B L O G
oder
die unendlich brodelnde Emotionssuppe
von
Annelie Jagenholz
Das Buch vom Es
Dienstag, 6. Dezember 2016 - in Literatur
"Das Buch vom Es" von Georg Groddeck
Eine späte Rezension
Ein interessante Entdeckung ist „Das Buch vom Es“, bestehend aus Briefen, die der Arzt und spätere Psychoanalytiker Georg Groddeck alias Patrik Troll an seine Freundin schreibt, um ihr seine Sicht über die inneren Abgründe und das Unbewusste im Menschen, das er als ES bezeichnet, zu erläutern. Groddeck war (natürlich und merklich) ein Jünger Freuds, während Freud sich dann später an dessen ES bediente. Groddeck alleine ging dann so weit, die unbewusst mentalen Vorgänge auch auf die körperlichen Eigenschaften und Beschwerden zu beziehen, um so eine bessere Heilung zu ermöglichen.
Die Briefe sind teilweise ernst, aber auch humorvoll verfasst, immer von einem Zwinkern begleitet. Groddeck oder sein Alter-Ego Troll erheben keinerlei Anspruch auf „die Wahrheit“. Er verweist nur auf das, was er als Mediziner erkannt hat. Dazwischen ist auch viel Deutung, die meistens auf das Sexuelle zurückführt.
Die Briefe wechseln zwischen persönlichen Erfahrungen und dem Versuch, die eigenen Erkenntnisse in Worte zu fassen. Der Zweifel an dem Berichteten geht dabei Hand in Hand mit dem Augenzwinkern. Das liest sich unglaublich erfrischend und spannend.
Um was also geht es?
Das ES ist für Groddeck eine Art Grundsubstanz, die auch in viele ES ausströmt und wirkt, und dabei alles erschafft.
Bevor das Hirn da ist, schafft das ES sich ein Hirn. Bevor die Atmung und Lunge vorhanden sind, werden sie vom ES geformt.
Das Es ist eine Art Vorher, ein Vorhandenes, das Organe und den gesamten Aufbau des Organismus bewältigt. Das bewirkt ebenfalls, dass später der lebendige Leib und das Gehirn durch das ES kontrolliert werden und genauso verändert werden können. Das ES von Groddeck ist also keinesfalls nur das Unbewusste.
„Das Es lebt den Menschen, es ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund und krank werden lässt, kurz, die ihn lebt.“
Dieses ES kontrolliert die gesamten Gewohnheiten des Menschen, dessen Leben in erster Linie aus Verdrängungen besteht.
Seit der Kindheit beginnt der Mensch durch aufgezwungene Verbote all das zu verdrängen, was ihm zuvor ganz natürlich war. Das Kind ist arglos, und kehrt der Mensch später durch Erkenntnis zum Kindlichen (nicht Kindischen) zurück, kann er sich befreien oder wird sich wenigstens der Mechanismen durch sein Es bewusster. Da fallen der Freud’sche Ödipuskomplex, die Kastrationsangst und die Onanie gleich schwerwiegend ins Gewicht, während alles Symbol wird und Hinweis auf Verdrängung bleibt.
„Sie wissen, Erziehung beseitigt nichts, sie verdrängt nur.“
Im Grunde, so Groddeck, ist der Mensch ein reiner Narziss. (Selbst Geschlechtsverkehr ist nur Ersatz für die Onanie, nicht umgekehrt, und für die Selbstbefriedigung sucht der Mensch nach allen vorhandenen Möglichkeiten, die ihm das Leben bietet, darunter eben auch andere Menschen. Daher ist der Fortpflanzungstrieb nicht das treibende Element, sondern vielmehr die Lust an der Befriedigung.)
Der Mensch liebt nicht andere, sondern ausschließlich sich selbst, ist daher auch sein Leben lang (bewusst oder unbewusst) bisexuell, da er sich der Menschen nur für den Zweck der Lustbeschaffung und Selbstbefriedigung bedient. Diese Lust, wen wundert es, betrachtet man die gesellschaftlichen Tabus vergangener und heutiger Zeiten, bleibt eines der wesentlichen Schuldkomplexe und Verdrängungsmuster und zieht häufig unbewusste Selbstbestrafung nach sich. Während der Mensch Bescheidenheit lehrt, ist er einzig eitel und auf sich selbst bezogen. Das gesamte Streben ist darauf ausgerichtet.
Nach Groddeck heißt es nicht umsonst aus dem Mund Jesus: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es heißt nicht: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst. Auch Homosexualität ist für ihn dann nichts anderes als Selbstliebe, Narzissmus und Selbstbefriedigung zum Zweck der Lustgewinnung.
Der Narzissmus zeigt sich nach dieser Theorie in allem. Jeder Mensch nimmt nur das in seiner Umwelt wahr, das ihn selbst betrifft und was er selbst ist. Alles, was ihm begegnet, sei es Ding, Mensch oder Idee, projiziert er auf sich selbst und sich selbst auf die Dinge, Menschen, Ideen. Dann ist es auch nicht verwunderlich, dass er in anderen Menschen meistens das verurteilt, was er selbst unbewusst begehrt (wer die Lüge verabscheut, ist selbst ein Lügner, alleine darum, weil er nicht nur das geeignete Wissen für die Erkenntnis hat, dass der andere gerade lügt, sondern weil er mit dem eigenen Schuld- und Verdrängungsprozess konfrontiert wird und sich dagegen wehrt, indem er dann abschätzend mit dem Finger auf andere zeigt und die Schuld so von sich ablenkt.)
Verdrängung ist der Grundmechanismus des Lebens und damit die Eigenschaft des ES, das aufgrund dieser Basis handelt. So ist es gleichermaßen kulturschaffend und kulturzerstörend, ermöglicht hohe Dichtung und Mord. Dazu fühlt sich der Mensch von Natur aus zum Leid hingezogen und sucht unbewusst Situationen, die ihm den ersehnten Schmerz, sei es geistiger oder körperlicher Art, ermöglichen, was ein Akt der Selbstbestrafung und die Verdrängung der Schuld ist. Selbst diese Neigung wird alleine durch das ES bestimmt.
Das ES meldet sich immer dann, wenn der Verdrängungsprozess mit Schuldgefühl einhergeht, ohne bestimmte Bedingungen voneinander zu trennen. Das Es ist nicht rational und denkt auch nicht rational, sondern in anderen Dimensionen reinen Ausdrucks.
Für das ES existieren keine Grenzen oder abgegrenzten Begriffe. Es arbeitet alleine mit Begriffsgebieten und Komplexen. So kann ein innerlicher Vorwurf genauso Bestrafung nach sich ziehen wie der Wunsch nach Befriedigung, ohne dass der Mensch das Schuldbewusstsein erkennt.
Das führt soweit, dass nicht nur Gewohnheiten angenommen werden, die unbewusst ausgeführt werden, sondern auch schlimme Krankheiten entstehen, die nicht nur eine psychosomatische Ursache haben, sondern auch ein einfacher Armbruch sein können.
Für Groddeck steht fest, dass der Mensch, der sich den Arm bricht, die Verletzung unbewusst durch sein ES provoziert. Die Erkrankung, welcher Art auch immer, ist das Symbol, dessen sich das ES bedient, um den innerlichen Vorgang auszudrücken. Groddeck bezeichnet es als das „Theaterspiel des Es“.
In den Briefen berichtet er auch viel von sich selbst, seiner Kindheit, seinen eigenen Komplexen, Verdrängungen, Erkenntnissen, erzählt darunter, wie er seine Sichtweise vom Mediziner zum Analytiker gewechselt hat, wobei er ein Gegner der Wissenschaft ist.
Wo er zuvor Helfer war, also Arzt, wurde er selbst im Laufe seines Lebens krank und lustlos, so dass eine Patientin durch ihr ES auf einmal Einwirkung auf sein ES und damit sein Verhalten und Denken hatte. Auch das geschah zunächst eher unbewusst.
Dadurch erkannte Groddeck, dass alles Symbol ist und dass Symbole auch der Ausdruck des ES sind. Dieses unterscheidet nicht in mentale und physische Bedingungen, auch nicht in gute oder schlechte Taten. Es handelt, um den Menschen mit Hilfe eines Symbols etwas zu verdeutlichen, sei es, seine Schuld, sei es, um ihn von bestimmten Absichten oder Gedanken fernzuhalten, usw.
So ist auch die Krankheit letztendlich keine Gegner oder etwas Negatives, sondern der Ausdruck des individuellen ES, auf den Groddeck reagiert. Aber nicht als Ratgeber und Arzt, sondern als Erforscher, der versucht, den Hintergrund aufzulösen, weshalb das ES bei seinen Patienten die Krankheit überhaupt ins Leben gerufen hat. Nach Groddeck wird die Krankheit dann aufgelöst, wenn die Ursache bekannt ist, z. B. eine Verdrängung oder die Angst vor der Kastration oder der simple Mutterkomplex. Dabei ist das ES strafend und heilend zugleich.
Groddeck sagt, die Natur heilt. Das ES heilt in gleichen Maßen wie es die Krankheit hervorruft. Nicht er als Arzt ist der Heiler, sondern trägt nur als Berater dazu bei, dem ES die Heilung zu ermöglichen.
Mitunter kommen ihm auch sehr buddhistische Erkenntnisse, die er in Worte zu fassen versucht, während er dabei immer sympathisch lächelt.
„Ich ist durchaus nicht Ich, sondern eine fortwährend wechselnde Form, in der das Es sich offenbart, und das Ichgefühl ist ein Kniff des Es, den Menschen in seiner Selbsterkenntnis irrezumachen, ihm das Sich-selbst-Belügen leichter zu machen, ihn zu einem gefügigeren Werkzeug des Lebens zu machen.“
Nach Groddeck erlernt der Mensch sein Ich, das allmählich in ihm heranwächst. Es gibt auch nicht nur ein Ich, sondern etliche Ichs, die gleichzeitig im Menschen vorhanden sind.
Schließlich ist es nicht verwunderlich, dass sich der Mensch in dem Wust seiner Ichs nicht mehr zurechtfindet.
Das Ichbewusstsein spricht Groddeck aber auch dem Embryo, dem Organ oder Gewebe zu. Der Hintergrund beruht darauf, dass jede ES-Einheit im Körper sich eine eigene Individualität, also ein Ich erschafft. Das kann wiederum nach sich ziehen, dass Körper und menschlicher Wille gegensätzlich aufeinander reagieren.
Während der Mund z. B. einen Kuss ersehnt, wehrt sich die Lippe gegen die Berührung (aufgrund welcher Hintergründe auch immer, darunter Schuld, Bestrafung, Komplex usw.) und bildet eine Blase oder schwillt an. Genauso stirbt der Mensch dann, wenn er es unbewusst beschließt, besser gesagt, wenn sein ES den Tod für notwendig hält.
Wie das ES die Organe gebildet hat, um darin zu existieren, kann es jederzeit Einfluss auf die Organe nehmen. Dann muss das Ich des ES der einzelnen Organe oder Glieder dazu überredet werden, sich dem Willen des Gesamt-ES und Gesamt-Ichs wieder anzupassen, woraufhin die Symptome verschwinden.
Das ES und das Ich sind daher nicht das Gleiche, sondern das Ich ist immer die Projektion des ES, wobei Einheiten und Gesamtheit auch gegeneinander wirken können.
„Gesundheit, Krankheit, Talent, Tat und Gedanke, vor allem aber das Wahrnehmen und Wollen und das Selbstbewusstwerden sind nur Leistungen des Es, Lebensäußerungen. Über das Es selbst wissen wir nichts.“
Das ES macht Gebrauch von Ich-Einheiten und Symbolen, bedient sich an der ES-Gesamtheit und Ich-Gesamtheit ebenso wie an einzelnen Einheiten, um etwas bewusst werden zu lassen oder etwas zu verdrängen. Gerade das Verdrängte wird in Kammern geschoben und kann dann durch Erinnern oder Überlegung wieder dem Gesamtbewusstsein zugeführt werden.
Das ermöglicht wiederum auch eine Behandlung, die verschiedene Wege gehen, naturheilwirksam oder wissenschaftlich vorgenommen werden kann, wobei es nur darauf ankommt, was der Mensch (oder der Kranke) und genauer, sein ES, akzeptiert und annimmt. So gibt es kein Allheilmittel für jeden Kranken, sondern nur die Heilung im Menschen selbst, durch Anregung, Erinnern und Erkennen der Ursache. Und ganz oben steht der Versuch, Unbewusstes bewusst zu machen, wodurch der Heilungsprozess eingeleitet wird.
Das, was der Arzt versuchen kann, ist lediglich die Probe einer Anwendung, wie ein blindes Herumtappen im Dunkeln mit dem Wunsch, das ES günstig zu stimmen. Dabei bleibt der Hintergrund bestehen, dass nicht der Arzt die Heilung bewirkt, sondern der Kranke selbst aus eigener Kraft.
Hier muss man bedenken, wann Groddeck diese Erfahrungen machte und erkannte. „Das Buch vom Es“ wurde 1923 veröffentlicht und stellt im Grunde ja nur eine Zusammenfassung eigener und vorangegangener Erfahrungen dar. Nicht umsonst ist Groddeck der Vater der Psychosomatik.
Er war einer der ersten Mediziner, der forderte, organische Erkrankungen mit Hilfe der Psychoanalyse zu behandeln. Für ihn war die mentale Ebene ein wichtiges Element mit Einfluss auf die körperliche. Geist, Seele und Körper bildeten in seiner Sichtweise die eigentliche Einheit, verkörpert durch sein ES. Damit ist er erstaunlich modern, betrachtet man die heutigen Heil- und Naturverfahren, auf die sich mehr und mehr zurückbesonnen wird. Das Moderne zeigt sich nebenbei auch in seinem Schreibstil und Humor. Das Leben, so Groddeck, ist schließlich schon ernst genug. Was an den Erkenntnissen selbst nun glaubhaft ist und was Unsinn, bleibt letztendlich dem Leser überlassen.
(Georg Groddeck, "Das Buch vom Es", Gemeinfreier Text bei "Projekt Gutenberg", Rezension: Annelie Jagenholz)