiegel und auf mich selbst, um zu sehen, wie ich selbst handele, denke, in der Welt agiere.

    Die Fragen, die er stellt, die er ganz explizit an den Menschen richtet, unabhängig von der Zeit, erreichen mich ganz und gar. Es geschieht im Wirbel der Begegnungen, in der Hektik des Alltags so schnell, dass man viele innere Prozesse nicht weiter durchdenkt oder das, was man moralisches Handeln und Nächstenliebe nennt, ab und an vergisst, anzuwenden. Man gerät damit in ein einfaches IST und versucht, sein Leben zu meistern, vergisst darüber hinaus häufig, was alles dazu gehört, das Leben als Leben selbst wahrzunehmen. Für mich öffnet Dostojewski jene kurzzeitig festgefahrenen Momente und lässt mich erneut erfassen, wer ich bin und Rechenschaft darüber ablegen, wie ich handle, denke, fühle. Es ist also auch eine Art Reinigung.

    Dostojewskis Zeilen berühren etwas, dass mich persönlich immer wieder dazu verleitet, die Dinge neu zu überdenken und enthalten stellenweise tiefe Grundwahrheiten, die mir kein anderer Autor aufdeckt. Das hat nicht so sehr mit seinen Themen selbst zu tun oder den Geschichten, die er erzählt, die für mich lediglich der Spannung und Erzählstruktur dienen sollen, aber im Grunde nicht wesentlich sind, sondern mit den Zwischenfrequenzen, die ich als Leser in seinen Zeilen wahrnehme. Alles dreht sich um das Menschlichsein. Alles hinterfragt, wie der Mensch in der Welt sein sollte, ohne dass Dostojewski Antworten hinwirft, um es dem Leser zu vereinfachen. Im Gegenteil zeigt er einfach so viele Perspektiven auf, dass der Leser genötigt ist, selbst zu denken, selbst zu erschließen, und wenn es gut läuft, auch den Blick allmählich auf sich selbst zu lenken. Die Zeit spielt ja tatsächlich keine Rolle. Ob vor tausend Jahren oder heute, die Grundtendenzen des menschlichen Handelns ändern sich nicht. Das Gute, das Schlechte im Menschen existiert nicht, nur das bewusste Denken und Handeln, denn wie man handelt, das kommt auf einen zurück, daran glaube ich fest. In einfachen Bedingungen ist ein Lächeln ein Lächeln, und schenkt man dieses, dann bekommt man es von irgendwoher zurück. Von wo, ist dabei völlig unwichtig. Von diesen kleinen Situationen kann man dann auch auf die größeren schließen. Man lenkt also auch die Begegnungen, nicht nur die eigenen Schritte. Vielleicht bedarf es hier einzig des Wahrnehmen-Wollens selbst.

    Wenn ich Dostojewski lese, bleibt dabei bei mir etwas Gesammeltes zurück, wie es, von mir aus, ein Buddhist in seiner Meditation erfährt, wenn er den Kopf leert und danach zusieht, in der Welt nach buddhistischen Grundsätzen zu wirken. Ähnliches bewirkt Dostojewski eben bei mir. Daran heran reicht weder die umfangreiche und faszinierende Welt Tolstois, die mir dagegen fast oberflächlich erscheint, weder Turgenjews klarer Stil, noch überhaupt irgendein anderer Russe oder Schriftsteller. Die Faszination entwickelt sich vielleicht auch aufgrund des völligen Begreifen-Wollens und meiner eigenen Interpretation der Worte, die von Dostojewski möglicherweise anders gemeint waren. Sein Werk wärmt mich. Dazu seine Sprache, seine Gedanken, seine Monologe, die aus den Mündern seiner Figuren ertönen, all das ermöglicht es mir, wie kein anderes Werk, mich von ihnen vollkommen einnehmen zu lassen, sie geistig und emotional ganz und gar erfassen zu wollen und auch gar nicht anders zu können.

    Für mich spielt z. B. weder Dostojewskis Hintergrund noch tatsächlich (im Endeffekt) er selbst eine Rolle, sondern alleine dieses Werk, das ich manchmal nur fassungslos bestaune. Hier geht es nicht um die Bestätigung von Gedanken oder um etwas Prophetisches, es geht nicht um eine Entwicklung oder geistige Stütze, es geht nicht um das Erforschen psychologischer Abgründe und Schrecken, es geht für mich alleine um diese ganz typische Dostojewski-Atmosphäre, die nicht erhaben ist, die nicht perfekt ist, die schon gar nicht belehren möchte. Vielleicht ist es gerade das, und dass ich den Menschen immer wieder ausmachen kann. Jede seiner Figuren ist einmalig und unverwechselbar, selbst wenn sie eine gleiche „Rolle“ erfüllen soll. Jede Figur wächst mir irgendwie ans Herz, ohne dass ich es erklären könnte.

    Darum wird Dostojewski für mich immer ein Schriftsteller sein und bleiben, der mich ganz in seine Welt hineinziehen kann, so dass ich aus ihr verändert und tatsächlich besser im Fühlen und Denken hervorgehe. Kurz: Dostojewski ist mir ein Führer im Mensch-Sein, von dem ich durch die Ideale, die er aufzeigt, auch immer wieder für mich selbst die Erkenntnis darüber gewinne, wie ich bin, wie ich auf andere Menschen zugehe, wie ich es besser machen kann. Mag sein, dass das alleine bei mir in dieser Art und Weise stattfindet, aber dass es stattfindet, ist nun einmal der Fall. Er bessert mich innerlich und stärkt dann den Schritt in die Welt hinaus. Er ist so eine Art Selbstreinigung für mich, vereinfacht das Zugehen auf Menschen, stößt mich darauf, dass ich immer wieder neu überdenke, wonach ich strebe und wer ich bin. Kurz: ich gehe aus jedem seiner Werke gesättigt und wieder ganz hervor.

     

     

    Mehr über Dostojewski an dieser Stelle.

     

     

    © Annelie Jagenholz